Symphonien des Grauens
Bram Stokers DRACULA und die Schwarze Romantik
Indessen erscheint der Vampirismus als eine der furchtbar grauenhaftesten Ideen, ja, das furchtbar Grauenhafte dieser Idee artet aus ins Entsetzliche, scheußlich Widerwärtige.
E.T.A. Hoffmann, DIE SERAPIONSBRÜDER
Schnorrer im Kosmos
Aus dem weit am Himmel sich erstreckenden, aber wenig namhaften Sternbild "Schlangenträger" berichteten Astronomen im April 2022 Ungeheuerliches. Ein Weißer Zwerg - also eine Sternenleiche von extrem verdichteter Substanz und exorbitanter Anziehungskraft - namens RS OPHIUCHI droht neben dem Roten Riesen in seiner Nachbarschaft zwar als Winzling zu verschwinden; gleichwohl hat er ihn wie einen Wehrlosen unwiderstehlich angezapft: "Er saugt von ihm Materie ab", ließen Forscherinnen und Forscher der Bochumer Ruhr-Universität wissen, "so wie Vampire in Legenden, die ihren Opfern den Lebenssaft aussaugen." Mithin gibt es Parasiten auch außerhalb unseres planetaren Gesichtskreises: Wesen, die, ob ihre Opfer wollen oder nicht, von ihnen nehmen, was ihnen nicht zusteht und von Natur aus nicht zu ihnen gehört. Auf unserer Erde ergänzen sie sich günstigenfalls mit ihren Wirten wie Partner in symbiotischem Einverständnis, einer Art win win-Situation. Oft genug aber leben sie als ungebetene Gäste auf Kosten derer, die sie befallen haben, und bedienen sich beim fremden Stoffwechsel, um sich zu ernähren, zu vermehren oder fortzuentwickeln. Für den Organismus, dem der Schädling sich aufdrängt, bedeutet die Heimsuchung oft Schwund, Krankheit oder gar den Tod.
In uns nisten sich zum Beispiel Band- und Fadenwürmer als Parasiten ein, aber auch in Menschengestalt kann uns ein solcherart eigensüchtig-rücksichtsloser Nutznießer leicht unterkommen: als Schmarotzer, Nassauer, Schnorrer. Volksglaube und die Künste kennen ihn zu dämonischer, grausig-tödlicher Konsequenz überhöht: Der Vampir ist die bekannteste und erschreckendste seiner Allegorien - unverweslichen Leibes, fast unsterblich, unfrei, aber mit übernatürlichen Fähigkeiten zwischen Leben und Tod siedelnd. In der Gestalt, wie Menschen in aller Welt sie heute im Sinn haben, tritt er seit dem 18. Mai 1897 auf: Da lag Bram Stokers Roman DRACULA erstmals in den Schaufenstern englischer Buchhandlungen. Viel machte die Originalausgabe damals, im gelben Einband, der nur Titel und Autorennamen trug, noch nicht her.
Dracula und Konsorten
105 Jahre soll der Einsiedler Antonius alt geworden sein. Bis zu seinem Tod im Jahr 356 habe der vorbildliche Frühchrist aus Ägypten, so berichtet die Legende, ein gottgefälliges Leben geführt. Den Himmel indes hinderte das nicht, zuzulassen, dass der Satan ihn aufs Entsetzlichste versuchte: zunächst, und wiederholt, mit schönen, willigen Frauen, denen der fromme Eremit indes nur wenig abgewann; schließlich mit einer Legion höllischer Ausgeburten, die ihre Hörner, Klauen, Reißzähne in ihn zu schlagen suchten. Schockierend haben uns Alte Meister wie Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald die Szene in eindrucksvoll abschreckenden Albtraumbildern ausgemalt, die sie mit Ungeziefer und Schlangengezücht bevölkerten, mit Bruchstück-, Zwischen-, Zwitterwesen aus Tier- und Menschenteilen: Fleischfresser und Blutsauger zweifellos. Hingegen umgab Lovis Corinth 1897 den tugendreinen Heiligen mit einer Schar lüstern-lieblicher Mädchen, die ihm, nebst anderen Genüssen, ihr eigenes Fleisch zudringlich offerieren. Grässliche Gebisse tragen sie in den Gesichtern nicht; Vamps sind sie gleichwohl.
Furchterregende Nachtgestalten kennen wir alle. Einen schlimmen Traum lang gewinnen in ihnen Archetypen, Verdrängtes und Befürchtungen Gestalt. In vielen volkstümlichen Vorstellungen fallen Vampir und Teufel beinah zusammen: als Ausgeburt der Unterwelt, Inbild des Bösen, grimmige Perversion jenes unsterblichen Lebens, das der Glaube dem Frommen als ewige Seligkeit verheißt. Umso lieber begegnen manche von uns, vor allem die Jüngeren, hinreißend hässlichen oder schrecklich schönen Exemplaren von Blutsaugern in der populären Belletristik und im Unterhaltungsfilm, wo männliche und weibliche Vampire, ausgestattet mit den unvermeidlichen spitzen Eckzähnen, seit der zweiten Jahrtausendwende eine Konjunktur wie noch nie erleben. Als Unholde gibt es sie oder, im Gegenteil, geläutert, liebend. Mit dem TANZ DER VAMPIRE, einem Coup des Kinos, vollendete Roman Polanski das Genre bereits 1967, indem er ein nervenzerrendes Schauerstück und zugleich dessen hochkomische Parodie entwarf.
In Anne Rices CHRONIK DER VAMPIRE tummeln sich die Biester seit 1976, dreizehn Bände lang. 2005 eröffnete die US-Autorin Stephenie Meyers ihre TWILIGHT-Kultserie, internationale Bestseller Band für Band; hierzulande reichte die Reihe, mit BIS(S) ZUM MORGENGRAUEN beginnend, BIS(S) ZUM ENDE DER NACHT. Auch die Verfilmungen gerieten durchweg zu Blockbustern, sodass, dem TIME-Magazin zufolge, Meyers in die Riege der hundert international einflussreichsten Persönlichkeiten aufrückte. Zur Weltrettungsaktion gegen eine Übermacht der Kreaturen trat 1992 der Teenie BUFFY im Kino und von 1997 bis 2003 in 144 Fernsehserienfolgen auf. Wesley Snipes setzte als Kampfsportler in der BLADE-Kinotrilogie von 1998 bis 2004 seine runden Muskeln gegen die Ungeheuer ein. Im Auftrag eines vatikanischen Geheimdienstes killte 2004 Hugh Jackman als Vampirjäger VAN HELSING in einem Streifen dieses Namens die Monster; von 2016 an tat ers auf dem Fernsehbildschirm wieder.
1994 wurden Vampire im Kino "interviewt" und 2014 therapiert, obwohl sich ihnen bereits zwei Jahre zuvor der weiland US-Präsident Abraham Lincoln persönlich auf die Fersen gesetzt hatte. Andere traten 1996 als scharfe Vampirellas auf, brachten sich 2010 mit Babysitten durch oder traten, wie 2012/14, als kesse Schwestern auf. Den geradezu spießbürgerlichen Namen Rüdiger führt der niedlich-menschenfreundliche KLEINE VAMPIR, dessen Abenteuer Angela Sommer-Bodenburg von 1979 an in Kinderbüchern erzählte und der auch als Held von Kino- und Fernsehfilmen sowie reihenweise Hörbüchern kameradschaftlich in unzählige Kinderzimmer einzog.
Dem Serienkomplex um die VAMPIRE DIARIES, seit 2009 für weltweit zigmillionen Fans ein schier unverzichtbarer Teil ihres Medienkonsums, scheint mit dem abrupten Ende des letzten Ablegers LEGACIES endgültig die Luft ausgegangen zu sein. Dafür fanden fast gleichzeitig in der NETFLIX-Serie FIRST KILL eine Jungvampirin und eine Vampirjägerin in lesbischer Liebe zusammen. Den Film ENEMY UNKNOWN riefen Branchenmedien als "wilden Genremix" aus Drogenthriller und Vampirhorror aus. Mächtig sollte, wenn es nach NETFLIX ging, das Blut in der Serie DAY SHIFT spritzen, und fast gleichzeitig kam das Gruselstück THE INVITATION - BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET heraus, um die unendliche Geschichte der spitzzahnigen Schreckgestalten im Kino fortzusetzen. Und so fort. Ein ewiger Blutkreislauf: Bis(s) zum Abwinken.
Wer sich, angesichts solcher Fülle und Freude am Gräulichen und Abscheulichen, die Augen staunend reibt, den drängt es vielleicht so wie den forschenden Faust, den "Grundtext wieder aufzuschlagen"; nicht freilich das "heilige Original" des Neuen Testaments wie Goethes Tragödienheld - sondern Bram Stokers DRACULA. Auch wenn uns nichts ferner liegt als der Glaube an Vampire, so finden viele von uns an dem haarsträubenden Wälzer ihre helle respektive dunkle Freude. Dem Bild der Bestie gab dieser Roman die bis heute gültige Form und Farbe eines kalt-eleganten Aristokraten aus der Finsternis.
Der "Grundtext"? Jenem chef d'ouvre aus dem Geist der britischen gothic novel gingen kaum weniger bedeutsame, nur weniger bekannte Erzählungen voraus. Umgekehrt läuft und lief auf Stokers Roman so gut wie alles als Kopie, Variation oder Gegenentwurf zurück, was sich im Vampir-Hype unserer Gegenwart lesen oder blicken lässt. Schon fast achtzig Jahre vor Stoker, 1819, etablierte der Londoner John Polidori, Freund und Arzt Lord Byrons, den VAMPYR erstmals, effektvoll und dauerhaft in der Literatur. Übrigens war seine Idee dazu bei demselben literarischen Gesellschaftsspiel entstanden, mit dem er, Byron und das (spätere) Ehepaar Shelley sich in einer Villa am Genfer See den verregneten Sommer 1816 vertrieben und dem sich auch der Roman FRANKENSTEIN verdankt, das Glanzstück der erst neunzehnjährigen Mary Shelley. Polidoris Stoff wurde vor allem als Oper von Heinrich Marschner, uraufgeführt 1828 in Leipzig, während des neunzehnten Jahrhunderts weithin populär.
Auf den Umstand, dass besagte Gruselgeschöpfe im Aberglauben vieler Völker und im Lauf der Kulturgeschichte nicht zuletzt in weiblicher Gestalt auftreten, griff der Ire Sheridan Le Fanu 1872 in seiner Novelle um das junge, schöne Scheusal CARMILLA zurück. 1884 präsentierte eine Erzählung Alexei Konstantinowitsch Tolstois, eines Vetters von Leo Tolstoi, als russische Unterart...