Schweitzer Fachinformationen
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Einmal im Jahr schritt Mrs Judith Potts ihr Grundstück ab, »to beat the bounds«. Mit dieser uralten Tradition war sie auf der Isle of Wight aufgewachsen und hatte entzückt festgestellt, dass man sie auch in Somerville pflegte, ihrem College an der Oxford University. Dabei suchte man sich einen großen Zweig und schlug auf den Grenzverlauf oder die Grenzsteine des eigenen Anwesens. Natürlich ging es vor allem darum, die Nachbarn zurückzuweisen, sollten sie sich im vergangenen Jahr etwas zu breitgemacht haben, aber Judith übte sich damit auch in einer Art psychologischer Geografie. »Hier ist meine Welt. In diesem Bereich fühle ich mich sicher«, erklärte sie sich so jedes Jahr aufs Neue.
Für das Ritual wählte sie immer den Tag der herbstlichen Tagundnachtgleiche. Ihr schien dies der perfekte Zeitpunkt, um sicherzustellen, dass alles in ihrem Leben seine Ordnung hatte, bevor sie es sich für die langen Wintermonate zu Hause gemütlich machte.
Auf der Suche nach einem passenden Zweig im Gebüsch neben ihrem Haus staunte sie, wie unauffällig sich das Wetter doch verhielt. Es war weder warm noch kalt, nur eine sanfte Brise fuhr durch die Blätter, und der Himmel war gleichmäßig grau. Mild war das passende Wort. Judith hasste dieses Wort. Es war nicht einmal kalt genug für ihr Wollcape.
Sie liebte es, diesen Umhang zu tragen, vor allem beim »beating the bounds«. Wenn sie mit ihrem Zweig wedelte - am besten bei stürmischem Wind -, fühlte sie sich wie einer der drei Musketiere. Dass sie eine Neunundsiebzigjährige mit üppigen Rundungen war, tat ihrer Selbstwahrnehmung als verwegener Heldin keinen Abbruch.
Meist suchte Judith nach einem leichten, biegsamen Zweig, um die Masse an Unkraut und Brennnesseln zu attackieren, die sie in ihrem Garten wuchern ließ, aber dieses Jahr fiel ihr Blick auf einen dickeren Ast. Er hatte ein ordentliches Gewicht und war ziemlich knorrig. Ja, der war perfekt für ihre Zwecke. Damit konnte sie einiges zunichtemachen.
Sie nahm den Ast mit in die kleine Auffahrt und schnappte sich das Kristallglas Whisky, das sie auf dem Vogelhäuschen abgestellt hatte. So ausgerüstet begann sie, die Grenzen ihres Anwesens rundherum abzuklopfen - zumindest all die Stellen, die sie erreichen konnte. Zufrieden begutachtete sie die Lorbeerhecke, die nun schon dreimal so hoch war wie Judith und fröhlich in alle Richtungen wuchs. Als Nächstes bahnte sich Judith einen Weg über den Stapel zertrümmerter Holzpaletten, an den sie sich genau einmal im Jahr - an diesem Tag nämlich - erinnerte. Wie jedes Jahr nahm sie sich vor, den Müll nun wirklich zu entsorgen, obwohl sie genau wusste, dass sie es nie tun würde.
Mit einem Lächeln betrat sie den üppigen Rasen hinter dem Haus. Vor mehr als einem Jahr hatte sie hier ein gewaltiges Lagerfeuer entfacht, und noch immer zeugten einige Beweise davon. Ein kreisförmiger Fleck in der Mitte wuchs besonders grün. Nachdenklich nahm Judith einen Schluck Whisky und zog den Ast hinter sich her in Richtung des Flusses am unteren Ende ihres Gartens.
Seitdem ihre Freundinnen Becks und Suzie Teil ihres Lebens waren und sie zu dritt Mörder verfolgten, hatte sich einiges verändert. Obwohl Judith glücklicher war als je zuvor, gab es einen winzigen Teil in ihr - kaum größer als ein Fenchelsamen -, dem es unangenehm war, die beiden so nah an sich heranzulassen. Anderen Menschen ihr wahres Ich zu zeigen, beunruhigte sie, und sie wusste nicht recht, wohin mit diesem Gefühl. So gern sie Kriminalfälle mit ihren Freundinnen löste, genoss sie es doch ebenso, den Rest der Welt auszublenden, um ihre Zeit mit einigen Fuhren gebuttertem Toast und einem guten Kreuzworträtsel im Bett zu verbringen.
Judith besah sich den Ehering an ihrer linken Hand. Es mochte schön und gut sein, sich auf Mördersuche zu begeben, doch die wahre Bedeutung des goldverzierten Schmuckstücks verstand nur sie. Es symbolisierte, wer sie wirklich war.
Judith nahm einen großen Schluck Whisky, der sie von innen wärmte und jegliche Kälte verjagte. Die Lösung bestand darin, sagte sie sich, nicht über die Vergangenheit nachzudenken. Stattdessen ließ sie den großen Ast auf einen besonders stark wuchernden Brennnesselbusch niedergehen, der neben den Glockenblumen in die Höhe schoss. Nach einigen gründlichen Enthauptungsschlägen fühlte sie sich schon viel besser, und ihre Bedenken waren verflogen.
Als Nächstes ging sie am Ufer entlang, klopfte auf die alten Backsteine des Bootshauses und näherte sich den Mauern des Gemüsegartens, aus dem ein Brombeerbusch wucherte, dessen Vitalität selbst Dornröschens Prinz in den Schatten gestellt hätte. Einige Minuten verbrachte Judith damit, sich die herrlichen Beeren in den Mund zu schieben - immer im Wechsel mit einigen Schlückchen Whisky. So ging es schon viel besser. Das Leben war schließlich ein großes Vergnügen, und es gab nichts Vergnüglicheres als frisch gepflücktes Obst.
Als die Beeren ihre Lippen lila eingefärbt hatten, machte sich Judith wieder auf den Weg entlang ihrer Grundstücksgrenze. Ihr liegen gebliebener Jaguar hatte ein weiteres Jahr mit platten Reifen überstanden, eine Hälfte in der Garage, die andere außerhalb. Die hölzerne Schaukel, auf der sie als Kind gesessen hatte, wenn sie ihre Großtante besuchte, hing noch immer an einem alten Seil. Und die eingestürzte Mauer, die ihr Anwesen vom nächsten Bach abgrenzte, war so eingestürzt wie eh und je. Allerdings nahm Judith zufrieden zur Kenntnis, dass sich ein Sommerflieder auf dem Trümmerhaufen niedergelassen hatte.
Schließlich warf Judith den Ast in die Themse und kehrte zum Haus zurück, wo, zu ihrer Überraschung, ein alter Volvo-Kombi parkte. Sie hatte niemanden gehört, doch vor ihrer Haustür stand tatsächlich eine Frau.
»Hallo?«, rief Judith.
»Ach, da sind Sie ja«, sagte die Frau und drehte sich zu ihr.
Schon aus einigen Metern Entfernung erkannte Judith, dass die Frau etwa Mitte sechzig sein musste, glattes braunes Haar hatte und unglaublich dünn war. Ihre Jeans hing von ihren Beinen herab wie zwei Abflussrohre, und in der weiten, weißen Bluse wirkten ihre Arme wie Zweige. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie Judith an eine Gottesanbeterin.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Judith.
»Das hoffe ich doch. Ich bin Verity Beresford«, sagte die Frau und hielt inne, vielleicht in der Hoffnung, dass Judith den Namen erkannte. »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich mache mir Sorgen um meinen Mann. Er ist seit gestern Abend verschwunden und geht nicht ans Telefon. Ich bekomme immer nur die Mailbox, es klingelt nicht einmal.«
Judith spürte einen kleinen Adrenalinschub.
»Kommt das öfter vor?«, fragte sie.
»Nein, nie! Also, ich meine, er verreist zwar jede Woche, aber er gibt mir immer Bescheid. Dass er so plötzlich verschwindet, ist noch nie vorgekommen.«
Judith besah sich die panische Frau und wusste, dass es darauf nur eine Antwort gab.
»Warum kommen Sie nicht herein?«, sagte sie. »Dann überlegen wir gemeinsam, was passiert sein könnte.«
Judith führte Verity in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir zu helfen«, sagte Verity.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich helfen kann.«
»Aber natürlich können Sie das. Sie sind der Stadt eine gewaltige Hilfe gewesen. Als Oliver heute Morgen nicht nach Hause gekommen ist, habe ich gleich an Sie gedacht. Wobei, das stimmt nicht ganz. Ich habe zuerst bei der Polizei angerufen.«
Judith schnaubte, denn sie verstand Veritys Problem nur zu gut. Schon vor einigen Jahren, als ihr Nachbar Stefan Dunwoody verschwunden war, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die Polizei die Abwesenheit eines Erwachsenen nicht sofort als auffällig einstufte. Damals war Judith zutiefst frustriert gewesen, genau wie Verity es jetzt sein musste.
»Die haben Sie abgewimmelt«, sagte Judith und goss kochend heißes Wasser in eine braune Teekanne.
»So ist es«, sagte Verity. »Es hieß, sie würden sich erst nach achtundvierzig Stunden kümmern, weil die meisten in dieser Zeit wieder auftauchen.«
»Aber warum sind Sie so sicher, dass er es nicht tun wird?«
»Kurz bevor er verschwunden ist, war ich noch bei ihm. Wir haben eine Schifffahrt auf der Themse gemacht.«
»Wie nett.«
»Es war tatsächlich ein ganz besonderer Abend. Sagt Ihnen die Marlow Amateur Dramatic Society etwas? Die örtliche Laientheatergruppe?«
»Leider habe ich noch keine der Vorstellungen besucht«, sagte Judith und reichte Verity eine Teetasse.
»Nur keine Sorge, dazu gibt es keinen Anlass. Vor allem nicht, wenn Sie kein Theaterfan sind. Aber die Gruppe wurde in den Achtzigern von meinem Mann Oliver gegründet. Man könnte sie als sein Lebenswerk bezeichnen. Und letzte Nacht stand eine große Feier an, weil Lizzie Jenkins vor Ort war. Die kennen Sie doch? Die berühmte Schauspielerin?«
Judith hatte keinen von Lizzie Jenkins' Filmen je bewusst gesehen, jedoch gehört, dass die Schauspielerin in ihrer Branche als enfant terrible bekannt war. Sie trank zu viel und ließ sich zu oft scheiden.
»Den Namen kenne ich nur aus der Zeitung«, sagte Judith.
»Sie ist eine hervorragende Schauspielerin. Und sie stammt ursprünglich aus Marlow und war früher ein Teil der MADS - so nennen wir unsere Gruppe.«
»Lizzie Jenkins kommt aus Marlow?«
»Allerdings«, sagte Verity stolz, und Judith konnte ihr ansehen, wie die Panik über ihren verschwundenen Ehemann kurzzeitig von dem Kick verdrängt wurde, den die...
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