Kapitel 1
Schottisches Hochland, im Jahre 1487
Lord McLain stand vor seinem einstmals prächtigen Gutshaus, beschirmte mit der Hand die Augen und sah hinaus in die Ferne, dorthin, wo seine Ländereien in den Wald übergingen.
Dicke Rauchwolken versperrten ihm die Sicht. Er seufzte und wandte sich an seinen Verwalter, der neben ihm stand und ebenfalls sorgenvoll auf den Waldrand blickte.
»Die Kingsleys haben unsere Felder in Brand gesteckt, nicht wahr?«, fragte der alte Lord.
Charles Connor nickte. »Das dritte Mal schon in diesem Jahr! Und dabei haben wir erst Mai.«
»Wie hoch ist der Schaden?«
Connor zuckte mit den Achseln. »Das werden wir erst sehen, wenn das Feuer gänzlich gelöscht ist. Die Männer sind gerade dabei, Wasser aus dem See zu holen.«
»Der verdammte See«, brummte Lord McLain. »Wie viel Stück Vieh, wie viele Ackerflächen hat dieser See mich schon gekostet! Die Geldladen sind leer. Nicht einmal das Gutshaus kann ich mehr instand setzen lassen. Jedes einzelne Pfund geht für die Behebung der Schäden drauf. Es ist höchste Zeit, Frieden zu schaffen.«
Der Verwalter lachte düster auf. »Wie wollt Ihr das anstellen, Mylord? Seit Jahrzehnten ist Eure Familie nun schon mit dem Clan der Kingsleys verfeindet.«
»Eben deshalb ist es höchste Zeit, den Krieg zu beenden«, erwiderte Lord McLain, seufzte und ging schweren Schrittes auf sein Haus zu.
Vor dem steinernen Portal blieb er stehen und betrachtete sorgenvoll die einstmals weißen Säulen, die den Treppenaufgang umrahmten und von langen Rissen verunziert waren; sie hätten längst gekalkt werden müssen. Ein leichter Wind kam auf und ließ die losen Dachziegel klappern.
Lord McLain drehte sich um und rief seinen Verwalter zu sich: »Connor, kommt zu mir in die Halle. Wir haben einiges zu besprechen.«
Der Verwalter warf einen letzten Blick auf den brennenden Wald. Als er sich davon überzeugt hatte, dass die Männer alles taten, um den Brand zu löschen, folgte er dem alten Lord ins Innere des Hauses.
Auch hier hinterließ der Verfall seine Spuren, die Vergänglichkeit der einstigen Pracht, des einstigen Wohlstands war nicht mehr zu übersehen. Die Teppiche, mit denen die Wände behängt waren, wiesen dünne Stellen auf; die Farben waren verblasst, das Gewebe fadenscheinig.
In der Mitte stand ein großer Tisch, dessen polierte Platte schon lange nicht mehr glänzte. Die Polster der Lehnstühle waren verblichen, die Bänke, die sich rund um den Kamin zogen, mit verfilzten Schaffellen belegt. Das Silbergeschirr war verkratzt, die Leuchter nicht mehr mit Wachslichtern, sondern nur noch mit billigem, schlecht riechendem Talg bestückt. Auf dem Boden lagen frische Binsen, doch fehlten darin die duftenden Blüten.
»Kommt, setzt Euch«, forderte Lord McLain und bat eine Magd um einen Krug mit frischem Ale und zwei Becher.
Die Männer tranken schweigend, dann fragte der Gutsherr: »Wie sehen die Bücher aus, Connor? Wie viel Geld haben wir noch, wie hoch ist der Bestand an Vieh und an Weidefläche?«
Der Verwalter kratzte sich mit einer Hand am Kinn, dann ließ er sich gegen die Lehne des Stuhles sinken und sah seinen Herrn besorgt an. »Unser Viehbestand hat sich in den letzten beiden Jahren halbiert. Zu viele Tiere wurden bei den Überfällen der Kingsleys geraubt oder getötet, und das von uns erbeutete Kingsley-Vieh stand schlecht im Futter. Von der langen Regenzeit im letzten Jahr hat sich das Ackerland bislang noch nicht erholt. Der Boden ist schwer und nass, sodass die Saat nur zögerlich aufgeht, wenn sie nicht gar verfault. Die Felder in Waldnähe sind verbrannt und werden in den nächsten Jahren keinen Ertrag bringen. Nur die Schafweiden oben in den Highlands stehen in sattem Grün. Allerdings ist zu befürchten, dass der nächste Anschlag der Kingsleys genau darauf zielt. Mylord«, der Verwalter runzelte die Stirn, »alles in allem stehen die Dinge schlecht. Wir haben kein Geld für neues Vieh, die Männer laufen uns aus Angst vor den Überfällen davon, und mit einem ertragreichen Jahr ist auch nicht zu rechnen. Die Bauern, die Euch zu Lehnsdiensten verpflichtet sind, haben kaum genug zum Leben. Und Eure Fischer fahren nicht auf den See hinaus, weil sie sich vor den Übergriffen der Kingsleys fürchten. Allerdings sieht es bei Euren Feinden kaum besser aus. Auch ihnen hat die Fehde mächtigen Schaden gebracht, auch sie haben herbe Verluste an Land, Vieh und Leuten hinnehmen müssen. Doch der alte Kingsley hat zwei Söhne, die sich gut verheiraten können und mit der Mitgift ihrer Frauen die Güter sanieren werden. Ihr aber habt nur Töchter, die viel Geld kosten werden, wollt Ihr sie gut verheiraten.«
Er seufzte und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ich wünschte, Eure Lordschaften würden sich endlich über die Fang- und Fischrechte des Sees einigen.«
Der alte Lord nickte. »Über dreißig Jahre ist es nun her, dass der verstorbene Lord Kingsley beim Würfelspiel meinem Vater die Fang- und Fischrechte für den See abgewonnen hat. Und genau so lange steht fest, dass die Würfel gefälscht waren, die Kingsleys betrogen haben und uns demzufolge die Rechte nach wie vor zustehen.«
Der Verwalter schmunzelte. »Nun, die Kingsleys erzählen die Geschichte genau andersherum. Die McLains sollen die Würfel gefälscht und betrogen haben.«
Der Lord erwiderte das Lächeln nicht. Unwillig wedelte er mit der Hand, als wollte er Fliegen verscheuchen. »Ist das denn überhaupt noch wichtig? Fest steht, dass seither Krieg herrscht und niemand aus den Fisch- und Fangrechten einen Gewinn zieht.« In einem plötzlichen Zornesausbruch schlug er auf die Tischplatte, dass die Becher tanzten. »So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Es muss Frieden geschaffen werden! Der See muss wieder befischt werden, sonst sind wir bald alle ruiniert.«
»Die Kingsleys werden nicht freiwillig auf den See verzichten«, warf Charles Connor ein. »Und auch wir hätten Bedarf an den Fischen. Eine Lösung muss gefunden werden, die sowohl für die Kingsleys als auch für die McLains von Vorteil ist.«
Oben im Haus wurde eine Tür schwungvoll aufgerissen, schnelle Schritte eilten einen Gang entlang. Ein perlendes Frauenlachen war zu hören, so ansteckend, dass die Männer am Tisch ihre Sorgen für einen Augenblick vergaßen und selbstvergessen lächelten. Dann schlug erneut eine Tür, die Schritte und das Lachen verklangen. Im Haus herrschte wieder Stille, nur unterbrochen von den Geräuschen aus der Küche, in der die Köchin und ihre Gehilfen das Mittagsmahl zubereiteten.
»Ich glaube, mir kommt da ein Einfall«, sagte der Lord. »Ich glaube sogar, es ist ein guter Einfall ... mehr als gut. Zumindest brächte er für beide Seiten Vorteile.« Er hing seinen Gedanken nach, dann richtete er das Wort an den Verwalter: »Ich werde heute Abend mit meinen Töchtern in der Halle speisen. Euch bitte ich, ebenfalls an diesem Mahl teilzunehmen und die Bücher mitzubringen. Ich benötige eine genaue Aufstellung über unser gesamtes Vermögen.«
Der Verwalter sah seinen Herrn fragend an, doch der alte Mann lächelte nur verschmitzt, und in seinen blauen Augen, die trotz des Alters noch hell und klar in die Welt schauten, entstand ein zufriedener Ausdruck.
Das Mahl war von einer Üppigkeit wie sonst nur an Feiertagen. Es gab ein gebratenes Huhn, dazu Porridge, Plumpudding und starkes, selbst gebrautes Ale.
Lord Arthur McLain beobachtete lächelnd seine beiden Töchter. Die Ältere, Zelda, sah im Schein der Talglichter wie eine Amazone aus. Die roten Locken umgaben ihren Kopf wie einen glühenden Heiligenschein. Ihre meergrünen Augen sprühten vor Temperament, der sinnliche Mund mit den vollen roten Lippen lachte, und ihre Worte flossen wie eine sprudelnde Bergquelle durch die hohe Halle.
Joan dagegen, mit ihren 17 Jahren gerade einmal elf Monate jünger als Zelda, wirkte wie eine griechische Göttin. Anders als bei Zelda sah man ihr die keltische Abstammung nicht so deutlich an. Ihre Haut war von beinahe durchscheinender Blässe, das Haar von einem satten Goldton, und die hellgrauen Augen hatten einen melancholischen Ausdruck. Waren Zeldas Bewegungen schnell und manchmal fahrig, so bewegte sich Joan gemessen und voller Anmut. Während Zelda wie ein Wasserfall redete und ihr perlendes Lachen von morgens bis abends durch das ganze Haus zu hören war, sprach Joan wenig, doch ihre Äußerungen waren stets wohl durchdacht und hatten ihre Gültigkeit über den Tag hinaus. Es war noch niemals vorgekommen, dass sie ein Versprechen nicht eingehalten, eine Verabredung vergessen hatte oder gar ihren Aufgaben nicht pünktlich und zuverlässig nachgekommen wäre.
Einmal mehr wunderte sich der alte Lord über die mangelnde Ähnlichkeit seiner beiden Töchter. Zelda war das Abbild ihrer verstorbenen Mutter. Sie war mutig, manchmal sogar tollkühn, und kannte weder Angst noch Sorgen. Sie nahm das Leben als Geschenk, das jeden Tag eine neue, wunderbare Überraschung für sie bereithielt. Probleme löste sie entschlossen, fantasievoll und möglichst rasch, Hindernisse sah sie als Herausforderungen.
Joan dagegen kam ganz ihrem Vater nach. Auch er war ein stiller, nachdenklicher Mann, dem das Lachen nicht so leicht über die Lippen kam.
Doch so unterschiedlich die beiden Schwestern auch sein mochten, ihre Liebe zueinander war durch...