Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In meiner Siebzigerjahre-Pendlersiedlung hatte ich den Begriff »Schicht« nie gehört, und trotzdem wussten wir alle, was das war. Jeder kannte seinen eigenen Platz in der Hackordnung. Selbst in einer so kleinen Ortschaft gab es eine richtige und eine falsche Seite. Wirklich etwas Besseres war eigentlich niemand, weil niemand lange genug dort gelebt hatte. Wenn Geschichte, Herkunft und Erbe entscheiden, ob man zur Oberschicht gehört - über Generationen innerhalb der Familie weitergegebener Grundbesitz -, dann gehörte in Brookmans Park sicher niemand dazu. Es gab größere Häuser, aber alle waren genauso neu, und selbst die freistehenden mit den Auffahrten aus Kies und den großen Gärten wirkten unverkennbar vorstädtisch.
Und ohne Oberschicht gab es eigentlich auch keine Arbeiterklasse. Es gab keine Fabriken, keinen Tagebau, keine Bauernhöfe, keine Schwerindustrie. Das bedeutet aber nicht, dass Hierarchien keine Rolle spielten und nicht auf andere herabgesehen wurde. Auf andere herabzusehen, war in Brookmans Park eine beliebte Freizeitbeschäftigung, und der Begriff, der in diesem Zusammenhang am häufigsten fiel, war »gewöhnlich«. Meine Mum bezeichnete ständig andere als »gewöhnlich«, obwohl ihr eigener Akzent, wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte, genau dorthin zurückkehrte, woher er ursprünglich kam: ein Reihenhaus in Kentish Town.
Bei uns zu Hause hatte »gewöhnlich sein« nicht nur damit zu tun, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte, sondern mit vielen anderen Dingen mehr. Die Mutter meiner Freundin S hatte grellgelb gefärbte Haare und trug einen Minirock mit Kettengürtel; sie war gewöhnlich. Ihr Ehemann hatte eine herausgewachsene Rockabilly-Frisur und trug klobigen Schmuck; auch er war gewöhnlich. Schimpfwörter waren gewöhnlich, zu viel Make-up war gewöhnlich, Sex war gewöhnlich. »Gewöhnlich sein« bezeichnete Vulgäres, ebenso wie eine bestimmte Klassenzugehörigkeit und die Angst, das Vulgäre könnte ansteckend wirken. Leute, die gewöhnlich waren, gaben sich nicht genug Mühe.
Als ich zu Hause auszog und weltgewandtere Vertreter der Mittelschicht kennenlernte, merkte ich, dass ich mir mit dem Namen Tracey und der Angewohnheit »lounge« (statt »sitting room«), »serviette« (statt »napkin«) und »settee« (statt »sofa«) zu sagen, auch genauso gut »GEWÖHNLICH« auf die Stirn hätte tätowieren lassen können. In den Achtzigerjahren waren die Namen »Sharon« und »Tracey« unfehlbarer Nachweis der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Meine Eltern hatten es mit der Wahl meines Namens entsetzlich vermasselt, Sharons und Traceys waren die Prolls von damals. Und dennoch, was war ich eigentlich? Kein Proll, auch wenn mein Name das Gegenteil vermuten ließ. Trotzdem empfand ich einen Unterschied zwischen mir und den Leuten, die ich an der Universität kennenlernte, die vornehmer, urbaner oder auch provinzieller waren. Diesen Unterschied herausfordernd und stolz anzunehmen, fiel mir nicht leicht. Denn ich war ja eben kein Arbeiterkind. Ich war Vorstadt; ein bisschen Doppelhaushälfte. Und das war fast schon eine Klasse für sich - in vielerlei Hinsicht privilegiert, das schon, aber auch häufig verachtet.
Mit der Abneigung gegenüber dem Vulgären ging auch ein Misstrauen gegenüber allem einher, das man als »Angeberei« bezeichnete. Besonders unangenehm war diese bei Kindern, wurde aber auch bei Erwachsenen keinesfalls begrüßt und umfasste jegliche Art von Rechthaberei, Eigensinn und Verschrobenheit. Anzustreben waren stattdessen Anonymität und Unauffälligkeit, immer in der Hoffnung, dass solcherart Zurückhaltung auch diskret anerkannt und belohnt werden würde. Dies waren durch und durch vorstädtische Werte. Enthaltsamkeit und Pietät definierten die Vorstadt - Robert Gaussen, der frühere Besitzer von Brookmans Estate, war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Anhänger der Abstinenzlerbewegung gewesen -, was in krassem Gegensatz zur sündigen Stadt stand, die selbst zu meiner Teenagerzeit noch als Ort von Sex, Drugs and Rock'n'Roll galt.
In einer Band zu sein, war vermutlich auch Angeberei, denke ich jetzt. Als Kind spielte ich ein bisschen Theater und nahm in der Grundschule an einer Aufführung teil, aber das alles fand in so kleinem Maßstab statt, dass es einfach nur kindlich und charmant war. Als ich mir später eine Gitarre kaufte und zu singen anfing, war das etwas sehr viel Demonstrativeres und Selbstherrlicheres. Vielleicht ist es kein Wunder, dass es mir immer schwer fiel, das nötige Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen dafür aufzubringen. Ich hatte immer eine Stimme im Hinterkopf, die mich ermahnte, die Angeberei sein zu lassen. Mach kein Theater. Trink nicht so viel. Sei leise.
Aber manchmal frage ich mich, ob es einen Unterschied macht, wenn man in einem Umfeld aufwächst, in dem man nicht gesagt bekommt, dass man leise sein und mit der Angeberei aufhören soll. Häufig wird geschrieben, Björk sei nach der Trennung ihrer Eltern mit ihrer Aktivistinnenmutter in eine Kommune gezogen und dort aufgewachsen. Sie selbst hat in einem Interview auf einer französischen Fan-Website gesagt: »Ich war das einzige Kind dort, und alle hatten lange Haare . Wenn ich fand, dass ich etwas zu sagen hatte, hörte man mir zu. Und ich bekam die gleichen Platten vorgespielt und erklärt, die die anderen gerade hörten.«
Im Alter von sechs Jahren lernte sie in der Schule Klavier und Querflöte und bekam, nachdem sie bei dem einzigen isländischen Radiosender gesungen hatte, einen Plattenvertrag angeboten. Mit gerade mal zwölf Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Album. Ich habe Videoclips von ihr mit ihrer Band Tappi Tíkarrass gesehen, wo sie mit noch immer erst zarten siebzehn auf der Bühne stand, lange vor der Gründung der Sugarcubes, und schon da war sie voller Energie, Selbstvertrauen, hatte Stil. Eine ungezügelte Performerin, ausdrucksstark, lebendig, ohne Angst vor Lautstärke. Und ich frage mich: Macht ein Umfeld, in dem einem zugehört wird und man Platten vorgespielt bekommt, so was mit einem? Wirkte sich das befreiend auf sie als Künstlerin aus, oder steckte das alles sowieso in ihr? Wäre sie dieselbe geworden, wäre sie in Surbiton aufgewachsen?
J.G. Ballard hat bekanntermaßen den Großteil seines Lebens in der Vorstadt verbracht, was für einen Künstler allerdings als sehr ungewöhnlich galt. Jahrzehntelang wohnte er in einer in den Dreißigerjahren erbauten Doppelhaushälfte in Shepperton, in einer Straße mit Häusern, die Namen trugen wie »Laurel View«, und er hat behauptet, er schätze die ihm auf diese Weise möglichen Einblicke in das Leben der englischen Mittelschicht. Die anhaltende Verwunderung über Ballards Entscheidung, in der Vorstadt zu bleiben, zeigt aber, dass wir diese eigentlich für keine passende Umgebung für kreative Menschen halten. Künstler tummeln sich entweder in der Großstadt oder verabschieden sich in die vollkommene Abgeschiedenheit. Das Landleben - ein kleiner Hof auf den Orkneys, ein Cottage an einem Hang - hat auf ganz eigene grüne Weise etwas Draufgängerisches, während das Urbane - ein Loft, eine Dachkammer - avantgardistisch und aufregend wirken. Auf alles dazwischen, auf alle, die in bescheidenen Eigenheimsiedlungen leben - größer als Dörfer, kleiner als Städte - schaut man herab. Wir geben nicht gerne zu, aus der Vorstadt zu stammen, denn es ist ein Ort, dem man entfliehen will.
Und doch bringt sie ständig wieder Menschen hervor, die diese Zwänge durchbrechen. David Bowie wurde zwar in Brixton geboren, zog aber im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach Bromley in Kent. Die alte Marktstadt aus dem zwölften Jahrhundert war inzwischen in das stetig wachsende London eingemeindet worden und ein Paradebeispiel für eine Vorstadt. Nur neun Meilen von Charing Cross entfernt, wirkt sie städtischer als Brookmans Park, wo ich aufwuchs, aber keinesfalls urban. Bromley ist vom Zentrum getrennt, aber doch so nah dran, dass wer dort lebt, sich die Nase am Londoner Schaufenster platt drückt.
Vor diesem vorstädtischen Hintergrund entwickelte sich Bowies Ikonoklasmus, seine Lust, gegen die Regeln zu verstoßen, und möglicherweise belegt dies die allgemeine Vermutung, das Aufwachsen in einem konservativen Umfeld könne inspirierend wirken, weil künstlerisch veranlagte Menschen dort etwas finden, gegen das sie sich auflehnen können, einen Anlass zu rebellieren. Mitte der Siebzigerjahre trat eine Gruppe seiner Fans in seine Fußstapfen. Sie wurden bekannt als »Bromley Contingent« und gelten als die ersten echten Punks. Zu der Gruppe gehörten unter anderem Siouxsie Sioux, Steve Severin, Billy Idol, Bertie »Berlin« Marshall, Jordan, Soo Catwoman, Debbie Juvenile und Tracie O'Keefe. Einige von ihnen waren auch 1976 beim ersten Fernsehauftritt der Sex Pistols dabei und legten sich mit dem Moderator Bill Grundy an oder wurden nach der berühmten, von Malcolm McLaren organisierten Bootsfahrt auf der Themse anlässlich der Feierlichkeiten zum silbernen Thronjubiläum der Königin verhaftet. Zum Teil arbeiteten sie bei Seditionaries und wurden für die Presse fotografiert. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie abends ausgingen, erst mal raus aus den Häusern in jenen stillen, stinknormalen Straßen. Sind sie wirklich so angezogen in den Bus gestiegen? Mit auffällig geschminkten Katzenaugen, hoch gestellten Stachelhaaren oder Katzenohren, mit Hundehalsbändern und Netzstrümpfen, Siouxsie mit schwarzem Lippenstift und nacktem Busen? Schon in Soho musste man eine Menge Mut haben, so herumzulaufen, aber in Bromley?
In England's Dreaming zitiert Jon Savage Siouxsies Beschreibung der Vorstadt: »Ich hasste...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.