Schweitzer Fachinformationen
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Monsieur Hippolyte Jammet schob seine Brille auf die Nase und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Die Personalbesprechung war fast zu Ende, die heutigen Aufgaben verteilt. »Wie lautet das oberste Gebot im Le Bristol?«, fragte er wie jeden Morgen am Ende der Besprechung.
»Diskretion!«, riefen alle wie aus einem Mund.
Die Kellner und Zimmermädchen, die Hotelpagen und Laufjungen, die Tor- und Wagenwächter sowie die Concierges und Fahrstuhlführer standen mit durchgedrücktem Kreuz in einer Reihe vor dem Besitzer des Hotels. Nur das Küchenpersonal fehlte. Vor dem Krieg waren es beinahe doppelt so viele männliche Angestellte gewesen, aber seit Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatte, waren viele junge Männer eingezogen wurden. Jammet hatte einige ehemalige Angestellte aus ihrem verdienten Ruhestand holen müssen, um den Hotelbetrieb am Laufen zu halten.
Jeder Kellner trug einen schwarzen Frack mit gestärkter Hemdbrust, die Zimmermädchen lange schwarze Kleider, darüber eine weiße, mit Rüschen besetzte Schürze und ein weißes Häubchen im zum Knoten gedrehten Haar, die Übrigen die hoteleigene Uniform. Im Speisesaal für die Angestellten hingen noch der Geruch des Morgenkaffees und der Duft frisch gebackener Croissants. Aus der Spülküche war das Klappern von Tellern zu hören, ein Koch rief nach einem Küchenjungen. Ein Beikoch verteilte auf einem Tisch kleine Kostproben der Tagesmenüs und die dazugehörigen Weine. Gleich nach der Besprechung würden die Kellner davon kosten und anschließend die Gerichte vor den Ohren des Souschefs beschreiben, damit sie diese den Gästen so gut wie möglich empfehlen konnten. Auch der Geschmack der Weine musste charakterisiert, Rebsorten, Lagen und Weingüter unterschieden werden.
Die Zimmermädchen würden von der ersten Hausdame eingeteilt werden und danach ihre Wagen mit Bettwäsche, Handtüchern, parfümierter Seife und Reinigungsmitteln beladen und sich unter den strengen Augen der Etagenaufsicht an die Arbeit machen. Die Torwächter in ihren schwarzen Capemänteln und den steifen Zylindern würden vor dem Hotel Aufstellung nehmen, die Gäste begrüßen und ihnen die Tür aufhalten, während die Wagenwächter deren Autos parkten. Die Rezeptionisten würden telefonieren, Fragen beantworten und dabei alles, was in der Empfangshalle geschah, im Blick behalten. Die Pagen würden sich mit den Koffern abmühen, der Fahrstuhlführer seine Knöpfe bedienen und die Etagen ansagen.
Aber noch war es nicht so weit, noch schritt der Hoteldirektor die Reihe ab und musterte einen nach dem anderen. Sie alle sahen frisch gewaschen und ordentlich gekämmt aus. Da war keine Falte in der Kleidung, keine Haarsträhne hing lose. Da blitzten die Schuhe und die Messingknöpfe der Uniformen.
»Genau. Diskretion. Was in diesem Haus passiert, dringt nicht nach draußen. Die unbedingte Verschwiegenheit ist der Boden, auf dem das Le Bristol steht und gedeiht. Auch und besonders in diesen schwierigen Zeiten.« Hippolyte Jammet war besorgt, doch er bemühte sich, es nicht zu zeigen. Vor genau einem Monat war die deutsche Wehrmacht in Belgien und Nordfrankreich einmarschiert, und sie kam der Hauptstadt Paris immer näher. Jammet hatte ausgezeichnete Beziehungen in der Stadt. Es gab beinahe nichts, das ihm verborgen blieb, und so war ihm auch bekannt, dass sich die Regierung unter Führung von Paul Reynaud auf eine Flucht vorbereitete. Und was dann geschah, das wusste der Himmel. Er hatte seiner Frau Yvonne aufgetragen, in der Kirche Notre-Dame eine Kerze anzuzünden, aber er glaubte selbst nicht, dass das etwas nützte. Der Hoteldirektor hatte am Morgen im Radio gehört, dass die Maginot-Linie von den Deutschen überrannt worden war. Die Maginot-Linie, an der sich die Bunker wie an einer Perlenkette entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien aneinanderreihten. Die Maginot-Linie, die als unüberwindbar gegolten hatte. Nur Gott wusste, was nun kommen würde. Jammet rechnete mit dem Schlimmsten.
Am liebsten hätte er Yvonne und seine Kinder in Sicherheit gebracht. Sein ältester Sohn Pierre besuchte ein Internat, aber die anderen neun Kinder lebten im Le Bristol. In der Provence würde sich sicherlich noch ein kleines Hotel finden, in dem sie den Krieg überdauern konnten. Aber Yvonne weigerte sich strikt. Sie und Hippolyte Jammet liebten sich von ganzem Herzen, und Yvonne musste da sein, wo auch Hippolyte war.
»Jawohl, Monsieur Jammet«, riefen die Bediensteten wieder im Chor.
»Dann an die Arbeit. Jeder weiß, was er zu tun hat.« Monsieur Jammet klatschte in die Hände.
Die Angestellten schwirrten wie ein Bienenschwarm auseinander, und Monsieur Jammet hatte jetzt Zeit für einen Café au Lait mit dem Empfangschef, der ersten Hausdame und dem Küchenchef.
»Was steht heute auf der Tageskarte?«, wollte er wissen, und Monsieur Trudeaux seufzte und zählte auf: »Geeiste Gurkensuppe, frische Langusten, noch keine 24 Stunden aus dem Wasser, mit Trüffeln gefülltes Kalbsbries, zarte Täubchen mit einer Füllung aus provenzalischen Kräutern, geschmort in Rotwein, und als Dessert Birnenküchlein mit Champagner. Dazu das übliche Angebot aus der Speisekarte.«
Michel Trudeaux arbeitete seit sechs Jahren im Le Bristol. Er war einer der wenigen Küchenchefs eines Pariser Hotels, der sich einen Michelin-Stern erkocht hatte. Fünf Jahre hintereinander!
Jammet staunte: »Es gibt nichts zu kaufen, die Leute stehen stundenlang für eine Packung Mehl an, und wir haben eine solche Speisekarte?« In seiner Stimme schwang Stolz mit.
»Nun, wir kaufen die wenigsten Sachen auf dem Markt, weil es dort kaum noch etwas zu kaufen gibt. Die Gurken brachte uns ein Bauer aus der Nähe, ebenso die Nudeln. Trüffel haben wir noch vom letzten Jahr, und ich muss zugeben, dass mir ein Nachbar seine Brieftauben geschenkt hat, als er sich auf die Flucht begeben hat. Nun, ich kann mit Tauben außerhalb der Küche wenig anfangen.«
»Welche Einkäufe stehen morgen früh an?«
Monsieur Trudeaux ließ es sich gewöhnlich nicht nehmen, jeden Morgen um vier Uhr höchstselbst zum Großmarkt Halles de Paris im 1. Arrondissement zu fahren und den frischen Fisch, das Obst und Gemüse und natürlich den Käse vor Ort auszuwählen. Normalerweise herrschte dort ab dem Morgengrauen reges Treiben. Händler und Köche aus der ganzen Stadt eilten dann durch die Hallen, unzählige Gemüsestände reihten sich aneinander. Glänzende Auberginen lagen neben gelben und grünen Zucchinis, prächtige Spargelstangen mit violetten Köpfen reihten sich neben grüne Spargelstangen, die Monsieur Trudeaux lieber briet als kochte. Dort sah man frisches Geflügel hängen, schneeweiße Hühner, pralle Gänse aus dem Elsass, Enten jeder Art. In einer Wanne lagen gelbe Hühnerfüße, in einer anderen Hahnenkämme. Da wurden Fische angeboten, die noch gestern im Meer oder einem Fluss geschwommen waren.
Im nächsten Gang prangte prächtiges Obst. Die ersten Erdbeeren aus dem Süden waren eingetroffen, und Monsieur Trudeaux überlegte, ob er daraus ein Dessert machen sollte.
In einem anderen Gang roch es nach Milch und Käse, in dem danach wurde Fleisch angeboten. Halbe Schweinshälften hingen an riesigen Haken, Ochsenzungen neben Rinderfilets, und am nächsten Stand gab es Wild zu kaufen. Rehkeulen, Wildschweinseiten, ausgenommene Karnickel. Die Gummischürzen der Verkäufer waren rot von Blut, darüber lag ein schwerer, eisenartiger Geruch. Karren mit Kisten wurden vorübergezogen, Körbe mit Früchten gepackt, Fleisch abgewogen und Fisch filetiert. Es herrschte ein unbeschreiblicher Lärm, doch die meisten Händler und Einkäufer waren bester Laune. Die Männer hinter den Ständen hielten Henkeltassen mit heißem Kaffee in ihren kalten Händen und riefen sich Grußworte zu. Monsieur Trudeaux kannte viele von ihnen persönlich und wusste, wo er die besten Waren bekam.
Während die Küchenjungen den kleinen Lastkraftwagen des Hotels mit Kisten beluden, kostete Monsieur Trudeaux gewöhnlich einen Rohmilchcamembert aus der Normandie, die ersten frischen Kirschen der Camargue oder ein Stückchen geräucherten Aal aus der Provence. Er roch an Muscheln und Austern, betrachtete die Augen der Fische, ließ sich ein Stück Rinderfilet aufschneiden, orderte sechs Dutzend Stubenküken, suchte Lammlachse aus und brauchte nicht länger als zwei Stunden für seine Einkäufe. So war es wenigstens vor dem Einmarsch der Deutschen gewesen, und es gab nichts, was Monsieur Trudeaux mehr bedauerte. Denn im Augenblick hatten die meisten Stände geschlossen. Ein paar unermüdlich hoffnungsvolle Köche streiften bedrückt durch die leeren Hallen. Wenn sie Glück hatten und zeitig genug da waren, bekamen sie vielleicht ein paar Fische aus der Seine, eingemietetes Gemüse oder ein bisschen Käse. Doch die meisten Restaurants hatten derzeit nur wenige Gäste.
»Morgen würde ich gern Austern kaufen. Dazu vielleicht ein paar Wolfsbarsche, wenn ich sie bekomme. In dieser Woche soll es ein wenig Kalbfleisch geben, aber es kostet sehr viel mehr. Die Tagesgerichte stelle ich immer erst nach dem Einkauf zusammen«, erklärte Trudeaux. »Es ist schwierig, dieser Tage eine Speisekarte zu erstellen.«
»Wie sieht es mit den Vorräten aus?« Monsieur Jammet trank einen Schluck von seinem Café au Lait.
»Mehl haben wir ausreichend, ebenso Zucker und Salz. Mit den frischen Kräutern sieht es schlecht aus. Ich habe neulich schon den Küchenjungen in den Bois de Boulogne geschickt, um ein wenig Löwenzahn zu sammeln. Die Bauern bringen uns zwar noch Fleisch und Milch und Quark und Käse, aber die Preise sind...
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