1.
Totes Fleisch
Sorrel sah zu, wie David die Fledermäuse häutete, und sie genoss die Art und Weise, wie sich seine Armmuskeln bei der Arbeit anspannten. Sie widerstand dem Impuls, sich vorzubeugen und ihm mit den Fingern über die Haut zu streichen. Heutzutage versuchte sie stets, ihn nicht anzufassen.
David hatte dunkle Haare und war schlank und sehnig, seine Schultern waren dennoch breit, und er strotzte vor Gesundheit. Sie fragte sich, wie es wohl war, von ihm gehalten zu werden, den Kopf an seine Brust zu legen. Von ihm geküsst zu werden. Vielleicht fand sie es ja bald heraus.
Er arbeitete in einem gleichmäßigen Rhythmus und warf die toten Tiere in einen großen Topf und die Felle auf einen Haufen vor sich. Sie hatten Glück gehabt, dass er die Schlafkolonie der Fledermäuse gefunden hatte. Die Kadaver wurden ausgeweidet und gewaschen, ehe sie im Eintopf landeten, und die Felle und Flügel wurden haltbar gemacht, um als Kleidung zu dienen.
Er schälte ein besonders großes Hautstück ab, an dem noch die Flügel hingen, und bemerkte, dass Sorrel ihn anstarrte. Er lächelte. Sorrel senkte den Blick auf ihre Stiefel, war verlegen, weil er sie ertappt hatte, und empfand als Demütigung, dass ihre Wangen so sehr brannten. Sie kannte David schon ihr ganzes Leben lang, war mit ihm durch die Hügel gelaufen und hatte mit ihm den Rottwald erkundet, dessen Name von seinem verrotteten Zustand herrührte. In jüngster Zeit veränderten sich jedoch ihre Gefühle. Sie bebte innerlich, wenn er sie anblickte, und das Beben breitete sich aus und erhitzte ihr den Leib.
Sorrel widmete sich wieder der Aufgabe, ihr Messer zu wetzen. Metall war in Amat schwer zu kriegen, und Messer aus der Zeit Davor waren noch seltener. Dieses Messer hatte sie von der Großmutter geerbt. Die Klinge war inzwischen dünn, und sie achtete darauf, sie nicht zu sehr zu schärfen und somit brüchig zu machen.
Angestrengt bannte sie das Dunkelrot aus dem Gesicht und bemühte sich, nur auf das Messer zu achten. Sie nahm sich Zeit, es in den Griff zu klappen, ehe sie es in die Tasche ihrer Jacke aus Fledermausfell steckte. Erst dann wagte sie es, David wieder anzusehen.
Er schaute erneut von seiner Arbeit auf. Diesmal hielt sie seinem Blick stand und gestattete sich, sein Lächeln zu erwidern.
»Süße Sorrel.« David streckte die Hand aus und strich ihr übers Gesicht.
Ihre Wangen wurden heiß, als sie seine Hand spürte.
»Es tut mir leid. Ich habe schmutzige Hände. Du wirst dir jetzt das Gesicht waschen müssen.«
Sie fasste an seine Hand. »Es macht mir nichts aus.«
»Wir können zum Fluss im Rottwald gehen, sobald ich fertig bin ... Das heißt, wenn du möchtest.«
Möchten? Sorrel hätte am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Er mochte sie also wirklich. Das war seinen klaren blauen Augen eindeutig zu entnehmen. Der Art, wie er sie anlächelte. Seiner Berührung.
Seine Haut auf ihrer zu spüren, ließ ihren Körper wohlig erglühen.
»Sorrel? Sorrel!«
Sie verdrehte die Augen, als sie die altbekannte nörgelnde Stimme hörte.
Sorrels Mutter kam auf sie zu, ein Baby auf der Hüfte, ein Kleinkind auf den Fersen. Ihre Kleidung bestand aus behandelten Fellen und gewebten Stoffen und war von kundiger Hand so geschnitten, dass sie sich perfekt der Figur anpasste, obwohl die Leggings in jüngster Zeit lose zu hängen schienen. David warf Sorrel kurz einen Blick zu, ehe er sich wieder dem schrumpfenden Haufen Fledermäusen zuwandte.
Sorrel stand auf.
»Du solltest mir doch mit deinem Bruder und deiner Schwester helfen, Sorrel.«
»Ich bin beschäftigt.«
»Das sehe ich.«
Ihre Mutter sah David an. Obwohl er sicherlich spürte, wie sich ihr harter Blick durch seinen Schädel bohrte, widmete er sich ganz seiner Arbeit. Sorrel konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen. Sie hätte das Gleiche getan, wäre ihr die Wahl geblieben.
Ihre Mutter zischte die Worte zwischen gespannten Lippen hindurch. Dünne tiefe Falten hatten sich in die Haut um ihre Augen und um ihren Mund gegraben, seit Sorrels Vater nicht mehr von einem einsamen Jagdausflug zurückgekehrt war. Die rauen Linien setzten seitdem ihren unnachgiebigen Vormarsch kontinuierlich fort.
»Ich habe mein Messer geschärft.«
»Es ist dein Verstand, der geschärft werden müsste.«
Sorrel schnitt ein finsteres Gesicht. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass sich ihre Mutter ausgerechnet vor David an ihr ausließ. Es schien, als machte sie das absichtlich.
Das Baby krähte nach Sorrel. Diese streichelte ihrer Schwester den Kopf. Das Baby war wie Mutter und Bruder blond, die Haare so zart und weich wie eine Pusteblume. Um den Hals trug das kleine Mädchen einen kleinen funkelnden Stern an einer zierlichen Silberkette.
Das Halsband gehörte zu den Geschenken, die ihr Großmutter hinterlassen hatte. Es war einer der seltenen Gegenstände, die sie aus der Zeit Davor hatte, und war durch die Generationen vererbt worden, bis er schließlich an Sorrel fiel. Die Großmutter hatte Geschichten davon erzählt und Sorrel erklärt, dass die fünf Zacken des Sterns für die Wesenszüge stehen würden, die sie zum Überleben brauchte: Stärke, Lebenskraft, Mut, Weisheit und Beharrlichkeit.
Als sie ihr Schwesterchen zum ersten Mal in den Armen gehalten und gesehen hatte, wie klein und schutzlos sie wirkte, hatte Sorrel ihr das Halsband zum Geschenk gemacht und gehofft, es möge ihr all die Wesenszüge verleihen, von denen die Großmutter gesprochen hatte.
»Bella«, flüsterte Sorrel den Namen, den sie ihrer Schwester gegeben hatte.
»Nein, Sorrel, das darfst du nicht.« Ihre Mutter pochte stets auf Regeln, war immer bereit, »Nein« zu sagen, »Tu das nicht«, »Das kannst du nicht« zu sagen.
»Hoch, hoch!« Sorrels Bruder zupfte an ihrer Jacke. Sie warf einen Blick auf das Kleinkind. Von ihrer Beachtung ermuntert hob Eli die Arme und hüpfte. »Hoch!«
Sorrel spielte mit seinen Fingern, ignorierte aber seine Bitte.
»Warum nicht? So heißt sie doch.«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. Eli versuchte, hüpfend Aufmerksamkeit zu heischen, als sie erklärte. »Du weißt schon, warum. Es ist zu früh. Wir wissen noch nicht, ob sie lebensfähig ist.«
Sorrel schüttelte den Kopf. »Natürlich ist sie lebensfähig - sieh sie dir doch an! Außerdem nutzen sich Namen ja nicht ab und verbrauchen sich nicht. Warum sollte sie keinen haben dürfen? Ich bin diesen blöden Ort und die blöden Gesetze leid. Und ich bin dich leid. Kein Wunder, dass Dad nicht zurückgekehrt ist.«
Die Worte waren ausgesprochen, bevor sie sie aufhalten konnte. Schon ehe die Verletztheit im Gesicht ihrer Mutter zu erkennen war, wusste Sorrel, dass sie zu weit gegangen war.
Sie schämte sich ihres Ausbruchs, war weiterhin wütend auf ihre Mutter und fühlte sich abgründig gedemütigt, weil sich der Streit vor David abgespielt hatte, und so wandte sie sich ab und stürmte davon.
Kaum hatte sie einige Schritte zurückgelegt, entdeckte sie eine Gestalt, die sich neben der nächststehenden Hütte herumtrieb. Nach dem höhnischen Lächeln zu urteilen, hatte Mara den Wortwechsel verfolgt. Ausgerechnet Mara mit ihren roten Locken, verständnisvollen Augen und ihrem schlauen leisen Lächeln!
Tränen brannten in Sorrels Augen, während sie zwischen den Holzhütten hindurchhuschte, bis sie das hintere Tor im Grenzzaun erreichte. Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie sich Mara an David heranmachte und mit ihm über Sorrel scherzte, während sie das Haar über die Schulter warf und ihm ein affektiertes Lächeln schenkte.
Hinter dem Zaun rannte Sorrel weiter. Sie lief den Rand des Rottwalds entlang, überquerte das Moor auf den Torfbänken und kletterte die Anhöhe hinauf. Sie berauschte sich an der ungestümen Schnelligkeit und sie scherte sich nicht darum, sich den Knöchel oder das Knie zu verrenken, während sie rannte, bis ihre Wut verging. Je höher sie kam, desto freier fühlte sie sich von Amat und seinen dummen Regeln und geistlosen Aufgaben. Ihre Tränen trockneten, und sie warf allmählich die Verletztheit und den Ärger ihrer Mutter und Maras spöttische Blicke von sich. Sie lief weiter, bis sie außer Atem war und einen flachen Stein erreichte.
Sie zog die Jacke aus und legte sich auf den Stein. Ihr Herz wurde langsamer, ihr Atem ging ruhiger, während sie in den dunstigen Himmel blickte.
Sorrels Beine waren müde, der Bauch war leer, aber die gefilterte Sonne brachte Wärme, und Umgebung und Erinnerungen spendeten Trost.
Dieser Stein war ihr Lieblingsplatz. Sie hatte ihn früher zusammen mit Großmutter aufgesucht. Beide saßen sie dann hier oben, blickten über Amat hinaus, über ihren kleinen Flecken Welt, und ihre Großmutter erzählte, und Sorrel lauschte den Geschichten, die Großmutter über das Leben Davor gehört hatte. Obwohl Sorrel nicht alles oder auch nur den Großteil davon glaubte, bereitete es ihr Freude, Großmutter...