Schweitzer Fachinformationen
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Als hätte Annetta Niedlich eine Wette darauf abgeschlossen, verwandelte sich der Graupelschauer in Schnee. Sie hatte Unter den Linden in Rekordzeit erreicht, trotzdem fühlte es sich an, als wäre sie viel zu spät dran. Noch eine Viertelstunde zuvor hatte sie im Fitnesscenter mit ihrem Schlingentraining gekämpft, die Füße in elastischen von der Decke herabhängenden roten Bändern, den Rücken kerzengerade, den Nacken lang und die Unterarme auf dem Boden wie beim Planking. Eine Übung, die vor allem ihrem Bauch galt, der durch den Verzehr diverser Schokoriegel in den letzten Monaten mehr Speck angesetzt hatte, als ihr lieb war.
Annetta stellte den Wagen am Rande des Pariser Platzes ab. Der rasselnde Motor spuckte noch einmal nach, bevor er Ruhe gab. Schon von ihrer Parkposition aus sah sie die neugierige Menschenmenge durch die Frontscheibe. Sie öffnete die Fahrertür und der eisige Wind schlug ihr wie der Kälteschwall aus einer Tiefkühltruhe entgegen. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sich umzuziehen. In Hallenturnschuhen, Damenleggings und Top griff sie auf die schmale Rückbank ihres betagten Gefährts und zog den roten Parka hervor, den ihr Bruder vor Wochen im Wagen hatte liegen lassen. Jetzt war sie dankbar für Eriks künstlerische Zerstreutheit. Ohne den Parka hätte sie sich den Hintern und Gott weiß was abgefroren.
Wie sie Erik kannte, hatte er sich in London längst eine neue Jacke organisiert. Ihr älterer Bruder war eine Art Allroundkünstler, besonders, was das Überleben anging. Erik besaß keine eigene Wohnung, kam stets bei guten Freunden unter. Drei Jahre zuvor war er mit gerade mal 500 Euro in der Tasche ein halbes Jahr lang von der Ost- zur Westküste der USA gereist und zurückgekehrt, als hätte er einen unbekannten reichen Onkel beerbt. Mit Kellnern und kleineren Schauspielrollen habe er sich über Wasser gehalten. Dann war Erik letztes Jahr nach London gezogen, natürlich wieder zu guten Freunden. Vor zwei Monaten hatte er ein Stipendium an der Royal Central School of Speech and Drama bekommen. Annetta hatte die School sofort gegoogelt, um sicherzugehen, dass ihr Bruder keinem Betrug aufsaß, und als ihr klar wurde, dass an der School Hollywoodgrößen wie Laurence Olivier, Der Marathon-Mann, oder Judi Dench, M in James Bond, studiert hatten, war ihr das erste Mal gedämmert, dass am künstlerischen Talent ihres Bruders vielleicht doch mehr dran war.
Annetta zog den Reißverschluss des Parkas bis zum Hals hoch, steckte ihren Polizeiausweis ein und straffte die elastischen Schnüre am Kragen und um die Oberschenkel so eng, dass kaum Wind in die viel zu große Jacke fuhr. Die Kälte kroch allerdings in ihre Sportschuhe und die dünnen, wie eine zweite Haut anliegenden Leggings. Aber Annetta würde das aushalten. Sie war frisch gebackene Kriminalkommissarin und mächtig stolz darauf.
Sie näherte sich der Menschenmenge. Die uniformierten Kollegen hatten die Schaulustigen bereits ein Stück weit vom Tatort zurückgedrängt. Mit gezücktem Ausweis zwängte sie sich zwischen den Schaulustigen und den Kriminalreportern hindurch. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was sie erwartete, hätte aber glatt kotzen können, als sie am Absperrband ausgerechnet auf Toni Vörg, ihren ehemaligen Ausbildungskollegen, stieß.
Vörg - spitzes Kinn, Hakennase, kurz geschorenes platinblondes Haar - war einer dieser Idioten, die glaubten, die Welt gehöre ihnen und keinem sonst. Dabei verplemperte er jede Menge Zeit auf alkoholträchtigen Partys, weshalb er seine theoretische Prüfung zum Kommissar vermasselt hatte, während Annetta als eine der Besten bestanden und im Anschluss eine Stelle bei der Kripo angetreten war. Ein Dorn im Auge des missgünstigen Vörg. Auf der Abschlussparty hatte er Annetta als langweilige Streberin runtergemacht und ihren Nachnamen verunglimpft. Sie hätte den Vorfall als Mobbing melden können, hätte dann aber als Petze dagestanden. Auch jetzt begegnete Vörg ihr mit dieser dreisten Überheblichkeit, obwohl er in seiner Uniform aussah, als hätte er die letzte Nacht unter irgendeiner Brücke gepennt. Er gebärdete sich, als bewachte er die Goldreserven von Fort Knox und hätte das Sagen. Und natürlich hob er für Annetta nicht einmal das Absperrband an, damit sie bequemer darunter hindurchschlüpfen konnte. Stattdessen grinste er sie überheblich an.
»Bist spät dran, Streberin. Mach dich auf was gefasst!«
Sollte diese bescheuerte Ansage sie etwa einschüchtern?
Auf die Schnelle fiel ihr keine passende Antwort ein, also sagte ihr Blick Fick dich ins Knie! Ansonsten biss sie die Zähne zusammen und ignorierte ihn, um sich davon abzuhalten, ihm in aller Öffentlichkeit in die Eier zu treten. Zügig hielt sie auf das Tatortschutzzelt zu, Vörgs herablassendes Grinsen im Rücken. Polizisten, die ihren Job ernst nahmen, gehörten für ihn nun mal zu einer niederen Lebensform. Damit konnte Annetta aber gut leben, denn eines Tages würde er schon sehen, wohin ihn diese Denkart führte. Andererseits traute sie ihm nicht zu, solcherart Zusammenhänge zu kapieren.
Die wetterbeständige Abdeckung des Tatortzelts schützte vor der Neugier der gaffenden Menge und bewahrte die Integrität des Tatorts. Sonne, Regen, Wind und Schnee konnten Beweismitteln ganz schön zusetzen. Das Zelt erinnerte sie mehr an ein von Polizisten umzingeltes Basislager irgendwelcher Aktivisten als an den Ort eines Verbrechens.
Annetta stellte sich bei einer pummeligen Polizistin vor, die sie zu einem überdachten Bereich vor dem Zelt führte, wo die Technikerausrüstung bereitstand. Dort schlüpfte Annetta in einen weißen Papieroverall und Plastikschuhe. Mit dem Parka darunter sah sie nun aus wie ein schlotternder Fesselballon.
Die Polizistin begleitete Annetta zum Zelt und öffnete ihr den Zugang. Drinnen war es immerhin windstill. Tragbare LED-Scheinwerfer leuchteten auch den letzten Winkel aus. Zwei Gestalten in Schutzanzügen mit Kapuzen und Masken kauerten am Boden und untersuchten einen nackten Leichnam. Vom Hals bis zu den Füßen überzog den Körper eine Schicht, eine Mischung aus Blut und Bronze. Es wirkte, als arbeiteten sie an einer archäologischen Ausgrabung. Eine dritte Gestalt in Schutzkleidung beobachtete die Prozedur. Alle kehrten Annetta den Rücken zu.
Der Leichnam hing in einer grotesken Haltung auf einer Plastikbank, Arme und Beine so angewinkelt, als hätte das Opfer halb liegend, halb sitzend darauf Platz nehmen wollen. Vermutlich hatte schon die Totenstarre eingesetzt. Oder der Körper war durch die Scheißkälte steif gefroren.
Annetta rückte ihre Brille - Modell sportlich lässig - zurecht und räusperte sich. Die stehende Person wandte sich zu ihr um, während die anderen weiterarbeiteten und Plastiktüten über die Arme und Füße des Toten stülpten, um mögliches Beweismaterial unter den Nägeln oder auf den Hautflächen zu sichern.
»Ah, Kommissarin Niedlich. Auch schon da.«
Annetta spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Weniger, weil der Mann, der da vor ihr stand, der Dr. Ralf Lewandowski war, sondern weil sein Blick ihr verriet, dass er sich aus seinen Vorlesungen an sie erinnerte.
Lewandowski war einer der besten Spuren-Kommissare Deutschlands. Eine Legende des Präsidiums. Annetta bewunderte sein Können. Abgesehen von den Polizisten draußen vor dem Zelt musste er der erste Ermittler vor Ort gewesen sein. Er hatte dafür gesorgt, dass die Zugangswege und spurenrelevanten Areale um den Leichnam herum gesichert und untersucht worden waren. Ein Tatort wurde immer im Uhrzeigersinn abgesucht und die Leiche von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln überprüft, bevor sie für die Gerichtsmedizin freigegeben wurde. Aber Lewandowski war nicht nur der analytisch denkende Typ. Neben seiner Berufserfahrung besaß er eine Wahrnehmungsfähigkeit, die an übernatürlichen Instinkt grenzte. Nie ließ er sich von einer scheinbar sicheren Spurenlage hinters Licht führen. Das hatte er unter anderem in einem Fall bewiesen, in dem vermeintliche Fußabdrücke als Schlüssel zur Lösung beigetragen hatten. Der Verbrecher hatte sich seine Socken über die Hände gestreift, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
»Ich bin direkt vom Training hergekommen«, erklärte Annetta. Sie ärgerte sich, dass ihre Antwort wie eine Entschuldigung klang. Fast fühlte sie sich wie bei der mündlichen Abschlussprüfung.
Lewandowskis klare blaue Augen musterten sie.
»Dann haben Sie die im Internet kursierenden Videos noch gar nicht gesehen?«, stellte er fest.
Videos? Da hielt man sich an seinem freien Tag mal für ein paar Minuten von den sozialen Medien fern und schon stand man da wie der Trottel vom Dienst.
»Sorry, nein. Ich bin nach dem Aufstehen sofort ins Gym gefahren.« Schon wieder eine Entschuldigung.
Lewandowski schaute sie an, als wäre er noch nie einem Menschen begegnet, der auch mal ohne das Internet auskam.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Der Forensiker gab einen undefinierbaren Seufzer von sich und wandte sich dem Tatort zu. »Was immer passiert, wenn man uns ruft. Das hier ist allerdings nur die Hälfte vom Lied.« Er griff nach seinem Smartphone, berührte ein paar Buttons und zeigte ihr das Display.
Annetta hielt den Atem an. Sie hatte schon so einiges während ihrer Ausbildung gesehen, aber das toppte alles. Was sich auf dem Bildschirm abspielte, wirkte ebenso ästhetisch wie krank. Eine in Bronze getauchte Frau mit schneeweißem Haar hielt einen Mann in ihren Armen, beide nackt, beide farb- und blutbesudelt, beide leichenblass geschminkt. Ein Bild wie aus einem Gothic-Video,...
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