II. Die Anfänge des Ordens
Inhaltsverzeichnis Aller Hindernisse ungeachtet hatte der mächtige, enthusiastische Drang nach Selbsterniedrigung und Demütigung vor Gott den Jüngling die Grenzen der hergebrachten Sitte überschreiten lassen - liest man die alten Legenden, so kommt man bei der Schilderung des rastlosen Vorwärtseilens seiner stürmischen Natur fast nicht zu Atem. Und doch muß es für ihn selbst Augenblicke der Ruhe und Überlegung gegeben haben, als endlich die Mauern der verfallenen Kirchen wiederhergestellt waren und er nach neuer Tätigkeit im Dienste Gottes auszuschauen gezwungen war. Mit dem Schichten von Steinen konnte der inneren Sehnsucht nicht Genüge getan werden, den Armen und Kranken zu helfen, fehlte ihm, der selber nichts zum Leben hatte, das Nötigste! Da hörte er einst das Evangelium von der Aussendung der Jünger lesen: »Gehet aber und prediget und sprechet: das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. - Ihr sollt nicht Gold, noch Silber, noch Erz in euren Gürteln haben; auch keine Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken.« (Matth. 10, 7. 9-10.) Das gab ihm, was er ersehnte: den apostolischen Lebenszweck der Predigt. »Dies ist's, was ich will«, sprach er, »dies ist's, was ich suche, dies begehre ich mit allen Kräften der Seele zu tun.« Und wörtlich vollzog er das Gebot, löste die Sandalen von den Füßen, legte den Stab aus der Hand, gürtete sich den Strick um und machte sich aus dem rauhesten, ärmlichsten Stoffe eine Tunika in der Form des Kreuzes. Dann brach er auf und begann zu predigen in derselben Kirche, in der er als Knabe gelernt, mit einfachen Worten - aber dieselben drangen wie glühendes Feuer in die Tiefen des Herzens und erfüllten alle mit Bewunderung. Was mußte das für eine Gabe der Rede sein, der selbst die früheren Freunde und Bekannten, denen er zum Spott geworden war, nicht widerstehen konnten! Denn wie sein steter Gruß, der stete Anfang seiner Predigt das versöhnende Wort: der Herr gebe dir Frieden! war, so brachte er wirklich solchen Frieden mit sich, daß selbst alte Widersacher des Grolles in herzlicher Umarmung vergaßen 26.
Die Zeit der Vorbereitung war vorbei, die lange im Innern gehegte Liebe und Begeisterung fand Befreiung nach außen in dem mit sich fortreißenden Strome der Worte, die aus dem Herzen kamen und zu Herzen gingen. Und, können wir hinzusetzen, die eigenste Begabung hatte das Feld ihrer wirksamsten Tätigkeit in der Predigt gefunden!
Was die Eltern zu dieser neuen Wendung in dem Leben ihres Sohnes gesagt, verrät keine Silbe der Biographen, die auch fernerhin kein Wort mehr für sie haben. Und doch wäre da sicher, wenigstens von der Mutter, so viel zu erzählen gewesen!
Kaum aber hatte Franz zu predigen angefangen, als er auch schon Nachfolger und rückhaltlose Bewunderer fand. Und damit begann für ihn die große Täuschung seines Lebens, deren er sich wohl manchmal bewußt geworden sein mag, ohne sie jedoch je in ihrem ganzen Umfange erkannt zu haben - der irrige Glaube nämlich, daß eine Lebensauffassung, die seiner individuellen, fest in sich begründeten Anlage entsprach, nach ihrer ganzen Reinheit sich in andere verpflanzen ließe, das Gemeingut und Prinzip einer großen Genossenschaft werden könne. Damals konnte er es freilich noch nicht ahnen, welche schnelle Ausdehnung die letztere gewinnen würde, als der erste Jünger, ein schlichter Mann aus Assisi, der, in der I. Legende ohne Namen erwähnt, wohl derselbe Petrus Catanei ist, den die tres socii als zweiten Schüler anführen, sich zu ihm gesellte 27. Für die »drei Genossen« ist der erste: Bernhard von Quintavalle, der lange schon mit Verwunderung die Sinnesänderung des Jünglings beobachtet hatte und ihm nun eine Unterkunft in seinem Hause gewährte. Da ward er Zeuge von dessen nächtlichen Gebeten und beschloß, hingerissen von solch gottseligem Wandel in Worten und Werken, dem Beispiel zu folgen. Auf seine Frage, was er tun und wie er über seine irdischen Güter verfügen solle, verwies ihn Franz auf das Wort Christi: »Willst du vollkommen sein, so gehe, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben 28.« So kurz erzählt die Legende den Vorfall, der schon in der zweiten und bei den tres socii, offenbar mit Benutzung jener ersten Offenbarung, die Franz allein zuteil geworden war, ausführlicher geschildert wird. Diesen zufolge gehen beide in die Kirche des h. Nikolaus und erhalten dort nach der Sitte der Zeit durch zufälliges Öffnen der Bibel Orakelantworten des Evangeliums, die neben jenem erwähnten Spruche die zwei anderen bringen: »und gebot ihnen, daß sie nichts bei sich trügen auf dem Wege« (Mark. 6, 8) und: »will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir« (Matth. 16, 24). In diesen Sprüchen aber habe Franz die Lebensregel für sich und seine Genossenschaft erkannt 29. Daß er als Grundlage des gottgefälligen Lebens die Armut angesehen und seine ersten Schüler bestimmte, sich ihr ganz zu widmen, ergibt sich jedenfalls mit Sicherheit aus seiner genugsam ersichtlichen eigenen Überzeugung.
So ging denn Bernhard hin und verschenkte all sein Hab und Gut. Dessen war ein Priester, namens Silvester, Zeuge, dem einst Franz die Steine für den Bau von S. Damiano abgekauft hatte. Der dachte die Gelegenheit zu benutzen und forderte jenen auf, ihm nun, da er es habe, die Steine besser zu bezahlen. Willig ging Franz darauf ein. Den Priester aber kam nach wenigen Tagen die Reue an, daß er, obgleich schon so alt, noch immer am Zeitlichen hänge, während dieser Jüngling sich genügen lasse an Gottes Liebe. Ein Traumbild von einem bis zum Himmel ragenden Kreuze,
4. Franciscus.
Tafelbild von Margaritone d'Arezzo.
Arezzo, Pinakothek.
5., 6. Franciscusdarstellungen.
Glasgemälde in der Elisabethkirche zu Marburg.
das aus Franziskus' Munde ging, bestärkte seine Verehrung für den vorher Verachteten, und nach kurzer Zeit gesellte er sich den Schülern bei 30. Die Zahl derselben ward durch Ägidius, gleichfalls einen Einwohner von Assisi, erweitert und bald nachher, nach der I. Legende, durch Philippus und einen Ungenannten. Mit ihnen mag sich wohl für Franz auch die Sorge eingestellt haben, wie es den wenigen einfachen Leuten in der Welt gehen werde, in die er sie hinaussenden wollte. In seiner tiefen Bekümmernis läßt die I. Legende den jugendlichen Vater der kleinen Genossenschaft durch Gott selbst getröstet werden, der ihm weissagend die Menge derer, die später die Regel zu der ihrigen machen sollten, zeigt. So spricht er den Genossen Mut ein: »Seid getrost, ihr Teuersten, und freut euch im Herrn und werdet nicht traurig, wenn ihr gleich so wenige scheint!« Dann sendet er sie, als noch ein achter hinzugekommen, seines Missionsberufes nun ganz sicher, zu zweien in die vier Weltrichtungen und mit dem Auftrag: »Geht, ihr Teuersten, je zu zweien, in die verschiedenen Teile der Welt und verkündet den Menschen Friede und Buße für Erlassung der Sünden; und seid geduldig in der Trübsal und sicher, daß der Herr sein Vorhaben und Versprechen erfüllen wird. Wenn sie euch fragen, so antwortet demütig und segnet, die euch verfolgen, denen die euch beleidigen und Übles nachreden, sagt Dank, weil euch dafür das ewige Königreich bereitet ist 31.« Mit diesen echt christlichen Worten entläßt er sie - hier, wie in allem, was die Schüler von seinen Worten erhalten haben, tritt eine tiefinnerliche Kenntnis des Bibelwortes, ein so lauteres und ursprüngliches Nachempfinden der Lehren und Anweisungen Christi hervor, wie es nur in einem kindlich vertrauensvollsten Herzen entstehen konnte. Und wer erst dieses Herz einmal verstanden hatte, der mußte mit unlöslichen Banden der Liebe und Verehrung an den jugendlichen Prediger geknüpft sein, der in freiem Fluge sich über die kleinlichen Rücksichten der Eigenliebe erhoben hatte, obgleich er in den Jahren stand, in denen sonst dieselbe Führer und Lehrer zu sein pflegt.
Es waren wohl nur kurze Wanderungen in der Umgegend, auf denen die Brüder, mehr im einzelnen lehrend und bekehrend als predigend, auftraten. Bald waren sie wieder vor der Portiuncula versammelt, nach der I. Legende vom Zuge des Herzens und durch Gottes Hand zu gleicher Zeit heimgeführt, von welcher wunderbaren Begebenheit freilich die tres socii und offenbar mit Absicht schweigen 32. Ein jeder mußte da von seinen Erlebnissen erzählen, so wenig erfreulich dieselben auch sein mochten, da die Leute sie zumeist für Narren oder Betrunkene gehalten hatten. Nur selten hatte sich eine Stimme hören lassen wie die: »entweder sie streben höchste Vollkommenheit um Gottes Willen an, oder sie sind sicher wahnsinnig, denn verzweifelt scheint ihr Leben, da sie kärglich sich nähren, mit nackten Füßen laufen und mit den schlechtesten Gewändern angetan sind 33«. Sie alle nämlich hatten, selbst in der Tracht, das Beispiel ihres Vaters nachgeahmt. War ihnen aber diese gemeinschaftlich, so war ihnen auch sicher schon zu jener Zeit, zumal als noch vier Jünger sich zu ihnen gesellten, unter denen Sabbatinus, Moritus und Johannes de Capella erwähnt werden, eine wenn auch noch so allgemeine Norm des Lebens gemein. Die tres socii erzählen, daß Franz mehrere Regeln gegeben, ehe er die eigentliche für alle Zeit bestimmende fixiert habe. Es sind wohl zunächst nichts anderes als die Vorschriften der Armut und eine Zusammenstellung von Bibelsprüchen gewesen. Vergebens widersetzte sich der wohlmeinende Bischof von Assisi dieser gänzlichen Besitzlosigkeit, deren Wert für den wahren, vom Irdischen unabhängigen Nachfolger Christi Franz in...