Schweitzer Fachinformationen
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Ich habe MS oder, wie es ausgeschrieben heißt, Multiple Sklerose. Auch zehn Jahre nach der Diagnose ist diese Krankheit für mich hinterlistig, falsch und boshaft! Einfach ein übler Geselle. Sie liegt stets in meinem Körper auf der Lauer und scheint nur darauf zu warten, dass ich einen Fehler begehe. Sie kommt arglos daher und gaukelt mir Normalität vor, will mich durch Überschwang zu unbedachten Handlungen animieren.
Alles kann falsch sein, ganz nach Laune der MS. Sie ist teuflisch, in keiner Weise fassbar, hässlich, eine Fratze, die bestenfalls auf die alemannische Fassenacht ins Breisgau gehört, aber nicht in meinen Körper.
Am Abend noch die Pläne für den nächsten Tag schmieden - am nächsten Morgen dann die Katastrophe. Nichts geht mehr. Antriebslos. Schmerzen. Schwindel. Tunnelblick. Der aufrechte Gang wird zur Qual. Und immer werde ich von der Angst verfolgt, dass die Symptome ein Schub sein könnten. Das wäre fatal, denn dann würde mit großer Wahrscheinlichkeit ein neues Symptom auftauchen, das mich noch mehr einschränken könnte. Drei oder fünf Tage Kortison hieße es dann bei einem Schub, hoch dosiert über den Tropf verabreicht. Bliebe die Hoffnung in meinem Kortisonvertrauen, dass durch dieses Zeugs die brüchige Myelinschicht, die Isolierung der Nervenstränge, wieder repariert und die neu aufgetretenen Störungen beseitigt würden.
Schübe sind ekelhaft. Allein schon das Kortison haut so rein, dass ich die nächsten vier Wochen restlos abhaken kann. Da geht gar nichts mehr. Nur liegen, wirre Ausflüge des Gehirns, Gedankenverwerfungen. Der Tag wird zum Albtraum, die Nacht zum Schmerz pur, ohne Ablenkung. Heftige Gliederschmerzen, die den Verstand zu rauben drohen, Magenschmerzen, Schmerzen im Brustkorb, Dauermuskelkater.
Ich liege nur auf dem Sofa, der Fernseher läuft. Fade Nachmittagsshows rieseln sinnlos dahin, aber mehr kann ich nicht erfassen. Ich beobachte die Menschen auf dem Bildschirm, wie sie sich bewegen, wie sie gehen. Der Weg zum Klo wird zur Kraftanstrengung. Trippelschritte. Manchmal schaffe ich es nicht rechtzeitig. Ein erbärmlicher Zustand und so würdelos.
Als Gratisbeigabe werden meine Knochen brüchig, mein Eisen-, Kupfer-, Zuckerspiegel sinkt beziehungsweise steigt. Die Wasserablagerung in den Gelenken soll die Schmerzen verursachen - doch die MS habe ich wieder im Griff.
Kein Arzt hat mir bisher die Krankheit, dieses Mysterium des Körpers, zufriedenstellend erklären können. Und dennoch, die Summe bestimmter Symptome ergibt Tendenzen eines Krankheitsbildes, und das nennt man in diesem Fall MS.
Dabei gibt es verschiedene Verlaufsformen. In meinem Fall ist es ein schubförmig progredienter Verlauf, eine in Schüben fortschreitende Erkrankung, bei der keine vollständige Rückbildung der Symptome zwischen den Schüben mehr auftritt. Das bedeutet eine kontinuierliche Verschlechterung des Zustands. Im Verhältnis steht dabei die vertikale Achse der zunehmenden Behinderung zur horizontal verlaufenden Zeit. Mein Zeitmaß ist nicht mehr nur die Spanne zwischen Geburt und Tod oder das Messen der Zeit in Jahren, Monaten oder Tagen. Die Zeit hat sich auf Augenblicke reduziert, die ich, halbwegs stabil, erleben darf und als Geschenk wahrnehme. Die Aneinanderreihung solcher Augenblicke wiederum ist Glück, denn wenn keine Verschlimmerung eintritt, verschiebt sich die weitaus unangenehmere Phase, die sekundär chronisch progrediente Form, nach hinten oder wird vielleicht nie eintreffen. Diese Verlaufsform würde nämlich bedeuten, dass sich neben den Schüben eine stete klinische Verschlechterung meines Zustands bis hin zum Rollstuhl vollziehen würde.
Ich muss mich täglich zum Glück zwingen, darf nicht darüber nachdenken, wer ich war und was ich früher für Pläne hatte. Die Vergangenheit ist vergangen. Die Vergangenheit ist nicht die Gegenwart.
Man kann die Krankheit nicht recht fassen. Sie kann so oder auch ganz anders verlaufen. Die Krankheit als Ansichtskarte eines Müllberges. Man selbst ist nur Ausschuss.
Es heißt lapidar: "MS ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Nervensystems, die das Gehirn, das Rückenmark und die Sehnerven befällt"1, so der kleinste gemeinsame Nenner. Oder etwas poetischer formuliert: "Die Krankheit mit den tausend Gesichtern". Dann bleibt wenigstens das Gefühl, besonders zu sein, und nach meinem Seelenzustand hat mich bisher kein Neurologe gefragt. Mit der Trauer ist man garantiert allein. Mit den "tausend Gesichtern" kann in meinem speziellen Fall nur ein Gesicht, eine Grimasse, bestenfalls das Mondgesicht gemeint sein, das unbeirrt am Firmament steht und mich beständig beobachtet.
Ja, die Nerven spielen verrückt. Die Isolierhüllen der Nerven aus Myelin sind brüchig und nach einem Schub bleiben Plaques zurück, verhärtete Narben, die als weiße Flecken auf dem MRT-Bild sichtbar werden. Die Plaques werden durch Entzündungen hervorgerufen, die eben zur Zerstörung der Myelinscheiden im zentralen Nervensystem führen. Es dringen aktivierte Zellen vom Blut in die Nervengewebe ein, autoaggressive Abwehrzellen, die eigentlich gegen eindringende Krankheitserreger aktiv werden sollen, in diesem Fall sich aber gegen einen selbst richten. Je nachdem wie schnell man sich das Kortison zur Reparatur verabreichen lässt, besteht die Chance, die Folgen gering zu halten. Es ist ein Versuch.
Die kaputten Myelinschichten verursachen Kurzschlüsse. Es zischt und blitzt im Körper. Ich stelle mir ein Transformatorenhäuschen vor, in dem zu viel Spannung anliegt. Je nachdem, wo in dem Nerventeppich Kurzschlüsse auftreten, gibt es Ausfälle. Der eine redet schleppend, erfasst Zusammenhänge nur noch bruchstückhaft, verzögert, der andere zieht das Bein nach, hält den Arm komisch, sitzt im Rollstuhl, hat einen dumpfen Kopf oder wird mit einem Kran aus dem Bett in den Rollstuhl gehievt.
Es gibt Grundmuster der Erkrankung, wohl wahr, doch vielmehr treffen die tausend Gesichter auf das individuelle Umgehen mit der jeweils eigenen MS zu. Die einen beklagen ihr Schicksal, die anderen werden zynisch, wieder andere versuchen, sich mit der Erkrankung einzurichten.
Dafür steht uns, den MS-Kranken, eine scheinbar relativ große Auswahl an Medikamenten und Therapien zur Verfügung. Diese Medikamente reduzieren sich aber auf wenige Grundsubstanzen. Durch eine enorme Forschungsintensität kommen jedoch ständig neue Möglichkeiten, neue Therapieansätze, neue Medikamente auf den Markt, die Hoffnung machen. Seit einiger Zeit scheinen die neuen Erkenntnisse über meine Erkrankung eine Dynamik entwickelt zu haben, sodass ich als "Betroffener" auf baldmögliche Heilung setzen möchte. Bisher gehöre ich noch zu den "Unheilbaren", den am Rand lebenden Menschen. Der Verlauf dieser Krankheit ist wie ein Umschlagen verschiedener Quantitäten in eine neue Qualität, oder moderner ausgedrückt, es sind eskalierende Level, die man, anders als beim Spiel, niemals erreichen will. Medikamente nur als Produkte zu sehen und die ständig wachsende Zahl an MS-Erkrankten nur als einen Markt für die Pharmaindustrie zu betrachten, ist vielleicht die eine Seite der Medaille, doch die andere ist der menschliche Forscherdrang, diese faszinierende Nervenerkrankung zu ergründen und sie zu heilen. In dieser Herausforderung an die menschliche Neugierde sehe ich für mich eine, vielleicht die Chance, noch einmal davonzukommen.
Wenn ein neues Medikament in die Erprobungsphase gelangt, werden MSler gesucht, an denen es ausprobiert werden kann. Der MS-Kranke an sich ist bestens informiert über sein Leiden und saugt förmlich Informationen über sein Krankheitsbild und Möglichkeiten seiner Behandlung auf.
Für den Gesunden muss der Kranke ein offensichtliches Gebrechen haben, entweder hinken, zumindest einen Schnupfen haben oder debil durch die Gegend laufen, damit der Kranke als Kranker erkennbar wird. Wenn man nicht als Penner, Irrer, Debiler oder anderer Freak identifizierbar wurde, kann der andere Hilfsbereitschaft zeigen. Aber wenn eine Krankheit nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist, gibt es ein Problem, sowohl für den Betroffenen als auch für den Betrachter. Während ich beim Gehen immer schlechter vorankomme, der eine Fuß sich immer mehr eindreht und mein Kopf sich mehr und mehr senkt, der Blick stier wird, da ich mich auf einen Punkt in der Ferne fixieren muss, um überhaupt noch einigermaßen geradeaus zu gehen, mich Schritte hinter mir restlos nervös machen und ich mich nur noch hinhocken kann, wenn es gar nicht mehr geht, dann taxieren mich Vorbeikommende: Ist er besoffen, hat er Drogen genommen, muss ich etwa helfen? Nur um dann wieder den Gang zu beschleunigen, denn zur letzten Personengruppe gehöre ich offensichtlich nicht.
Innerlich nehme ich mich selbst oft als einen Betrunkenen wahr, der durch die Gegend torkelt. Ich will normal sein, wie alle gehen, aber kann es nicht. Die Beine versagen mir den Dienst. In solchen Momenten ist meine Wahrnehmung arg reduziert. Ich schaue in der Hocke in das vorbeieilende Gesicht, um zu sehen, ob es mich so sieht wie ich mich wahrnehme. Die anderen Augen weichen mir dann aus....
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