II. Was ist deutsch?
Inhaltsverzeichnis Eine Vorbemerkung! Ich habe Ihnen die erfreuende Nachricht zu geben, daß meine Bemühungen von Erfolg gekrönt worden sind und am 1. Juli im Heidelberger Kunstverein eine größere Ausstellung von Gemälden Böcklins und Thomas eröffnet wird, die während des Monats Juli täglich zugänglich sein soll. Neben zahlreichen bedeutenden Gemälden, Steindrucken und Algraphien werden auch Reproduktionen der Hauptwerke beider Meister, welche eine Übersicht über deren gesamtes Schaffen geben, zu sehen sein, und wir erhalten dadurch eine so wichtige und erwünschte Belehrung, daß meine allgemeinen, auf dem Katheder angestellten Betrachtungen nun gleichsam nur den Charakter deutender und erklärender Bemerkungen erhalten, und ich auf volles Verständniß für diese rechnen kann, da Ihnen allen die Möglichkeit gegeben wird, an den ausgestellten Gemälden nachzuprüfen, was ich hier über deutsche Kunst und über diese beiden Meister zu sagen habe. -
In meinem ersten Vortrage habe ich versucht, die allgemeinen Grundlagen für ästhetische Betrachtung zu gewinnen, nur in großen Zügen, soweit sie den Ausgangspunkt zu einer näheren Prüfung der Erscheinungen der Kunst im XIX. Jahrhundert und dann insbesondere Böcklins und Thomas bilden können und müssen. Die Frage, die uns heute beschäftigen soll, lautet: Was ist deutsch? Wenn ich die Kühnheit habe, im Hinblick auf die bildende Kunst einen Versuch ihrer Beantwortung zu wagen, so erkenne ich die Berechtigung hierzu vornehmlich darin, daß wir uns in allem Folgenden als Deutsche in der freien Anerkennung und Werthschätzung bedeutender Leistungen anderer Völker erweisen wollen. Denn deutsch sein heißt in dieser Hinsicht: ein offenes, suchendes und bewunderndes Auge haben für das, was andere Nationen hervorbringen. Dies ist von jeher etwas Großes bei uns gewesen. Chauvinismus bleibe für uns ein fremdes Wort und ein fremder Begriff. Fern aber bleibe uns auf der anderen Seite jene Schwäche des Deutschen, unter der sein besseres Wesen nur allzusehr und allzuoft gelitten, die blinde Verehrung alles Fremden, bloß weil es ein Fremdes, und die Geringschätzung des eigenen Großen und Bedeutenden. Ich hoffe, es wird sich, wenn wir den Überblick über die Kunst des XIX. Jahrhunderts gewinnen werden, herausstellen, daß wir uns in dieser unserer würdigen Art deutsch verhalten.
Was ist deutsch? Wohl muß es gewagt erscheinen, in einer kurzen Betrachtung eines so schwerwiegenden Problemes die Gedanken hierüber zusammenfassen zu wollen; und doch ist es erforderlich und wird es stündlich erforderlicher, daß wir uns dessen, was unser eigen ist und wodurch wir kulturschaffend geworden sind, bewußt werden, auf daß wir es, wenn wir es erkannt, mit der ganzen Leidenschaftlichkeit, deren gerade die deutsche Seele fähig sein kann, und so, wie es die tiefste Nothwendigkeit erheischt, pflegen mögen. Eine Definition des Deutschen ist oft versucht worden, ja, ich mochte sagen, im täglichen Sprechen haben sich gewisse Schlagworte ausgebildet, in denen ein Wesentliches kurz gekennzeichnet wird. Gewiß weisen sie auf etwas Richtiges hin, doch sind sie unbestimmt und daher nicht genügend für unsere Zwecke. So vor allem das auch im Hinblick auf die Kunst gerne angewandte Gemüth. Ich gestehe, daß ich eine gewisse Scheu davor habe, dieses Wort so ohne weiteres, als spezifisch charakteristisch für den Deutschen in den Mund zu nehmen; denn ich meine, in dem Augenblicke, da wir dieses thun, treten wir doch anderen Völkern zu nahe, als sei das Gemüth ein in Sonderheit uns verliehenes Privileg, das jenen fehle. Gott bewahre uns vor solcher Behauptung! Das unzweifelhaft Richtige an ihr will sorgfaltiger und genauer bestimmt sein.
Der einzig hierbei zum Ziele führende Weg wäre dieser, daß wir aus eigner innerer Erfahrung und aus den Thatsachen der Geschichte, sowohl der politischen als der geistigen Thätigkeit, einen Schluß auf das Verhältniß, in welchem die verschiedenen geistigen Vermögen im Deutschen zueinander stehen, zogen. Hierbei würde es sich wohl mit Bestimmtheit ergeben, daß beim Deutschen in besonders hohem Grade Gefühl, und, was damit zusammenhängt, Phantasie erregbar sind, daß er in allen Augenblicken, da er vom Zwang der täglichen Daseinsanforderungen, von der Berechnung der Lebensnothwendigkeiten sich frei macht, in das Gebiet der Gefühls- und Phantasieauffassung der Welt getrieben wird. So viel dürfen wir wohl, die Erscheinungen der Geschichte, Kultur und Kunst anderer neuerer Völker vergleichend, von dem Deutschen aussagen. Wie aber ist dieses Gefühlsleben beschaffen? Wie äußert es sich? Wie arbeitet und wirkt die Phantasie im Besonderen? Wie bedingen sich Gefühl und Phantasie?
Hier gilt es zunächst als die hauptsächlichste Aufgabe, sich über die Weltanschauung des Deutschen klar zu werden und zu versuchen, das ihr Eigenthümliche zu erkennen. Und zwar sind es Religion und Philosophie, die in erster Linie ins Auge gefaßt sein wollen, suchen wir Aufschluß über das Wesen eines Volkes. Es zeigt sich, daß Religion und Philosophie in Deutschland ganz das Gleiche verkünden.
Zum ersten Male bekennt der Deutsche in aller Deutlichkeit und Fülle seine Welt- und Gottesanschauung durch den Mund der Mystiker des XIV. Jahrhunderts, durch jene wunderbar tiefen Denker, die dem Geheimniß des Daseins und allem seelischen Erleben so weit nachgegangen sind, wie vor ihnen vielleicht nur die Weisen am Ganges, deren Einsichten uns in den Upanishads erhalten sind. Was diese Mystik zu überzeugendem Ausdruck bringt, betrifft das Verhältniß des Menschen zur Welt und zu Gott in einer philosophischen Begründung und Deutung des tiefgefaßten christlichen Bekenntnisses. Es ist die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Seele einerseits zu .dem Fühl- und Wahrnehmbaren rings um uns in dieser Welt und in diesem Leben, und andererseits zu dem Unsichtbaren, Geglaubten, Geahnten und Erhofften also des Verhältnisses zum Natürlichen und zum Göttlichen. Das Bedeutungsvolle ist nun eben dies: daß der Deutsche im mystischen Erleben dies Verhältniß zur Natur und zu Gott als ein so ganz innerliches, von dem Reichthum der Gefühle und Vorstellungen so wunderbar durchdrungenes erfaßt, daß dem schwerlich etwas anderes, in gleichem Grade unmittelbar Gewisses in der Geschichte der mittelalterlichen Religion, ja selbst der späteren an die Seite gesetzt werden kann. Das Bekenntniß lautet: Gott in mir! Gott zu ergründen und zu finden nur in den Abgründen eigenen seelischen Erfahrens! Also kein Außensein der Gottheit, sondern ein Innenwirken derselben. Und auf der anderen Seite das Verhältniß zur Natur, bestimmt von dem überschwänglich erhabenen Gefühle der Einheit des eigenen Wesens mit dem Wesen, das hinter allen Erscheinungen der Welt verborgen ist, die Einbeziehung des menschlichen Einzeldaseins in das ganze große Reich der ungezahlten, den Blicken sich darbietenden Erscheinungen. Erscheinungen, denn die Dinge sind nur die Offenbarungen eben eines Unsichtbaren, eines Innerlichen, eines Wesenhaften. Indem nun diese Erkenntniß des eigenen Wesens, der eigenen Seele in Allem, was uns die Natur vor Augen führt, erreicht wird, siehe! da vollzieht sich die große Gleichung. Ward in gewissen tiefsten Erfahrungen der Seele Gott erfaßt und erkannt, wird zugleich der einzelne Mensch in tiefsten Einklang gesetzt mit Allem, was da lebt und webt, blüht und vergeht in dieser Welt - so erweist sich die Gottheit als das zugleich in uns und in allen Anderen Wirkende. Als das Allverbindende, das in den Erscheinungen sich offenbart, das große Eine, Gemeinsame, Ganze, das, was wir als Abgrund alles Lebens in uns selber erfahren!
Sie sehen, wie eine solche Anschauung alles das in sich schließt, was künstlerisch bedeutungsvoll in dem Schaffen eines Volkes, von dem alles Äußere auf das Innere bezogen wird, sein muß. Und nun kommt es weiter dazu, daß, nachdem die Mystik dieses Ineinanderwirken von Seele, Gott und Natur festgestellt hat, ihre Erkenntniß in der großen Reformationsbewegung des XVI. Jahrhunderts zu einem Bekenntniß wird. Denn, wenn wir uns fragen, was ist denn das Wesentliche dieses Reformationsgedankens und dieser Reformationsthat? so kann die Antwort nicht kürzer und treffender formulirt werden, als wie sie durch Luther selbst formulirt ward, und wie wir sie immer wieder formuliren müssen: es ist die Rechtfertigung durch den Glauben, im Gegensatz zu der Werthschätzung der Werke als Beförderern der Rechtfertigung. Sehen wir genau hin, was das Wort Glaube aussagt. Indem wir dessen Bedeutung über das Dogmatische hinaus erweitern, finden wir denselben Kern, den wir in der Mystik gefunden. Denn unter Glauben haben wir eben das innerliche Leben und Erfahren in der Hingebung an das Unwahrnehmbare zu verstehen, das Erreichen, ich möchte sagen das Ergreifen Gottes in solch innerlicher Erfahrung, nur daß an Stelle dieser philosophischen Fassung des Gottinnewerdens die Reformation im Anschluß an die Paulinischen Briefe und im Hinblick auf die große Streitfrage, welche die Kirche bewegte, die dogmatische Fassung eben der Rechtfertigung durch den Glauben gesetzt hat.
Die dritte große Äußerung dieses deutschen Selbstbekenntnisses ist die Philosophie Kants. Nun handelt es sich nicht mehr um eine Verquickung mystisch-religiösen Gefühls mit spekulativem Denken, sondern um die Konsequenzen der Selbsterkenntniß der Vernunft. Mit unbegreiflicher Schärfe wird dargethan, was seit den Zeiten der Upanishads so unbedingt nicht mehr ausgesprochen worden war, und zwar nun, dank einem höchst entwickelten kritischen Vermögen, in einer sehr viel stärkeren und bestimmteren Form: die Welt der Erscheinungen ist unsere Vorstellung, also gleichsam unsere Schöpfung. Raum...