Schweitzer Fachinformationen
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Seine Hand sacht unter meinem Ellbogen.
Es gibt nicht viele Berührungen, die Mann und Frau in der Öffentlichkeit erlaubt sind. Den Arm um die Schulter des Mädchens legen kann der Bursche auf dem Heimweg vom Dorftanz. Verstohlen Hand in Hand gehen die blutjungen Verliebten auf stillen Parkwegen. Auf dem Sonntagsspaziergang hängt sich die Frau in den Arm ihres Gatten ein, und beide bewachen ihre Sprösslinge, die schicksalsergeben vor ihnen hertrotten.
Wir aber kamen nicht vom Dorftanz, wir waren nicht blutjung, und wenn er auch vor dem Gesetz mein Mann war, so waren wir doch kein Paar, noch würden wir jemals eines sein. Dies waren unsere letzten Minuten zusammen.
Ich glühte vor Verlangen, ihn zu umarmen.
Aber wir waren in der Öffentlichkeit. Nichts konnte öffentlicher sein als der Bahnhof zur Hauptbetriebszeit. Gepäckträger schoben hoch beladene Karren vor sich her, Kinder zerrten plärrend an den Händen ihrer nervösen Mütter. Ein altes Ehepaar zankte sich laut und routiniert, ein Verkäufer kurvte mit einem Gestell vorüber, auf dem Obst und Zeitungen lagen, und rief die neueste Schlagzeile aus. Wie kleine Riffe vor der Küste, die die Brandung teilen, standen Wartende inmitten ihrer Koffer, allein, zu zweit, ganze Großfamilien tauschten die letzten Grüße und Ermahnungen, und um sie herum floss der Strom derjenigen, die den Bahnsteig hinuntergingen auf der Suche nach dem richtigen Waggon.
Er hatte seine Hand unter meinen Ellbogen gelegt.
Ich ging neben ihm her, die Mauer der Reisenden öffnete sich vor uns. Der Hutschleier verdeckte mein Gesicht, und niemand konnte ahnen, wie sehr sie mich aufwühlte, diese zarte Berührung. Als würden nicht sein Handschuh und mein Jackenärmel dazwischen liegen, brannte meine Haut unter der Berührung seiner Finger, und ich wagte nicht, ihn anzusehen, aus Angst, ich könnte dann nicht mehr weitergehen, ich müsste mich auf der Stelle in seine Arme werfen und ihn anflehen, mich niemals zu verlassen. Ich wusste nicht, welche Kraft mich aufrecht hielt und einen Fuß vor den anderen setzen ließ, so unauffällig, als sei nichts zwischen uns als diese kleine konventionelle Berührung, mit der er mich durch den Menschenstrom steuerte, diese ritterliche Geste der Fürsorge.
Seine Finger hätten mich nicht so sorglos locker gehalten, wenn er gewusst hätte, was ich vorhatte. Während ich an seiner Seite ging, spähte ich nach einer Gelegenheit zur Flucht. Es musste eine geben. Es musste möglich sein, in dieser hektischen Betriebsamkeit untertauchen zu können.
Erst hatte ich gedacht, ich könnte mich in der Halle unauffällig entfernen, mich mit den zum Ausgang Strömenden hinausschwemmen lassen in die Stadt, unter deren Millionen Menschen ich unauffindbar wäre. Aber er hatte sich stets so dicht neben mir gehalten, dass schon ein Schritt zur Seite seine Aufmerksamkeit hätte erregen können. Nun hoffte ich, dass sich eine Möglichkeit auf dem Bahnsteig ergäbe. Und fürchtete sie zugleich.
Unser Zug war noch nicht eingefahren. Auf dem Nebengleis stand ein anderer bereit zur Abfahrt. Die Lokomotive ließ zischend Dampf aufsteigen, der Abfertigungsbeamte setzte schon die Trillerpfeife an den Mund, Bahnbeamte schlossen die Türen, eine laute Stimme befahl, zurückzutreten. Der Junge mit den Zeitungen und dem Obst tauchte vor uns auf, und ich sagte, dass ich gern Weintrauben hätte. Er winkte dem Jungen, wandte sich von mir ab, ich machte drei, vier Schritte nach links, stand vor dem Waggon, der Mann, der die Tür schließen wollte, half mir die Stufen hinauf, warf die Tür hinter mir zu, der Zug setzte sich in Bewegung und rollte langsam aus der Halle.
Ich blieb mit dem Rücken zum Bahnsteig stehen. Nur nicht hinausblicken, nicht sehen, wie er sich mit dem Obst von dem Jungen abwandte, mich nicht mehr an seiner Seite sah, sich suchend umschaute und dann begriff.
Der Zug hatte die Halle verlassen und beschleunigte sein Tempo.
Ich konnte nicht mehr zurück.
Ich zitterte.
Ich stand auf jenem schwankenden Boden, der zwei Waggons miteinander verband, aber nicht deshalb zitterte ich, sondern weil ich fror. In mir breitete sich Kälte aus, die aus der Endgültigkeit kam.
Eine Stimme hinter mir sagte etwas, das ich nicht verstand, laut und böse. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und drückte mich zur Seite.
Ich schrak auf, blickte mich um und begriff, dass ich den Weg versperrte. Hinter mir hatte sich eine Schlange von Leuten gebildet, mit Koffern und Taschen beladen, schwankend im Rhythmus des Zuges, die vorwärts wollten in den nächsten Waggon, auf der Suche nach einem Sitzplatz.
Ich schüttelte die Hand des Mannes von meiner Schulter ab, wandte mich um und öffnete die Tür zum nächsten Abteil.
Es war ein Wagen der dritten oder vierten Klasse. Auf Holzbänken saßen dicht gedrängt alte stoppelbärtige Männer, Priem kauend, und Frauen, die kein Alter hatten, weil sie schon mit Ende zwanzig, von der Arbeit verbraucht, jede Jugendlichkeit verloren hatten. Sie hielten Körbe auf dem Schoß umklammert oder wiegten Kinder an der Schulter. Der Geruch von feuchter Wolle, abgestandenem Atem und Schweiß stieg von ihnen auf und ließ keine Luft mehr zum Atmen. Als ich die Tür öffnete, starrten sie mit müden Augen herüber, in denen nur noch ein Gefühl stand, der Hass auf die Neuankömmlinge, die ihnen ihren Platz streitig machen würden.
Ich durchquerte schlingernd den Wagen, wich Körben aus und ausgestreckten Beinen, stolperte einmal über eine abgewetzte Ledertasche, deren Bügel sich öffnete und einen Blick freigab auf zerknüllte braune Tücher, die sich ineinander wanden wie Gedärm. Der Besitzer der Tasche begann zahnlos zu keifen, aber ich hatte schon die Tür erreicht und rettete mich auf den Perron. Der Wind fuhr mir unter den Schleier und sprühte mir Regen ins Gesicht. Ich holte Atem und zog die kalte klare Luft tief ein.
Die nächsten Waggons gehörten zur zweiten Klasse. Voll waren auch sie, aber das Publikum bürgerlicher, die Männer zuvorkommend, die Frauen höflich, man teilte mir mit, die erste Klasse sei noch drei Wagen entfernt, räumte mir Hindernisse aus dem Weg und öffnete mir die Türen.
Ich band den Schleier wieder unter dem Kinn fest und stieß die Tür zur ersten Klasse auf.
Im ersten Abteil saßen eine Mutter mit Kleinkind, das vom Brüllen ein angeschwollenes Gesicht hatte, und eine alte Frau, wohl die Großmutter, die sich mit der Mutter bemühte, das zornrote Kind zu beschwichtigen. Sie blickten nicht auf, als ich vorüberging. Im zweiten Abteil umarmte sich ein Pärchen, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mich zu bemerken. Der Schmerz fuhr wie ein Messerstich durch mich. Das dritte Abteil war vollständig belegt von kichernden Mädchen und einer streng blickenden Gouvernante. Als ich durch das Fenster in das vierte Abteil sah, blickte ich direkt in die Augen der Fürstin Milinskova.
Es war zu spät, mich abzuwenden.
Sie hatte mich erkannt, lächelte mir zu, winkte und machte eine knappe Kopfbewegung. Die Frau, die ihr gegenübersaß, sprang auf und öffnete die Tür.
Jelena Sergejewnas Wortschwall hüllte mich sofort ein, ebenso wie das schwere orientalische Parfüm, das sie reichlich benutzte und das die Luft des Abteils geschwängert hatte.
«Katja, Katja! Wie schön, Sie zu sehen! Zuletzt in Paris, nicht wahr? In der Oper. Sie sind nicht zu meinem Diner ins Maxim gekommen. Und Ihr Mann? Sagen Sie ihm, er soll sich zu uns gesellen, damit wir von alten Zeiten plaudern können. Nein, bleiben Sie hier! Sagen Sie Madame Depors, wo er sitzt, und sie wird ihn zu uns bitten. Setzen Sie sich, Katja, mein Engel!»
Ich sank auf das Polster neben ihr. Madame Depors, die Gesellschafterin der Fürstin, war stehen geblieben und sah mich erwartungsvoll an.
«Ich bin allein», sagte ich.
Von jetzt an und für immer allein.
Nie wieder seine Hand unter meinem Ellbogen spüren, nie wieder diesen Geruch von Leder, Sandelholzseife und Tabak einatmen, nie wieder diese Stimme hören, die ihre Wärme unter einem ironischen Tonfall verbirgt, nie wieder das Lächeln sehen in den grauen Augen, nie wieder das Klopfen seines Herzens unter meiner Wange fühlen, nie wieder dahinschmelzen, wenn seine Hände über meinen Rücken streichen, und nie wieder auflodern, wenn sein Mund mein Begehren weckt.
Allein.
Jelena Sergejewna wandte sich an ihre Gesellschafterin.
«Maria Petrowna, nehmen Sie die Tasche! Die kleine, blaue.»
Madame Depors streckte sich zum Gepäcknetz und holte das Verlangte herunter.
«Schenken Sie ein», fuhr die Fürstin fort.
Madame Depors öffnete die Tasche, holte einen Flakon heraus und schraubte den silbernen Becher ab, mit dem er verschlossen war, kaum größer als ein Fingerhut. Sie goss eine klare Flüssigkeit aus dem Flakon in den Becher und reichte ihn Jelena Sergejewna, die ihn mir hinhielt.
«Trinken Sie, Kindchen.»
Meine Hand zitterte so stark von dem Frost, der mich schüttelte, dass ich den Fingerhut nicht fassen konnte. Die Fürstin hielt ihn mir an die Lippen und sagte scharf: «Trink!»
Ich kannte diesen Ton. So hatte sie in Peking im Lazarett die Verwundeten angeherrscht, die ihre Medizin nicht nehmen wollten. Jahrhunderte, in denen die Bojaren Tausende von Seelen besessen hatten, die sich zitternd unter ihren Befehlen krümmten, hatten ein Selbstbewusstsein geschaffen, dem niemand widerstehen konnte. Gehorsam öffnete ich den Mund und schluckte die Flüssigkeit, die scharf in meiner Kehle brannte.
Ich hustete.
«Wodka», sagte die Fürstin, «es gibt nichts Besseres in einer Krise als Wodka.»
Mit einem flüchtigen Blick auf Madame Depors fuhr sie fort:
«Lassen Sie die Flasche hier, Maria Petrowna, und leisten Sie Sofia und...
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