Schweitzer Fachinformationen
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In nur einem Jahr verließ uns mein Vater zweimal. Das erste Mal, um seine Ehe zu beenden, und das zweite Mal, als er sich das Leben nahm. In diesem Jahr, 1989, flog meine Mutter nach Hongkong, um meinen Vater auf einem Friedhof nahe der Grenze zu China zur Ruhe zu betten. Danach kehrte sie verstört nach Vancouver zurück, wo ich allein zu Hause geblieben war. Ich war zehn Jahre alt.
Daran erinnere ich mich:
Mein Vater hat ein schönes, altersloses Gesicht; er ist ein freundlicher, aber melancholischer Mensch. Er trägt eine randlose Brille, und die Gläser scheinen wie der allerdünnste Vorhang vor ihm zu schweben. Seine dunkelbraunen Augen blicken vorsichtig und unsicher; er ist erst neununddreißig Jahre alt. Der Name meines Vaters war Jiang Kai, und er wurde in einem Dorf außerhalb von Changsha geboren. Später, als ich erfuhr, dass mein Vater in China ein gefeierter Pianist gewesen war, dachte ich daran, wie er mit den Fingern auf den Küchentisch getrommelt, auf Ablageflächen und die weichen Arme meiner Mutter, von den Schultern bis zu ihren Fingerspitzen geklopft, sie damit in den Wahnsinn und mich in Ausbrüche von Schadenfreude getrieben hatte. Er gab mir meinen chinesischen Namen, Jiang Li-ling, und meinen englischen, Marie Jiang. Als er starb, war ich noch ein Kind, und die wenigen Erinnerungen, die ich an ihn hatte, wie bruchstückhaft und ungenau auch immer, waren alles, was mir von ihm geblieben war. Ich habe sie nie verloren.
Zwischen zwanzig und dreißig, während der schwierigen Jahre nach dem Tod beider meiner Eltern, widmete ich mein Leben voll und ganz der Beobachtung von Zahlen, Hypothesen, Logik und Beweisen, den Werkzeugen, über die wir Mathematiker verfügen, nicht nur um die Welt zu interpretieren, sondern auch einfach um sie zu beschreiben. Seit zehn Jahren bin ich Professorin an der Simon Fraser University in Kanada. Zahlen erlauben mir, mich zwischen dem unvorstellbar Großen und dem unglaublich Kleinen hin und her zu bewegen, ein Leben in Distanz zu meinen Eltern und ihren nicht erfüllten Träumen zu führen, die, wie ich glaubte, auch meine eigenen waren.
Vor ein paar Jahren, 2010, kam ich in Vancouvers Chinatown an einem Geschäft vorbei, das DVDs verkaufte. Ich erinnere mich, dass es in Strömen regnete und die Gehwege menschenleer waren. Aus zwei riesigen Lautsprechern vor dem Laden drang klassische Musik. Ich kannte die Musik, Bachs Sonate Nr. 4 in c-Moll für Violine und Klavier, und wurde zu ihr hingezogen, als hätte mich jemand bei der Hand genommen. Der Kontrapunkt, der den Komponisten, die Musiker und sogar die Pausen zusammenhält, die Musik mit ihren sich auftürmenden Wogen von Trauer und freudiger Verzückung - an all das erinnerte ich mich.
Schwindlig lehnte ich mich an die Glasscheibe.
Und plötzlich saß ich mit meinem Vater im Auto. Ich hörte, wie die Reifen im Regen Wasser verspritzten und mein Vater summte. Er war so lebendig, ich liebte ihn so sehr, dass die Unfassbarkeit seines Selbstmords mich wieder überwältigte. Mein Vater war seit zwei Jahrzehnten tot, und nie zuvor hatte ich mich so klar an ihn erinnert. Ich war einunddreißig Jahre alt.
Ich betrat das Geschäft. Auf einem Flachbildschirm war der Pianist Glenn Gould zu sehen: Er und Yehudi Menuhin spielten die Bach-Sonate, die ich wiedererkannt hatte. Glenn Gould neigte sich tief über das Klavier, er trug einen dunklen Anzug, hörte musikalische Strukturen weit jenseits dessen, was die meisten von uns wahrnehmen können, und er war . mir so vertraut wie eine Sprache, eine Welt, die ich vergessen hatte.
1989 war das Leben für meine Mutter und mich zu einer Reihe notwendiger Routinen geworden: Arbeit und Schule, fernsehen, essen, schlafen. Mein Vater verließ uns zum ersten Mal, als in China Ereignisse von großer Tragweite stattfanden, Ereignisse, die meine Mutter zwanghaft auf CNN verfolgte. Ich fragte sie, wer diese Demonstranten waren, und sie sagte, Studenten und ganz normale Leute. Ich fragte, ob mein Vater dort war, und sie sagte: »Nein, das ist der Platz des Himmlischen Friedens in Peking.« Die Demonstrationen, bei denen über eine Million Chinesen auf die Straße gingen, hatten im April begonnen, als mein Vater noch bei uns lebte, und wurden fortgesetzt, nachdem er nach Hongkong verschwunden war. Am 4. Juni und in den darauffolgenden Tagen und Wochen nach dem Massaker weinte meine Mutter. Abend für Abend sah ich ihr dabei zu. Ba hatte sich 1978 aus China abgesetzt und durfte nicht mehr einreisen. Doch mein Unverständnis heftete sich an die Dinge, die ich sehen konnte: diese chaotischen, furchterregenden Bilder von Menschen und Panzern und meine Mutter vor dem Fernseher.
In diesem Sommer besuchte ich wie in einem Traum weiter meinen Kalligraphiekurs in dem nahen chinesischen Kulturzentrum, benutzte Pinsel und Tusche, um Zeile über Zeile chinesischer Gedichte abzuschreiben. Doch ich erkannte nur wenige Wörter wieder - groß, klein, Mädchen, Mond, Himmel (?,? ?,?,?). Mein Vater sprach Mandarin und meine Mutter Kantonesisch, aber ich konnte nur Englisch fließend. Anfänglich erschien mir das Rätsel der chinesischen Sprache wie ein Spiel, ein Vergnügen, doch meine Unfähigkeit, sie zu verstehen, begann mir bald Sorgen zu bereiten. Wieder und wieder schrieb ich Schriftzeichen, die ich nicht lesen konnte, ich malte sie größer und größer, bis die überschüssige Tusche das dünne Papier aufweichte und zerriss. Es war mir gleichgültig. Ich ging nicht mehr hin.
Im Oktober standen zwei Polizisten vor unserer Tür. Sie setzten meine Mutter davon in Kenntnis, dass Ba verstorben war und die Gerichtsmedizin in Hongkong die Akte führte. Sie sagten, Ba habe Selbstmord begangen. Von da an lebte Stille (qù) wie eine weitere Person in unserer Wohnung. Sie schlief im Schrank bei den Hemden, Hosen und Schuhen meines Vaters, sie bewachte seine Beethoven-, Prokofjew- und Schostakowitsch-Partituren, seine Hüte, seinen Sessel und seine persönliche Tasse. Stille (?) zog in unsere Gedanken und stürmte wie ein Ozean in meiner Mutter und mir. Vancouver war in diesem Winter noch grauer und nasser als üblich, als wäre der Regen ein dicker Pullover, den wir nicht ausziehen konnten. Ich schlief ein in der Gewissheit, dass Ba mich wie immer morgens wecken, dass seine Stimme mich behutsam aus dem Schlaf holen würde, bis diese Illusion den Verlust noch verschlimmerte und heftiger schmerzte als das, was tatsächlich passiert war.
Die Wochen krochen dahin, und 1989 verschwand in 1990. Ma und ich aßen jeden Abend auf dem Sofa, weil auf dem Esstisch kein Platz war. Die offiziellen Dokumente meines Vaters - diverse Bescheinigungen, Steuererklärungen - waren bereits geordnet, doch einiges war übrig geblieben. Als Ma die Wohnung gründlich durchforstete, tauchten andere Papiere auf, Partituren, eine Handvoll Briefe, die mein Vater geschrieben, aber nie abgeschickt hatte (»Sperling, ich weiß nicht, ob Dich dieser Brief erreichen wird, aber .«), und immer mehr Notizbücher. Während ich zusah, wie sich diese Dinge vermehrten, kam es mir manchmal so vor, als glaubte meine Mutter, Ba würde als ein Blatt Papier wiedergeboren. Oder vielleicht glaubte sie auch wie die alten Chinesen, dass auf Papier geschriebene Worte Talismane waren, die uns irgendwie vor Unglück schützten.
An den meisten Abenden saß Ma, noch in ihrer Bürokleidung, vor den Papieren.
Ich versuchte, ihr nicht auf die Nerven zu gehen. Ich blieb im angrenzenden Wohnzimmer und hörte hin und wieder nahezu geräuschloses Umblättern.
Das qù ihres Atems.
Prasselnder Regen, der an den Fenstern hinunterrann.
Die Zeit um uns stand still.
Immer wieder fuhr auf der Straße der Oberleitungsbus Nr. 29 vorbei.
Ich dachte mir Gespräche aus. Ich malte mir aus, dass Ba in der Unterwelt wiedergeboren war und mit einer anderen Währung ein neues Tagebuch kaufte, das Wechselgeld in die Tasche einer neuen Jacke steckte, einer leichtgewichtigen Jacke aus Federn oder vielleicht eines Kamelhaarmantels, eines Mantels, der fest genug sowohl für den Himmel als auch für die Unterwelt war.
In der Zwischenzeit lenkte meine Mutter sich ab, indem sie versuchte, die Familie meines Vaters zu finden, wo immer ihre Mitglieder auch waren, um ihnen mitzuteilen, dass ihr lange verlorener Sohn oder Bruder oder Onkel nicht mehr in dieser Welt lebte. Sie suchte nach Bas Adoptivvater, einem Mann, der einst in Shanghai gelebt hatte und als »der Professor« bekannt gewesen war. Er war das einzige Familienmitglied, das Ba je erwähnt hatte. Die Suche nach Informationen ging langsam und mühsam vonstatten; damals gab es keine E-Mail und kein Internet, und es war einfach für Ma, Briefe zu schicken, doch schwierig, ehrliche Antworten zu erhalten. Mein Vater hatte China vor langer Zeit verlassen, und falls der Professor noch am Leben war, wäre er ein sehr alter Mann.
Das Peking, das wir im Fernsehen sahen, die Leichenhallen und trauernden Familien, die Panzer an den Straßenkreuzungen, strotzend von Gewehren, war eine ganz andere Welt als das Peking, das mein Vater gekannt hatte. Und dennoch denke ich manchmal, der Unterschied war gar nicht so groß.
Es war ein paar Monate später, im März 1990, als mir meine Mutter das Buch der Aufzeichnungen zeigte. An diesem Abend saß Ma an ihrem gewohnten Platz am Esstisch und las. Das Notizbuch in ihrer Hand war lang und schmal, von den Proportionen einer Miniaturtür. Es war locker in walnussbraune Baumwolle gebunden.
Lange nachdem ich hätte ins Bett gehen sollen, bemerkte mich Ma.
»Was ist los mit dir?«, sagte sie....
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