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Richard Strauss in seinen Widersprüchen
Die Liste an Vorwürfen, die man Strauss bis heute macht, ist lang, und sie ärgert mich oft. Den einen ist er zu deutsch oder zu konservativ, den anderen zu oberflächlich, zu unpolitisch und überhaupt: musikalisch zu wenig auf der Höhe der Zeit und der Moderne. Ich möchte dieses Buch damit beginnen, mir einige dieser Klischees vorzuknöpfen (denn es sind Klischees). Was daran ist wahr, was eher den Widersprüchen geschuldet, in die Strauss geriet? Was stimmt vielleicht, und was geht eher aufs Konto seiner Gegner und Neider?
Ganz oben auf der Liste der Vorwürfe steht, Strauss habe das Projekt der Moderne verraten. Die These geht so: Mit «Salome» und «Elektra» sei Strauss auf dem richtigen Weg gewesen, raus aus der Tonalität und der musikalischen Tradition - mit dem «Rosenkavalier» aber biege er falsch ab, in Richtung Kulinarik, Gefälligkeit, Eingängigkeit, Publikumserfolg. Er entziehe sich den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Das ist grundfalsch. Wer ihn so interpretiert, dringt nicht zum Kern vor, der sieht nur den doppelten Boden, nicht den drei- oder vierfachen. Bei Strauss ist immer noch ein Boden darunter und noch einer. Das gilt vom «Rosenkavalier» bis «Capriccio», und wer das begreift, dem fährt seine Musik ins Rückenmark.
Strauss war ein Spieler, ein Einseifer, ein begnadeter Wirkungsästhetiker. Er hält die Fahne der Tradition hoch, schon aus Trotz und weil es kein anderer tut und er sich in der Rolle des letzten Mohikaners gefällt. Gleichzeitig ist die Tradition aber sein Material. Strauss' Material kennt keinen «Fortschritt» wie bei der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg, aber es kennt eine Melange verschiedener Stile, und so kreiert er letztlich seinen eigenen, neuen Stil. Die Tradition wird hinterfragt, ohne dass der Gestus des Hinterfragens nervt. Das ist das Avantgardistische an ihm.
Strauss ist Avantgarde, indem er sich gegen die Avantgarde stellt - insbesondere gegen deren Gleichsetzung von ästhetischen Positionen mit dem ethisch Richtigen oder Falschen. Der Strauss-Feind Adorno war darin ein Meister («Zweck und Mittel widersprechen einander», warf er Strauss vor). Verkennend, dass Musik für Strauss nun einmal keine Weltanschauung war.
Strauss und Schönberg werden gern als Antagonisten genannt: hier der Moderne und dort der Olle von gestern. Damit wäre nicht einmal Schönberg einverstanden gewesen, der sich seinerseits durchaus als Vollender der deutschen Tradition begriff. Auf «Brahms, the Progressive» (so der Titel von Schönbergs legendärem Aufsatz von 1933) müsste folgen: Strauss, the Progressive!
Dabei wollte Strauss das Rad keineswegs neu erfinden, wie man weiß. Ich liebe seine Äußerung zur «modernen Musik»: «Modern! Was heißt modern? Betonen Sie mal das Wort anders! Habt Einfälle wie Beethoven, kontrapunktiert wie Bach, instrumentiert wie Mozart und seid echte und wahre Kinder eurer Zeit, dann seid ihr modern!» Betonen Sie mal das Wort anders, also nicht modérn, sondern módern - das ist Strauss, wie er leibt und lebt.
Warum ist Strauss modern?
Strauss ist modern, weil er dem Bürgertum die Kunst gibt, die es haben will. Noch schöner, noch größer, noch virtuoser, noch brillanter, noch spannender als alles jemals Dagewesene! In einem guten Sinn ist das wilhelminisch.
Strauss ist modern, weil er sich bei den Modernen gut auskennt. Er hat seinen Strawinsky und seinen Schönberg studiert (und nicht nur diese beiden) und kann vor allem im Rhythmischen problemlos mithalten.
Strauss ist modern, weil er sich für eine dosierte Moderne entscheidet.
Strauss ist modern, weil seine Musik nur dann funktioniert, wenn sie exakt gespielt wird. Mozartisch exakt. Je mehr Noten man hört, desto besser ist es und desto klarer wird es. Strauss will weniger empfunden als verstanden werden.
Strauss ist modern, weil er fürs Publikum schreibt.
Strauss ist modern, weil er zwei Dinge erkennt: dass er sein Publikum mit Zwölftonmusik verlieren würde; und dass es mit den überdimensionalen Orchesterbesetzungen der Spätromantik so nicht weitergehen kann. Aus beidem zieht er die Konsequenzen.
Strauss ist modern, weil er an der Seite von Hugo von Hofmannsthal den Weg ins Soziale auf der Bühne nimmt. Wie sagt der Theaterdirektor La Roche in «Capriccio»? Das Publikum will «leibhaftige Menschen von Fleisch und Blut und nicht Phantome». Das ist Strauss' Erfahrung. Diese «Menschen von Fleisch und Blut» sprechen eine Sprache, die verstanden wird und die in die Gesellschaft hineinwirkt. In eine Gesellschaft, in der vieles obsolet geworden ist. Das romantische Ich hat ebenso ausgedient wie der Übermensch und Held. Das Soziale ist für Strauss nichts Inhaltliches, es geht ihm nicht um die Veränderung der Gesellschaft, sondern um den Austausch zwischen Bühne und Saal. Die Zuschauer sollen die Künstler verstehen, die Künstler sollen die Zuschauer verstehen. Das Soziale liegt in ihrer Begegnung.
Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, 1912
Strauss ist modern, weil er Rechenschaft über sein künstlerisches Tun ablegt. Mit Stücken wie «Ariadne auf Naxos» oder «Capriccio» reflektiert er das Komponieren von Opern und tut das auch in diesen Stücken. Innen und außen fallen oft in eins, Text und Kontext sind nicht voneinander zu unterscheiden.
Strauss ist modern, weil er subversiv ist. Subversiv durch die Schönheit und durch die Raffinesse seiner Musik. Die Avantgarde, die sich als solche versteht, ist nicht raffiniert, und der streckt er die Zunge heraus. Zu der entwickelt er ein Gegenmodell. Viele behaupten: Ja, ja, er flüchtet sich in den Elfenbeinturm, er beschwört entlegenste Weltfernen. Das stimmt nicht. Bei Strauss muss man immer hinter die Kulissen gucken.
Strauss ist modern, weil er so exzessiv gut instrumentiert. Andere konnten das auch, Mahler zum Beispiel oder Debussy oder manche Zeitgenossen, aber nicht so gut wie er. Strauss feiert das große Orchester, er treibt dessen Mittel an alle Grenzen und darüber hinaus. Das ist seine Art der Moderne. Dabei lösen sich Form und Inhalt voneinander ab. Plötzlich ist das Musikalische auch ohne das Inhaltlich-Gegenständliche zu genießen. Es ist toll instrumentiert, mit tollen Melodien, wie immer bei ihm. Die Frage, worum es geht, gerät darüber fast ins Hintertreffen. Vielleicht ist Strauss einer der ersten Künstler der Postmoderne?
An der Pauschalität der Strauss-Kritik ändern diese Überlegungen leider wenig. Aus der Kritik wurden irgendwann Klischees, und Klischees sind hartnäckig: Strauss, der rückwärtsgewandte, unmoderne, intolerante Gegner der «Atonalen», der zwar publikumswirksam schreiben kann, ästhetisch aber kaum der Rede wert ist. Ein Zuckerwasserfabrikant. Manches frühe Werk wird noch akzeptiert - bereits beim «Heldenleben» aber ist es aus. Helden will keiner mehr, dabei ist Strauss' Held ganz unheroisch. Und die «Alpensinfonie» ist zwar faszinierend, aber viel zu plakativ. So wird sein Ouvre durchdekliniert und nach und nach abklassifiziert. Die späten Opern kennt sowieso niemand, und dann komponiert er mitten im Zweiten Weltkrieg auch noch ein Stück wie «Capriccio»! Wie soll man diesen Komponisten mögen?
Es ist leicht, mit Strauss ein für alle Mal fertig zu sein. Zu leicht für meinen Geschmack.
Bei Strauss sollte man immer hinter die Kulissen der Machart blicken, wie gesagt. Nach den Hintergründen fragt trotzdem (oder deswegen?) kaum jemand, was merkwürdig ist. Bei fast allen Komponisten wird danach gefragt, und wie! Bei Wagner zum Beispiel: Da forscht man zur Theorie des Gesamtkunstwerks, zur Architektur des Festspielhauses und zur Oper der Zukunft. Oder bei Mahler: Wo hat er seinen Volkston her, was genau macht...
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