Schweitzer Fachinformationen
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Heute erscheint uns die Existenz von Verfassungen völlig selbstverständlich.130 Beinahe jeder moderne Staat hat eine geschriebene Verfassung, etwas anderes gilt mittlerweile nur noch für Großbritannien, Israel und Neuseeland - die Ursachen für den britischen »Sonderweg« werden wir im fünften Kapitel etwas näher beleuchten. Auch neu entstehende Staaten geben sich praktisch umgehend eine Verfassung und weisen dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens eine besondere nicht zuletzt symbolische Bedeutung zu. In Deutschland feiern wir deshalb den 23. Mai als »Verfassungstag« (wenngleich weiterhin noch nicht als offiziellen Feiertag).
Was wir heute im Kern unter einer Verfassung verstehen, ist allerdings nicht natürlich vorgegeben, sondern gewissermaßen eine »Erfindung« erst des späten (»revolutionären«) 18. Jahrhunderts. Wenn man von den einzelstaatlichen amerikanischen Verfassungen absieht, ist damit die amerikanische Verfassung aus dem Jahre 1787 bzw. 1791 die erste moderne Verfassung im hier verstandenen Sinne. Es folgten die französischen Verfassungen im Anschluss an die Französische Revolution von 1789, und fortan war die Idee des Verfassungsstaates, der das politische System begründet und verbindlich begrenzt aber auch das gesellschaftliche Leben rechtlich ordnet und einhegt, aus den politischen Debatten nicht mehr wegzudenken: »In den folgenden zwei Jahrhunderten steigt die Verfassung zum weltweit kopierten und vielfach variierten Muster auf, nach dem Gesellschaften ihre politische Ordnung als republikanisch, demokratisch, rechtsstaatlich, sozial etc. ausweisen sowie auf die Anerkennung von Grund- und Menschenrechten gründen, um Zutritt zu erhalten zum Kreis der in den Vereinten Nationen organisierten >zivilisierten Staaten<.«131 Es war gleichwohl ein langer und offener Kampf, bis sich diese Idee endgültig und praktisch weltweit durchsetzen konnte. Das gilt für Europa insgesamt und damit auch für Deutschland, wo die Zeit ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt war von einem Hin und Her zwischen Revolution und Restauration, zwischen liberalen Konzepten und den Machtansprüchen der alten Kräfte, zwischen Freiheit und Unterdrückung.
Etwas vereinfachend wird man sagen können: Beim Großteil der Revolutionen und politischen Auseinandersetzungen des langen 19. Jahrhunderts drehte es sich der Sache nach um die Begründung und Ausweitung, bisweilen auch um die Einschränkung von Verfassungen bzw. des Verfassungsstaates. Stets ging es um auf gesellschaftliche Emanzipationen folgende Partizipationsansprüche eines selbstbewusster werdenden Bürgertums, das sich mit dieser Forderung jedoch nicht überall und umgehend durchsetzen konnte und manche (auch gewalttätige) Rückschläge ertragen musste: »Ja, die europäische Geschichte seit 1789 lässt sich über hundert Jahre geradezu als Geschichte von Verfassungskämpfen schreiben.«132
Schauen wir uns vor diesem Hintergrund etwas genauer an, was die Verfassung im modernen Sinne im Grundsatz prägt. Dabei sei angemerkt: Die folgende Definition ist weit und will das Zentrale, das Neuartige fassen, ohne bereits an dieser Stelle zu anspruchsvolle Anforderungen zu stellen oder zu leugnen, dass der Verfassungsbegriff in den letzten gut 250 Jahren erheblichen Wandlungen unterlag und weiterhin unterliegt.133 Eine (zu) enge Definition würde aber auch den Blick zurück einengen und könnte verhindern, zusammenhängende Entwicklungen zu erkennen.134 Wer etwa die erste demokratische Verfassung der USA aus dem Jahre 1787 bzw. 1791, also eine spezifische Form des demokratischen Verfassungsstaats, zum einzig relevanten Maßstab erklärt, wird in Deutschland (allerdings auch im restlichen Europa) lange Zeit nicht fündig werden. Der demokratische Verfassungsstaat tritt hier formal erst mit der Weimarer Reichsverfassung des Jahres 1919 auf die politische Bühne und etabliert sich vollends sogar erst mit dem Grundgesetz aus dem Jahre 1949135 - allerdings in einer erneut besonderen Form und ohne damit die vielfältigen demokratischen Traditionen in den deutschen Staaten seit Anfang des 19. Jahrhunderts leugnen zu wollen.
Die folgenden Merkmale konzentrieren sich also auf das Wesentliche, den bei allen begrifflichen Wandlungen weithin bis heute konsentierten Verfassungskern,136 auch um eine Verfassungsgeschichte unter Einbeziehung Deutschlands sinnvoll erzählen zu können. Zwar erfüllt der spezifisch deutsche Konstitutionalismus, mit seiner noch lange währenden Perpetuierung des monarchischen Prinzips und des strengen Dualismus zwischen monarchischer Regierung und Parlament, auch die folgenden Kriterien noch lange nicht vollständig.137 Die Unterschiede sind aber nicht so gewaltig und lösen sich im Laufe der Zeit zunehmend auf, so dass die hier präsentierten Merkmale eine sinnvolle Folie für diese Entwicklung sein können.
Bevor wir uns den konkreten Merkmalen zuwenden, sei daran erinnert, dass mit den Vertragstheoretikern - also Personen wie Thomas Hobbes und John Locke, aber auch Jean-Jacques Rousseau - das theoretische Fundament für die moderne Verfassung bereits länger gelegt war. Trotz unterschiedlicher Zugänge im Einzelnen kamen sie allesamt zu dem Schluss, dass sich Herrschaft nur rechtfertigen lässt, wenn bereits ihre Einsetzung auf einem (fiktiven) Vertrag beruht, den die formal gleichen Bürger miteinander abschließen, und der damit auf deren Zustimmung fußt.138 Das war letztlich nichts weniger als ein direkter Angriff auf die Idee eines Gottesgnadentums und es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, dass diese Theorien bei kaum einem Herrscher auf unmittelbare Gegenliebe stießen: »Die zentrale Frage der politischen Theorie lautete fortan: Wie legitimiert sich Herrschaft angesichts des Naturrechts aller Menschen? Wenn politische Herrschaft auf Verträgen zwischen Menschen beruht, wie können Monarchen oder Fürsten dann ihre Position rechtfertigen?«139 Diese neuartigen Vorstellungen sollten in der Herrschaftspraxis daher zunächst keine Rolle spielen. Der Absolutismus blieb, wie er war, auch wenn er geistig bereits angekratzt erschien und sich in manchen Staaten, etwa in Österreich, zumindest und immerhin als aufgeklärt gerierte.140
Zwar war kein absolutistischer Herrscher umfassend absolut. Wie wir gesehen haben, galt das selbst für Ludwig XIV., den berühmten Sonnenkönig. Manche dieser Begrenzungen ging der Monarch freiwillig ein, manche ergaben sich aus faktischen Begebenheiten. Klar aber war: Es war der Monarch, der über Begrenzungen entschied, seine Herrschaft war zumindest theoretisch umfassend und beruhte auf göttlicher Ermächtigung. Um seine Herrschaft zu begründen bzw. zu legitimieren, bedurfte es keines besonderen Vertrages, nicht der Mitwirkung der Untertanen, ihrer Zustimmung oder sonstiger Verfahren. Ohnehin galten diese freiwilligen Einschränkungen meistens nur für einen begrenzten Personenkreis, den Adel, den Klerus, aber nicht umfassend - von Gleichheit der Bürger keine Spur (von Bürgerinnen war ohnehin keine Rede).
Ihre langfristige Wirkung sollten diese Vertragstheorien gleichwohl nicht verfehlen, denn das Bedürfnis, Herrschaft weltlich zu legitimieren, wuchs im Laufe der Zeit und mit der Verbreitung der neuen Ideen stetig an. Es bedurfte einer Rechtfertigung für das Bestehende und man begann, nach einer solchen zu suchen. Es ging den Vertragstheoretikern insofern nicht sogleich um die Begründung demokratischer Verhältnisse. Auch absolutistische Herrschaft ließ sich vielmehr weltlich rechtfertigen, wie Thomas Hobbes mit seinem Leviathan zeigte.141 Mit der neuen Weltlichkeit wurde aber die Herrschaftslegitimation umfassend dem rationalen Diskurs unterworfen. Es entwickelten sich unterschiedliche Konzepte, die in einem ...
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