Schweitzer Fachinformationen
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Dieser August war der heißeste, an den sich Nikolas erinnern konnte. Selbst um Mitternacht schwitzte er noch in seinem Hemd und dem dünnen Jackett. Der Hut hatte ihn tagsüber vor der Sonne geschützt, mittlerweile nervte es nur noch, wenn er ihn abnehmen musste, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Heute war ein beschissener Tag, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
Die Milice française war nicht gerade bekannt dafür, besonders gesprächsbereit zu sein, wenn man in ihre Operationen hineinpfuschen wollte. Besonders wenn ihnen das Wasser bis zum Hals stand, war der Finger am Abzug meist das einzige Gesprächsmittel, das sie besaßen.
›Polizisten, die bei Sichtkontakt schossen‹, wurden sie von ihren Landsleuten genannt. Eine schöne Bezeichnung für die Bluthunde der Sicherheitspolizei. Die französische Bevölkerung hatte vor der Milice beinahe mehr Angst als vor den regulären deutschen Truppen. Wenn sie vorfuhren mit ihren dunkelblauen Uniformen und den Barette, war sich keiner seines Lebens mehr sicher. Ein Gerücht reichte bereits und die Milice française rückte an. Einfache Folterknechte, eine paramilitärische Gruppe, die der Sicherheitspolizei unterstellt war, streng nach deutschem Vorbild natürlich. Dabei nahmen sie eine Art Kreuzzughaltung ein, als wären ihre Taten Gottes Wille.
Sein Blick fiel wieder mal auf die Werbeplakate. Sie versprachen hohen Sold und gute Ausbildung. Das Einzige, was sie dafür verlangten, war, die eigenen Landsleute zu jagen. Nikolas schnaubte abfällig. Er selbst war nicht besser als diese Hunde. Wenn es einer Gruppe gelang, mit der SS und ihren gefürchteten Blockdurchsuchungen gleichzuziehen, dann der Milice. Das ließ erahnen, mit welch fanatischer Brutalität sie vorging. Nikolas erinnerte sich nur zu gut an diese Methode. Dutzende Mannschaftswagen sperrten einen Bezirk ab, die Soldaten stürmten jede Wohnung, jeden Keller, jede Nische und trieben die Menschen zusammen wie bei einer Treibjagd. Verdächtige wurden mitgenommen und kamen nie wieder frei. Es war ein engmaschiges Netz, welches sich immer mehr zusammenzog. Einer ihrer Hauptleute war besonders in den Fokus der Résistance geraten: Pierre de Bale.
Er stand im Ruf, ein Liebling von Aimé-Joseph Darnand, dem Chef der Milice française, zu sein. Und diesen Status wollte er auf alle Fälle behalten. Nikolas ging durch den Kopf, was Claire über diesen ›Hundesohn‹, diese ›Schande für die Republik‹ gesagt hatte. Aus einer gut situierten Familie stammend, war de Bale aus Überzeugung in die Milice eingetreten. Brutalität und eiskaltes Kalkül zeichneten diesen Mann aus. Obwohl nicht groß gewachsen und sonst nicht mit vielen Talenten gesegnet, entwickelte er schnell die Fähigkeit, die Schmerzgrenzen seiner Gegner zu überschreiten. Im südlichen Paris hatte er angeblich einen Résistancekämpfer an seinen Hoden aufhängen lassen, um zu erfahren, wo das Versteck der übrigen Untergrundkämpfer war. Alles vor den Augen seiner Familie.
Durch de Bales schnellen Aufstieg in der 45.000-Mann-Miliz konnte er sich sogar der Aufmerksamkeit des Ministerpräsidenten Pierre Laval sicher sein. Dieser betrachtete die Milice française ohnehin als seine persönliche Armee, und das alles unter den wachsamen Augen Hitlers.
Nikolas schnippte die Zigarette auf den Asphalt. Wenn die Informationen stimmten, befand sich Hauptmann de Bale, ›der Kleine‹, wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nannten, in der alten Fabrik vor ihnen. Er ließ es sich anscheinend nicht nehmen, deren Bewohner persönlich zu verhören. Das Problem an der Sache war, dass de Bale gut bewacht wurde und den Hauptsitz der Milice nie ohne seine Schutztruppen verließ. Das war der Punkt, an dem Nikolas’ Einsatz gefragt war.
Noch einmal atmete er durch, dann setzte er den ersten, unsicheren Schritt in Richtung Fabrik. Der Plan war einfach, zu einfach für sein Verständnis. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte vermutet, dass Rohn und Claire ihn loswerden wollten.
Kopfschüttelnd überquerte er die Straße und klopfte an die eiserne Tür, die ins Innere führte. Wie konnte er derart dumm sein? Es wäre unkomplizierter, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Reichte es denn nicht, dass er de Bales Folterkünste vom Hörensagen kannte, musste er sich persönlich von eben diesen überzeugen?
Stimmengewirr drang an seine Ohren. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufgerissen wurde. Sofort blickte er in die Läufe dreier automatischer Waffen. Eines musste man der Sicherheitspolizei lassen: Wenn sie eine paramilitärische Truppe ihre Arbeit machen ließ, stattete sie die wenigstens gut aus.
Die Männer brüllten ihm Wörter auf Französisch entgegen. Er versuchte erst gar nicht, sie zu verstehen. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, setzte er eine gleichgültige Miene auf, griff langsam in die Innentasche seines Jacketts und holte seinen alten Ausweis hervor, der ihn als Kriminalkommissar des Deutschen Reichs auswies. Die Pupillen der Männer sausten vom Foto zu ihm und zurück. Nikolas rechnete jede Sekunde mit einem Schuss in die Schulter oder zumindest mit einer Festnahme.
Rohns Plan hatte nämlich einen gravierenden Haken. Auf der Beliebtheitsskala der SiPo, der Sicherheitspolizei, rangierte Nikolas auf einem der hinteren Plätze. Irgendwo zwischen Churchill und Rohn selbst, wie er nicht ohne Stolz zugeben musste. Wenn er die Vorgehensweise der Kriminalpolizei richtig im Kopf hatte, musste im letzten halben Jahr jede Dienststelle von hier bis Berlin mindestens zweimal am Tag über sein Fahndungsfoto gestolpert sein. Immerhin hatte er der Résistance Zugang zu Geheimakten verschafft, war übergelaufen und hatte mitgeholfen, ein Werk der IG Farben in die Luft zu sprengen. Doch Rohn baute wohl darauf, dass die SS und die Polizei hier in Paris andere Dinge zu tun hatten, als ihre französischen Bluthunde über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Kurzum – hoffentlich erkannten sie ihn nicht, ansonsten sah es schlecht für ihn aus.
Nikolas’ Zähne mahlten aufeinander; unendliche Sekunden verstrichen. Schließlich passierte, womit er nicht mehr gerechnet hatte.
Die Mitglieder der Milice ließen ihre Waffen sinken und streckten den rechten Arm zum Hitlergruß. Einige Herzschläge stand Nikolas wie angewurzelt vor ihnen, ehe er ebenfalls seine Arme erhob.
»Pierre …« Seine Stimme versagte beim ersten Anlauf. »Pierre de Bale.« Die Männer nickten, Nikolas räusperte sich und trat ein.
Von innen sah das Gebäude weit schlechter aus, als es von außen den Anschein machte. Es war ausgeschlachtet worden, wahrscheinlich sogar von den Deutschen. Jegliche Maschinen waren abmontiert worden, vermutlich hatten die Gefangenen Holz und alles Weitere, was man vielleicht gebrauchen konnte, mitgenommen; jedenfalls war die Halle fast leer, die er nun betrat. Etwas hier gefiel ihm gar nicht. Hatte Rohn nicht von mehreren Seiteneingängen und Toren geredet? Ein Kloß verfestigte sich in seinem Hals. Entweder erschlossen sich die Tore nicht seinem Blick oder sie waren zugemauert worden. Als er nach rechts blickte, stockte ihm der Atem.
Zwei Männer hingen an Ketten von der 20 Meter hohen Decke herab. Ihre Arme waren auf den Rücken gebunden und an den Händen hatte die Milice die Ketten befestigt. Zusätzlich waren ihre Füße mit Seilen am Boden fixiert. So hingen sie in einer grotesken Position, wenige Zentimeter über dem Boden. Dass ihre Gelenke noch nicht ausgekugelt worden waren, grenzte an ein Wunder. Als de Bale einen Befehl bellte, knirschten die Ketten und der Druck auf die Körper der Opfer erhöhte sich weiter. Die Seile gaben nicht nach und so wurden nur die Arme der Männer weiter nach oben gezogen. Ihre Gesichter waren blutüberströmt, wirkten wie Totenmasken. Die Schreie gingen durch Mark und Bein. De Bale schien seinen Spaß daran zu haben und plauderte entspannt. Erst jetzt begriff Nikolas, wem seine Worte galten. Zwei Frauen und drei Kinder waren auf Stühlen gefesselt, die Münder geknebelt, ihre Glieder fixiert. Ihre Laute drangen gedämpft an Nikolas’ Ohren. Doch als der Knebel bei einer der Frauen gelöst wurde, waren ihre flehenden Worte von Schmerz und Pein erfüllt, während sie ihren Geliebten nicht aus den Augen ließ.
In diesem Moment gaben Nikolas’ Beine nach. In der letzten Sekunde konnte er sich fangen und marschierte weiter auf den kleinen Hauptmann zu. Er zählte circa zwei Dutzend Mitglieder der Milice française. Allesamt schwer bewaffnet und mit einem gleichgültigen Ausdruck, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie einem ›Verhör‹ wie diesem beiwohnten. Ohne Frage – die SiPo hatte ihre Bluthunde gut erzogen.
Nikolas nahm all seinen Mut zusammen. Er hielt den Ausweis wie einen Schutzschild vor seine Brust. »Guten Abend zusammen«, eröffnete er und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. Das nächste Wort betonte er überdeutlich: »Sicherheitspolizei, Kriminalkommissar Brandenburg, Reichssicherheitshauptamt V!«
Endlich hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit de Bales. Der Hauptmann verschränkte die Arme hinter dem Rücken und kam langsam auf ihn zu. Ein langer Blick auf Nikolas’ Ausweis folgte.
»Guten Abend«, erwiderte er schließlich mit starkem Akzent, eine Pause folgte. Dieser Mann war Störungen nicht gewohnt, das sah Nikolas sofort. Zu seinem Glück sprach er Deutsch. Eine Fähigkeit, die sich viele in der Milice dienenden Franzosen angeeignet hatten. »Was kann ich für Sie tun, Commissaire?«
Nikolas atmete tief ein, griff in die Innentasche seines Jacketts und holte mehrere Papiere...
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