Schweitzer Fachinformationen
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Lene brauchte ein paar Sekunden, um die Worte des Maklers sacken zu lassen.
»Wie bitte?« Sie sah sich um und ihre Stimme glitt eine Nuance tiefer.
Die Wohnung war in die Jahre gekommen, eine kleine Kochnische schmiegte sich eng zwischen Bett und Balkontür, die Raufasertapete wies einen gelblichen Ton auf und in die Einzimmerwohnung drang kaum ein Sonnenstrahl an diesem wundervollen Spätsommertag.
»Frau Cornelsen, dies ist leider der übliche Marktpreis, hier in Westerland. Tausenddreihundert Euro Kaltmiete.« Der junge Mann setzte ein Lächeln auf. »Aber die RE6 ist von der Nordstraße fußläufig erreichbar und zum Polizeirevier an der Stephanstraße ist es auch nicht weit.«
Lene deutete mit dem Finger nach draußen. »Der Balkon ist nach Norden ausgerichtet, oder?« Sie sah auf die viel befahrene Straße und blickte sich erneut in der renovierungsbedürftigen Wohnung um.
»Ganz genau«, antwortete der Makler freudestrahlend. »Eher was für Leute, die keine Sonnenstrahlen mögen.«
Sollte das ein Scherz sein?
»Auch deshalb können wir das Objekt so günstig anbieten.«
Günstig?
Lene musste einen Lachkrampf unterdrücken und zeitgleich verfestigte sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Das würde sie ruinieren. Dafür war sie von Düsseldorf zurück in ihre alte Heimat gezogen? »Das sind ungefähr tausendsechshundert warm, nur für Miete und Nebenkosten.«
»Mhh«, der Makler richtete seine Krawatte, hielt einen Moment inne und blätterte in seinen Unterlagen. »Rechnen Sie lieber mit tausendachthundert Euro. Denken Sie nur an die explodierenden Energiepreise. Andererseits, als Polizeioberkommissarin verdienen Sie bestimmt nicht schlecht.«
Sie seufzte resignierend. »Kennen wir dieselben Besoldungsgruppen? Außerdem läuft gerade meine Scheidung, und der Idiot von einem Ex-Gatten macht es mir nicht gerade einfach.«
Bei dem Gedanken knirschte sie mit den Zähnen. Selbst nach einem Jahr saß der Stachel noch tief in ihrem Fleisch. Trotzdem wollte sie sich nicht einfach geschlagen geben. Immerhin hatte Lene extra Urlaub genommen, einen schicken Zweiteiler angezogen, die brünetten Haare frisieren lassen und sich sogar dazu durchgerungen, ein wenig Dekolleté zu zeigen. Jetzt war es an ihr, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
»Kann man da nichts machen?«
Es klopfte an der Tür.
»Leider, nein.« Der Makler schüttelte den Kopf, als wollte er seinen Worten noch ein wenig Nachdruck verleihen. »Wie erwähnt, es ist der normale Marktpreis, und der wird eher steigen als fallen. Sehen Sie, die Groundcorp AG erwirbt massenhaft Grundstücke und Immobilien auf den nordfriesischen Inseln. Die Firma bietet den Eigentümern Höchstpreise, damit sie Wohnung und Häuser verlassen. Dies verknappt den Markt zusätzlich und, wie Sie sicherlich wissen, der Markt regelt den Preis. Dies dürfte Ihnen bestimmt geläufig sein. Aber .« Er vollführte eine kurze Kunstpause, während seine Augenbrauen zuckten. ». wenn Ihr Vater sein Friesenhaus am Lister Strand verkaufen würde, wären sicherlich genügend liquide Mittel da, um dort auszuziehen. Wenn Sie möchten, kann ich den Kontakt zu einer Investmentfirma herstellen und .«
»Nein, danke«, würgte sie ihn ab. »Mein Vater würde sein Haus nie verkaufen . und das ist auch gut so«, fügte sie leise hinzu. Lene bereute es, dass sie ihm ihre halbe Lebensgeschichte erzählt hatte. Das war allerdings notwendig, um überhaupt im Auswahlverfahren zu landen. Das Ausfüllen der umfangreichen Formulare reichte nicht. Der Makler ließ nicht locker. »Aber dann könnten Sie endlich ausziehen.« Die aufkommende Hast des Mannes war verschwunden, die Stimmlage wurde sanft und beinahe bedächtig. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, mit zweiunddreißig Jahren wieder im Kinderzimmer zu wohnen.«
»Dreiunddreißig«, korrigierte Lene scharf. »Und mein altes Kinderzimmer habe ich nett hergerichtet.« Jedoch kam sie nicht umher, ihm schweren Herzens recht zu geben. Es war nicht einfach.
Es klopfte erneut, diesmal mit Nachdruck.
»Nun gut.« Der Mann schritt zur Tür. »Ich kann verstehen, wenn nicht genügend Finanzreserven zur Verfügung stehen. Die Zeiten sind hochkomplex, Sylt wird immer kostspieliger und ist definitiv nicht für jeden was.«
Lene musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Jetzt wurde sie schon von einem Mittzwanziger belehrt. Er breitete die Arme aus und verfiel in eine geschäftige Hektik. »Wenn die Groundcorp AG die Häuser und Wohnungen saniert, diese erschwinglicher sind oder Sie aufs Festland ziehen möchten, können Sie sich gerne noch einmal melden.« Der Mann öffnete die Tür und begrüßte ein älteres Paar.
Er Anzug, sie Kostüm - beide konnten sich bei der Begrüßung kaum einkriegen.
Lene war also nicht die Einzige, die einen Mummenschanz aufführte, um endlich eine Wohnung auf Sylt zu erhaschen. Es musste das Eldorado für Makler sein.
Sie nickte den Interessenten zu, die Herrschaften waren augenscheinlich froh, sie als Konkurrenz loszuwerden, und grüßten ebenso knapp zurück. Ein gemeines Geschäft war das.
Noch einmal drehte sich der junge Makler zu Lene und hielt ihr die Hand hin.
»Nun, denn.«
Die zwei Silben durchschnitten wie ein Hackebeil ihre Besichtigungszeit. Sie waren so endgültig, dass sie jetzt einfach verschwinden konnte.
»Vielen Dank für Ihre Zeit«, verabschiedete sich Lene, verstaute ihre Unterlagen, schritt aus der Wohnung und vernahm im Treppenhaus, wie der Makler zu seinem Eröffnungsmonolog ansetzte.
Natürlich gab es keinen Aufzug, warum auch, für schlappe tausenddreihundert Euro Kaltmiete? Schnellen Schrittes nahm sie die Treppen nach unten und stürzte aus der Haustür.
Es tat gut, den warmen Wind des Spätsommers und den salzigen Geruch der Seeluft zu spüren.
Manchmal war es nicht einfach, nach Hause zu kommen. Noch schwerer war es nur, die Heimat zu verlassen. Für einen Herzschlag dachte sie an die Nacht ihrer Abiturfeier zurück, als sie von einer nicht gekannten Sehnsucht gepackt wurde und beschloss, alle Zelte abzubrechen und die Insel zu verlassen. Sie wollte einfach nur weg, von ihrem Vater, von dem Getuschel, von den Gerüchten und die große, weite Welt sehen. Was wäre, wenn ihr neunzehnjähriges Ich sie heute sehen könnte? Hätte die junge Lene dieselbe Entscheidung getroffen, wenn sie gewusst hätte, dass sie nach vierzehn Jahren in Westerland stand und wieder zu ihrem Vater, in ihr altes Kinderzimmer schleichen musste? Zurück zu dem Ort, dem sie eigentlich für immer entfliehen wollte?
»Lehnchen?«
Die schwache Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Lene sah hoch, erblickte ein allzu bekanntes Gesicht. »Frau Sörensen?« Die alte Dame lehnte mit dem Ellenbogen auf dem Fensterrahmen eines der nebenstehenden Mehrfamilienhäuser. Neben ihr lag der dicke Mischa. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie daran zurückdachte, wie sie den alten Kater letztes Jahr aus der Nordsee gefischt hatte. »Was machen Sie hier? Warum sind Sie nicht in der Jugendherberge?«
»Ach, Kindchen.« Ihr Blick bekam einen sehnsuchtsvollen Einschlag, sie wirkte verloren und unendlich müde. »Hast du es nicht gehört? Möwenberg ist nicht mehr.«
»Wie bitte?« Diese Frage stellte sie heute wohl öfters.
»Alles wird teurer, Lehnchen. Am Ende konnten wir einfach die Kosten nicht mehr bezahlen und mussten verkaufen. Gereicht hat es für das hier.« Sie nickte in ihre Wohnung und streichelte Mischas Bauch. »So hab ich mir das Alter nicht vorgestellt. Nicht einmal das Meer sehe ich von hier.«
»Aber Sie wohnten schon immer in der Jugendherberge«, protestierte Lene gegen einen unsichtbaren Feind. »Sind sogar dort geboren.«
Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Was willste machen? Ist der Lauf der Dinge.«
Typisch nordischer Pragmatismus.
Kaum zu glauben. Sie selbst hatte als Kind in Möwenberg genächtigt und die Schönheit der Nordgrenze im Morgengrauen bewundert. Als Kinder hatten sie sich ausgemalt, wie es wohl damals gewesen war, als der Königshafen tatsächlich noch befahren wurde. Alles weg, weil die exorbitanten Preise die Sylter von der Insel trieben.
»Und du?«, wollte Frau Sörensen wissen und atmete tief, als ob sie versuchen wollte, die bösen Gedanken zu verdrängen. »Siehst schick aus. Hab dich fast nicht erkannt ohne den Friesennerz und die Gummistiefel.«
»Ja, als Kind habe ich nichts anderes getragen.« Lene zupfte an ihrem viel zu teurem Zweiteiler und bemerkte, dass die Stöckelschuhe gehörig zwickten. »Ich habe heute frei, wollte mir eine Wohnung angucken, damit ich mal bei Vater rauskomme.«
»Lass mich raten: zu teuer?«
Lene nickte, selbst Mischa miaute zustimmend. »Eine Schande, dass die das zulassen«, sagte sie leiser und deutete auf die Wahlplakate. »Was halten Sie von denen?«
»Den Politikern?« Die alte Dame lachte auf und nickte in Richtung des Mannes mit Mondgesicht und Halbkranz auf den altbackenen Abbildungen an den Straßenlaternen. »Bürgermeister Dericksen ist schon ewig im Amt. Mal lief es besser, mal schlechter, aber nie so schlimm wie jetzt.«
Die Frau auf dem Plakat neben ihm war nun an der Reihe. Sie wirkte weitaus adretter, eine elegante Frau in ihren Vierzigern, deren Augen vor Tatkraft nur so strotzten. »Vielleicht ist es mal Zeit für einen Wechsel. Diese Helena van Huisen ist beileibe keine Sylterin, macht aber einen ganz ordentlichen Eindruck.« Frau Sörensen...
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