Schweitzer Fachinformationen
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29.11.2046
Doktor Arthur Mallmann, Erfinder der Virtual Work und designierter Fraktionsgeschäftsführer der Erneuerungspartei für Demokratie (EPD) im deutschen Staatsparlament, hatte noch genau neun Minuten zu leben, als er es sich nach einem arbeitsreichen Tag in seinem Loungechair bequem machte. Er blickte durch die Glasfront seines Arbeitszimmers im 62. Stock des Ludwig-Erhard-Buildings auf seine Stadt. Doch heute hatte er keinen Sinn für das Lichtermeer, das sich unter dem Berliner Nachthimmel vor ihm ausbreitete. Es kotzte ihn an. Die Idee der Netzarbeit, wie er sie noch vor vier Jahren stolz präsentiert hatte, war nicht so umgesetzt worden, wie er es sich erhofft hatte. Von der idealen Welt, die er in seinen Reden versprochen hatte, war nicht viel zu sehen. Es war an der Zeit, Veränderungen herbeizuführen. Die würden sich noch wundern. Auch wenn sie ihn nun aufs Abstellgleis geschoben hatten. Aber er durfte nicht unvorsichtig werden. Seine Gegner würden vor nichts zurückschrecken, wenn sie erfuhren, was er vorhatte.
Er erhob sich und schritt vor der Glasfront auf und ab. Er musste noch die Antrittsrede für morgen durchgehen, bevor Pescz, sein Assistent, zur Besprechung kam. Über »die Zukunft der Arbeit« würde er reden, über »sein« Thema, als ehemaliger Arbeitsminister der europäischen Regierung. Eigentlich hatte er keine Lust mehr zum Üben, aber er musste sich morgen topfit präsentieren, die Erwartungen waren hochgesteckt.
Ein Exemplar der einzigen Berliner Zeitung, die noch auf gedruckte Ausgaben setzte, lag auf dem kleinen Eileen-Gray-Beistelltischchen. Die Schlagzeile: Der Vater der Virtual Work wird morgen zum Paten, sprang ihn an.
Er nahm die Zeitung auf und las noch einmal den Artikel. Die Journalisten hatten sich an die Abmachungen gehalten. Sie brachten genau die Phrasen, die auch er gerne verwendete.
»Was wäre Europa heute ohne Doktor Arthur Mallmann? Das Volk hätte kein Utopia der Arbeit, es hätte nicht einmal Arbeit! Und heute gibt es Virtual Work für jeden.«
Das war gut. »Utopia der Arbeit«. Zumindest theoretisch stimmte es ja auch, dachte er sich, deshalb könnte er diese Aussage auch in seiner Rede bringen, direkt vor den EPD-Werbeslogans zur Virtual Work, die er in jeder Rede brachte: »Verwirklichen Sie sich selbst«, »Holen Sie alles aus Ihren Begabungen heraus«, »Sie sind der König, Sie sind der Chef« und »Ohne Netz kein Frieden«.
Er ging zum Spiegel und betrachtete sich eingehend. Er war zufrieden mit sich. Groß, für einen 60-Jährigen recht sportlich und dennoch distinguiert. Nur seine Frisur war ein ständiger Stachel für sein Selbstbewusstsein.
Mit einem Kamm zog er einen sorgfältigen Scheitel und arrangierte die dünnen Strähnen wie einen Läufer über die Lichtung.
»Wünschen Sie noch etwas, mein Herr?«
Mallmann wirbelte herum. Er würde sich nie an seinen Servanten gewöhnen, dessen katzenhafte Bewegungen kaum hörbar waren.
»Würden Sie mir bitte etwas zu trinken bringen?«
Die nackte Kopfhaut des Servanten glitzerte, als er sich in Bewegung setzte, um Mallmann ein Glas frisch gepressten Orangensaft zu holen. Mallmann sah ihm nach und rief sich noch einmal die Einleitungssätze seiner Rede ins Gedächtnis. »Den Menschen ging es noch nie so gut wie heute. Das Netz bietet allen die Arbeit, die sie wollen, der Staat gibt allen Geld zum Leben. Wenn es je ein Paradies auf Erden gegeben hat, dann heute.«
Er musste nur aufpassen, dass er dies auch glaubwürdig vermittelte. Angewidert schüttelte er den Kopf. Er war froh, dass sich der Servant nicht zu oft in seiner Nähe aufhielt. Irgendwie traute er ihm nicht. Servanten waren zwar praktisch. Und weitaus günstiger als menschliche Angestellte. Doch auch wenn er in seinen öffentlichen Reden immer das Gegenteil behauptete, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, sie könnten als künstliche Intelligenzen dem Menschen seinen Platz auf Erden streitig machen.
Er zwang sich zu einem Lächeln, als der Servant ihm das Glas reichte. Am liebsten wäre er einen Schritt vor dieser großen, grazilen Gestalt mit den gefühlskalten Kryolitglasaugen zurückgetreten. Die Garantie der Humanoid-Industrie auf unbedingten Gehorsam beruhigte ihn nicht. Einmal hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie gewalttätig Servanten sein konnten. Ein Bettler hatte ihn angegriffen, und sein Security-Servant war eingeschritten.
Er schüttelte den Kopf, verdrängte die unangenehmen Bilder und wandte seine Gedanken wieder seiner Rede zu. Vielleicht sollte er noch etwas intellektueller wirken.
Er ging zurück zum Tischchen und nahm die Zeitung wieder in die Hand.
»Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor der Einführung der Virtual Work? 45 Prozent Arbeitslose in den Vereinigten Staaten von Europa. Ohne die IT-unterstützte Revolution der Humandienstleistungen hätte sich Europa nie aus der Rezession retten können.«
»Die Revolution der Humandienstleistungen, die größte Errungenschaft des 21. Jahrhunderts!« Exzellent. Im Grunde konnte er morgen auch einfach den Zeitungsartikel vortragen. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und kratzte sich am Kinn.
Wenn er ehrlich war, konnte er es kaum fassen, dass das gemeine Volk sich immer noch mit dieser Phrase abspeisen ließ. Mallmann wusste genau, dass die hohe Arbeitslosigkeit auch in den rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz begründet lag. Unternehmen konnten nun neben Lohnnebenkosten auch gleich die Lohnkosten sparen. Medizinische Technik ersetzte einen Teil des medizinischen Personals. Verwaltungsangestellte waren weitgehend überflüssig. Und am Bankschalter stand man ohnehin schon lange vor Displays.
Erneut schüttelte er den Kopf und nahm einen Schluck Orangensaft.
»Herr Doktor Mallmann, guten Abend.«
Mallmann ließ vor Schreck sein Glas fallen.
Sein Assistent zuckte schuldbewusst zusammen und las die Glasscherben auf.
»Sind Sie verrückt geworden, mich so zu erschrecken?«, zeterte Mallmann. »Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?«
»Die Tür stand offen, ich bin einfach eingetreten.«
Wie jedes Mal erregten die blecherne Stimme und das Leichengräbergesicht des Assistenten eine kaum zu unterdrückende Abscheu bei Mallmann, sodass er ganz vergaß, sich über die offene Tür zu wundern.
»Was gibt's?«
»Herr Doktor, wir wollten die Rede durchgehen. Sie dürfen den Dank für die Unterstützung der Wirtschaft nicht vergessen.«
Mallmann spürte, wie er innerlich verkrampfte. Sein Ärger verdrängte auch noch den letzten Rest des unheimlichen Gefühls, das ihn seit mehreren Tagen fast durchgehend begleitet hatte. Dank an die Wirtschaft! Wer hatte denn die Schriften für die Top-Managementseminare vor zehn Jahren verfasst? Er! Und von wem kamen die programmatischen Aussagen, wie »Eine unproblematische Steigerung des Wirtschaftswachstums ist nur bei gleichzeitiger finanzieller Stabilisierung der Politik möglich« und »Die Politik braucht Geld, um ihrem Auftrag der Sicherung kollektiver Güter in angemessenem Maße nachkommen zu können«? Von ihm!
Das waren noch echte Pionierzeiten gewesen, dachte sich Mallmann. Finanzielle Stabilisierung der Politik, keine Steuern zahlen! Aktiv Geld einsetzen und mitbestimmen können, wohin es fließt, wenn schon die Politiker nichts mehr auf die Reihe bekamen, außer sich gegenseitig zu diskreditieren. Für damalige Zeiten ein ungewöhnlicher Gedanke. Aber logisch. Keine Arbeit, kein Geld - kein Geld, Unruhen, gesellschaftliche Instabilität. Was brauchte es also, wenn schon keine Arbeit da war? Nahrung und Unterhaltung, Brot und Spiele statt Hunger und Unruhe - ein voller Magen besänftigt so manchen aggressiven Gedanken.
Er musste diesen Schnösel von Assistenten in seine Schranken weisen. »Mein Lieber, die Philosophie unserer Partei ist eine ökonomische«, dozierte er. »Die Wirtschaft kann nur wachsen, wenn es keine Störung der Ordnung gibt.«
Er ging zum Fenster und blickte auf den Alexanderplatz. »Arbeitslose stören die Ordnung. Und davon hatten wir noch vor vier Jahren mehr als genug. Deshalb Beschäftigung, deshalb Cyber Game, deshalb Virtual Work. Wer muss hier also wem danken?«
Mallmann streckte die Brust heraus. Er war stolz auf das Programm der EPD und vor allem auf seine eigenen Verdienste. Er ging zum Holovisionsgerät und schaltete es ein. Die vier Jahre alte Dokumentation seines heute schon legendären Interviews mit Faye Brown im Morgenmagazin auf CNN Europe erschien.
»Meine Damen und Herren, ab heute 8 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind in 14 Bundesstaaten Europas bis auf wenige Ausnahmen alle Arbeitslosen zur Virtual Work verpflichtet. Die restlichen Bundesstaaten werden in wenigen Wochen mit der Umsetzung des Arbeitsprogramms der Zentralregierung folgen.
Bis gestern hatten wir in Europa noch eine Arbeitslosenquote von 45 Prozent. Ab heute ist Arbeitslosigkeit Geschichte. Europa macht etwas wahr, wovon es schon lange träumt: den sozialen Unruhen und sozialer Ungleichheit ein Ende zu setzen. Das behauptet zumindest unsere Regierung.
Wir werden uns in der folgenden halben Stunde intensiv mit Virtual Work auseinandersetzen. Als Gast im Studio begrüßen wir Herrn Doktor Arthur Mallmann, den Arbeitsminister der europäischen Zentralregierung. Guten Morgen, Herr Doktor Mallmann, wird Virtual Work das halten, was Sie uns versprechen?«
»Guten Morgen, Frau Brown. Eigentlich mag ich den Begriff Netzarbeit lieber als Virtual Work. Wie auch immer. Auf...
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