Kapitel 1
Oh mein Gott, diese Schuhe bringen mich noch um, dachte ich sorgenvoll, während ich vor dem Altar stand und mein Gewicht so unauffällig wie möglich von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Dabei war es sofort Liebe auf den ersten Blick gewesen! Zumindest bei den weißen Riemchenpumps. Mein Bräutigam hatte wesentlich länger gebraucht, um mein Herz zu erobern.
Ich schielte zu Alexander, der mit feierlicher Miene und kerzengeradem Rücken neben mir stand. Während er wie die Ruhe selbst wirkte, war ich das reinste Nervenbündel, und meine höllisch schmerzenden Füße trugen auch nicht gerade zu meiner Entspannung bei. Probehalber wackelte ich mit den Zehen und versuchte, sie ein bisschen anzuziehen. Ja, so ging es besser.
Dann konzentrierte ich mich wieder auf Alexander, der in seinem schicken dunklen Anzug einfach wahnsinnig gut aussah. Souverän und weltmännisch. Mit seiner hohen Denkerstirn und seinen aristokratischen Gesichtszügen hätte er statt eines Dorfarztes ebenso gut ein international bedeutender Politiker oder ein weltberühmter Operntenor sein können.
Zum Glück würde er vor mir vom Pastor ins Kreuzverhör genommen werden. Obwohl man das natürlich wie beim Elfmeterschießen so oder so sehen konnte. War es besser vorzulegen oder nachzuziehen? Da »Ladies first« in der katholischen Kirche nicht besonders populär war, erledigte sich diese Frage jedoch von selbst.
»Alexander«, richtete Pastor Roth das Wort an meinen zukünftigen Ehemann, »ich frage dich: Bist du hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit deiner Braut Lizzie den Bund der Ehe zu schließen?«
Alexander lächelte mich liebevoll an. Dann antwortete er mit fester Stimme: »Ja.«
Bravo! Souverän versenkt.
Was auch passierte, Alexander ließ sich einfach nicht aus der Ruhe bringen. Das war eine der Eigenschaften, die nicht nur ich, sondern auch seine Patienten so an ihm liebten.
Nach einem kurzen Moment der Stille fuhr der Pastor fort: »Willst du deine Frau lieben und achten und .«
Plötzlich breitete sich Unruhe unter den Hochzeitsgästen aus. Ich wandte den Kopf leicht zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, dass ungefähr ein halbes Dutzend Männer aufgesprungen war und hastig auf den Ausgang zustrebte. Ein ohrenbetäubendes Quietschen deutete darauf hin, dass sie die Kirche gerade verließen. Man munkelte, dass Pastor Roth die Kirchentür absichtlich nicht ölen ließ, damit seine Schäfchen pünktlich zum Gottesdienst erschienen. Auch das vorzeitige Verlassen einer Messe blieb dank des lauten Quietschens nie unbemerkt. Da die Männer geradezu fluchtartig aus dem Gotteshaus gestürzt waren, hätte es in diesem Fall allerdings keines zusätzlichen akustischen Signals bedurft, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen.
Was war bloß los? Da mein Liebesleben in der Vergangenheit nicht besonders turbulent gewesen war, schied eine Protestbewegung abgelegter Liebhaber, die ihren Unmut über meine Trauung zum Ausdruck bringen wollten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus.
Viel Zeit, weiter über den merkwürdigen Vorfall nachzudenken, blieb mir jedoch nicht, denn Pastor Roth fuhr nach einem kurzen Hüsteln an Alexander gewandt fort: »Willst du deine Frau lieben und achten und ihr die Treue halten alle Tage ihres Lebens?«
»Ja.«
Oh Gott, gleich war ich an der Reihe! Hoffentlich würde ich außer einem heiseren Krächzen überhaupt einen Ton hervorbringen. Ich warf meiner Freundin Hannah, die als meine Trauzeugin neben mir stand, einen hilfesuchenden Blick zu. Hannahs aufmunterndes Lächeln, das mir schon oft in schwierigen Situationen geholfen hatte, schien zu sagen: Du schaffst das!
Jawohl, ich schaff das! Nein zu sagen war schließlich viel schwerer. Das wusste niemand besser als ich selbst. Galt es mal wieder, einen Wohltätigkeitsbasar zu organisieren, oder wurde ein Dummer gesucht, der bei der Klassenpflegschaftssitzung Protokoll führte, schaffte ich es auch nie, Nein zu sagen. Ein Ja war für mich dagegen ein Kinderspiel. Ich straffte die Schultern und sah Pastor Roth fest in die Augen.
»Lizzie, ich frage dich: Bist du hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit .«
Erneut ertönte das Quietschen der Kirchentür, dieses Mal jedoch gefolgt von lauten, polternden Schritten, die sich den Gang entlang rasch dem Altar näherten. Erschrocken fuhr ich herum. Hinter uns stand Kurti, der mit seiner grünen Latzhose und seinen dreckigen Gummistiefeln in der festlich geschmückten Kirche reichlich deplatziert wirkte. Er sah aus, als käme er geradewegs aus dem Kuhstall. Was vermutlich auch stimmte, denn Kurti und seine Viecher waren unzertrennlich. Kein Wunder, dass der ambitionierte Jungbauer bislang noch keine Frau gefunden hatte.
»Ein Unfall«, keuchte er und rang, die Hände in die Hüfte gestemmt, schwer atmend nach Luft. Offenbar war er gerannt. »Ein schlimmer Unfall. Schnell, wir brauchen einen Arzt!«
Obwohl ich genau wusste, was das zu bedeuten hatte, weigerte ich mich zu glauben, was hier gerade passierte.
Alexander beugte sich zu mir herab und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Entschuldigung, Schatz.« Dann drehte er sich um und hastete mit weit ausholenden Schritten den Gang hinunter. Kurz bevor er den Ausgang erreichte, drehte er sich noch einmal um. »Merken Sie sich die Stelle, Herr Pastor, es wird bestimmt nicht lange dauern.«
Kurz darauf quietschte es wieder, und einen Moment später fiel die Kirchentür mit einem lauten Knall hinter Alexander und Kurti ins Schloss.
Das war genau der Moment, in dem ich eigentlich hätte aufwachen müssen, um erleichtert festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Einer von vielen Albträumen, die ich in den vergangenen Wochen gehabt hatte. Es gab kaum ein Horrorszenario, das ich im Schlaf nicht durchgespielt hatte: Mal war es ein heimtückischer Magen-Darm-Virus gewesen, der mich ein paar Minuten vor Beginn des Traugottesdienstes außer Gefecht gesetzt hatte, ein anderes Mal stolperte ich auf meinen hohen Schuhen und fiel beim feierlichen Einzug in die Kirche der Länge nach hin. Sogar Tobias, der leibliche Vater meines sechsjährigen Sohns Finn, der mich noch vor der Geburt verlassen hatte, war in einem dieser Träume aufgetaucht und hatte versucht, die Hochzeit in letzter Sekunde zu verhindern. Der Albtraum, den ich jetzt live und in Farbe erlebte, war jedoch neu. Dass Alexander mich einfach vor dem Altar stehen lassen könnte, hatte wohl selbst die Vorstellungskraft meines Unterbewusstseins überstiegen.
Nachdem Pastor Roth seine Brille zurechtgerückt hatte, räusperte er sich vernehmlich. »Ich würde sagen, wir machen eine kurze Pause, besinnen uns und bitten den Herrgott, den Opfern und natürlich auch den Helfern des Unfalls beizustehen.« Er gab dem Organisten oben auf der Empore ein Zeichen.
Kurz darauf erfüllte leise, unaufdringliche Orgelmusik die Kirche, die der Hintergrundberieselung in einem Kaufhaus nicht unähnlich war.
»Kein Grund zur Sorge, Lizzie.« Pastor Roth, der mich bereits getauft hatte, tätschelte meine Hand, die vor Aufregung eiskalt war. »Ich hab jede Menge Zeit. Sobald Alexander wieder da ist, setzen wir die Trauung fort. So eine kleine Pause ist doch nicht weiter tragisch.«
»Haben Sie denn schon häufiger eine Trauung unterbrechen müssen, Herr Pastor Roth?«, fragte ich beinahe hoffnungsvoll.
Nicht, dass es die Sache besser gemacht hätte, aber irgendwie wäre es ganz tröstlich gewesen zu hören, dass ich nicht die Einzige war, der so etwas passierte.
»Ein Mal ist das tatsächlich schon vorgekommen. Die Braut verspürte plötzlich ein menschliches Bedürfnis.« Er zwinkerte mir hinter seinen kleinen runden Brillengläsern verschmitzt zu.
»Harndrang oder Freiheitsdrang?«, flachste mein Bruder Philipp, der den letzten Satz des Pastors wohl aufgeschnappt hatte und sich nun zu uns gesellte.
»Ach, Philipp, wie geht es dir? Schön, dass du dich auch mal wieder hierher verirrst.« Pastor Roth nutzte die seltene Gelegenheit, um den verlorenen Sohn im Schoße der Kirche willkommen zu heißen.
Während Philipp dem Pastor Rede und Antwort stand, nutzte ich die Chance, um mich zurückzuziehen und meinen unkomfortablen Steh- gegen einen Sitzplatz einzutauschen.
»Na, mein Großer, darf ich euch Gesellschaft leisten?«, fragte ich und ließ mich mit einem Seufzer der Erleichterung zwischen meinem Sohn und meiner Mutter in der ersten Reihe nieder.
»Du, Mama, Kurti hat ganz schön große Füße.« Finn zeigte auf die lehmigen Fußspuren, die Kurtis Gummistiefel auf dem Kirchenboden hinterlassen hatten.
»Stimmt, du hast recht.« Zärtlich strich ich über Finns blonden Haarschopf, der zur Feier des Tages heute ausnahmsweise mal halbwegs ordentlich gekämmt war.
»Oma meint, dass ich bestimmt auch mal so große Füße kriege«, erklärte mein Sohn mit ernster Miene und präsentierte stolz seine schwarzen Sneakers, die für einen fast Siebenjährigen in der Tat schon eine beachtliche Größe aufwiesen.
»Na, wenn Oma das meint, wird es wohl stimmen.« Über seinen Kopf hinweg wechselte ich mit meiner Mutter einen amüsierten Blick.
»Die Männer von der freiwilligen Feuerwehr haben alle eine Nachricht auf ihr Handy bekommen«, plapperte Finn scheinbar zusammenhanglos weiter.
Ach, daher der überstürzte Aufbruch! Ich war froh, dass das Gespräch eine neue Richtung nahm, denn das Thema Füße stand bei mir derzeit nicht besonders hoch im Kurs. Diese vermaledeiten Schuhe drückten so doll, dass ich meine Zehen kaum noch spürte.
Mit wichtiger Miene fuhr Finn fort: »Robert hat mir das mal erklärt, als ich ihn auf der...