Schweitzer Fachinformationen
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Der Aprilmorgen graut. Berlin gähnt sich wach. Ich liege am Boden meines Schlafzimmers auf einer Steppdecke und starre in den heller werdenden Raum. Ich habe die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan. Unterwegs war ich doch, im Traum, und aufgewacht bin ich mit Solvejgs Lied, das jetzt verklingt.
Auch ich war einmal ein Wanderer, ein Stromer wie Peer Gynt, auch ich war in Arkadien, wanderte in seinem gelbroten Staub wie durch eine irdische Marslandschaft, ein Vagabund der Windrose, ein durch muddy waters rollender Stein, Ahasver ohne Kornfeld, Steppenwolf ohne Steppe, unbewanderter Wanderer in den Feldern der Welt. Ich wanderte und schwärmte über die Erdkugel, hin und her, auf und ab, kreuz und quer, bis ich mich im Netz der Spinne Stadt verfing. Nun, dürftiger denn je, gehe ich wieder auf Wanderschaft, am Ende verschwinde ich in ihr, werde Wind, Staub.
Ein Wanderer bin ich wieder, ein Landstreicher, Stromer auf Wegen und Straßen. Ist die Welt nicht voller Schönheit und Schrecken? Locken nicht dort drüben, am Horizont, noch immer die alten jenseitigen Träume? Meine Sehnsucht nach einer anderen Heimat als der ererbten hat mich mehrmals die Welt umrunden lassen. Und alles im kleinen Europa, dort aber von Peer Gynts Norwegen bis Aphrodites Insel Kythera. Und war ich dann in einer anderen Heimat, nach der ich mich im Vertrauten verzehrt hatte, gab es immer wieder Augenblicke, in denen mir diese andere Heimat nicht mehr heimatlich genug war. Dann sehnte ich mich nach einer neuen, noch unbekannten, heimatlicheren Heimat, nach einem Ort vielleicht, an dem ich frohlockend verzweifelnd alles Heimatliche in mir selbst finden würde.
Wäre dort dann der Kreis geschlossen, die Weltumrundung beendet, ich endlich in mir selbst einheimisch geworden?
Jetzt ist es wieder so weit, jetzt muss ich wieder weg, zum Auswanderer und Einwanderer werden, nach dreißig rastlosen Jahren. Nein, von einem Daheim muss ich nicht weg, doch von einer Karawanserei namens Berlin.
Da verlasse ich nun die Stadt, in der ich dreißig Jahre lebte wie der Nomade oder der Zugvogel in seinem Winterquartier, wie ein abgebrannter Poet in seiner Bleibe, die ihm Unterschlupf und Atempause bot, breche auf im Morgengrauen, beim ersten Hahnenschrei, wenn es in Berlin noch Hahnenschreie gäbe, wie einer, von dem man in den Zeitungen liest, der beim Frühkaffee seine Taschen abtastet und zu seiner Frau sagt, »Ich gehe mal rasch ein paar Zigaretten holen«, und weggeht und nie wiederkehrt. Aber dieses Bild ist falsch, ich habe keine Frau mehr, tot ist sie und liegt begraben seit sechs Monaten.
Solvejg ist tot, meine Gefährtin seit dreißig Jahren, und mit ihr ist die ganze Stadt gestorben. Lautlos implodiert. Keinem wurde ein Haar gekrümmt, nur mir wurde das Herz zerrissen.
Es ist sechs Uhr morgens. Ich stehe auf, koche mir in der ausgeräumten Küche den letzten Kaffee, esse im Stehen ein Brötchen, während ich mit leerem Blick auf die räudige Platane vor dem Fenster starre. Die Wohnung ist geräumt bis auf ein paar noch im Auto zu verstauende Reste. Ich packe diese letzten Habseligkeiten in eine Reisetasche, falte die bunten Steppdecken zusammen, auf und in denen ich zu schlafen versuchte, lege sie mir über die linke Schulter, die große Reisetasche nehme ich in die rechte Hand. So gehe ich durch die leere Wohnung, sehe überall die hellen Vierecke, da hingen einmal Bilder, Solvejgs Bilder, die sind jetzt schon an einem anderen Ort. Ich stehe da wie ein alter türkischer Teppichhändler und schaue mich um, eine letzte Impression: sieh genau hin, Anders, hier hast du unermesslich lang gelebt, allein, aber allein mit Solvejg, die hundert Schritte weiter in der Straße wohnte, allein, aber allein mit dir.
Und hier bist du alt und schlohweiß geworden.
Seit einem halben Jahr ist Solvejg tot. Der Krebs hat sie getötet, nachdem sie zwei Jahre kämpfte, litt und hoffte. Operationen, Chemotherapie, die ihr das schöne kastanienrote lange Haar raubte und nichts nutzte, Bestrahlungen, Medikamente, alles vergeblich. Ach die Heilkunst, so wenig Kunst, so wenig Heil.
Ein halbes Jahr brauchte ich, um fortzukommen. Der erste und wohl auch der zweite Monat waren wie ein Wachkoma, ich saß und ging herum wie ein Albtraumwandler. Das Nötige, so viel Nötiges, erledigte ich wie ein Automat, ein Roboter. Erst die Beerdigung, die tausend Formalitäten, die den Tod zum Todesfall machen. An einem grauen regnerischen Novembertag stand ich an ihrem Grab. Allein der Satz »Ich stand an ihrem Grab« ist ungeheuerlich, nie hätte ich gedacht, ihn jemals schreiben, noch weniger, den Inhalt dieses Satzes erfüllen zu müssen. Ihr Begräbnis fand statt, ein Grüppchen Trauernder drängte sich um ein Urnengrab, so klein, dass es wie ein Hundegrab aussah. Der Pfarrer war da, ein noch junger, kräftiger Mann, er brauchte eine Weile, um die Lautstärke seiner Stimme auf die schüttere Trauergemeinde einzustellen, aber dann hielt er eine schlichte, schöne Rede. Als er die Worte sprach, »In der Hoffnung auf Gott, der Leben schafft und vollendet, nehmen wir Abschied von Solvejg. Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube. Ihr Leib vergeht, Gottes Treue bleibt«, erfasste mich ein solcher Jammer, dass ich mich am liebsten auf die Erde gelegt und für immer das Bewusstsein verloren hätte. Das ging aber nicht, die Erde war nass und kalt, das wäre nicht weiter schlimm gewesen. Bloß wäre es theatralisch gewesen und damit meinem Wesen fremd.
Es folgte die Räumung ihrer Wohnung. Was ich zu mir nehmen wollte und konnte, schaffte ich hinüber in meine kleine Bude, allein, ohne Hilfe, denn die hatte ich abgelehnt, wohl hundertmal bin ich schwer bepackt den Weg zwischen den beiden Wohnungen gegangen. Mein Kreuzweg, demütig und ins Leiden versenkt, ohne Anmaßung oder Blasphemie, jeder Mensch hat seinen Kreuzweg. Dann war meine Wohnung so vollgestopft, dass nichts mehr hineinging.
Die Räumung war schwer, an allem haftete ein Stück von der Geliebten. Ich musste mich verhärten gegen dieses Meteorfeuer der Erinnerung, ich wäre sonst verrückt geworden. Oh, es ist leicht verrückt zu werden, und das hier war schwer. Herr Yildiz half mir, ein sanfter, zartfühlender Mann, der mit seinem Familienbetrieb kam, räumte und renovierte. Verträumt stand er in Solvejgs Wohnung, betrachtete lange ihre Bilder, sagte kein Wort, schaute nur. Er hatte noch nie in der Wohnung einer Malerin gestanden, er selbst konnte ja nur Wände tapezieren und mit weißer Farbe bestreichen. Und dann kam er zu Anders, dem Schriftsteller, der jetzt Witwer geworden war. Sie rauchten eine Zigarette, sprachen wenig, auch einem Schriftsteller war Herr Yildiz außer in Büchern noch nie begegnet. Er sprach leise und behutsam, als fürchte er, eins seiner Worte könnte zu Boden fallen und mit einem Knall zerspringen. Am letzten Tag, als sie sich verabschiedeten, brachte er seinen zehnjährigen Sohn mit und sagte zu ihm: »Schau, das ist ein Dichter.« Und der Junge schaute mit großen dunklen Augen.
Als das getan und vorbei ist, sitze ich Tag und Nacht in meiner Wohnung, fast reglos, nach innen horchend. Was nun? Die Stadt, über Nacht in ein paradoxes Schwarzweiß getaucht, ist mir unversehens fremd und unerträglich geworden. Ich habe es mehr als einmal versucht, mein Stadtleben ohne Solvejg funktioniert nicht mehr. Die Vorstellung, bei meinen alltäglichen Besorgungen am Haus vorbeigehen zu müssen, in dem meine Gefährtin wohnte, flößt mir Grauen ein. Der Gedanke, einen unserer Lieblingsspaziergänge in und am Rand der Stadt nun allein gehen zu sollen, bereitet mir Seelenpein. Nichts in und an der Stadt, von unserem gemeinsamen Leben überall erfüllt und jetzt auch gezeichnet, lässt sich noch aufsuchen, alles ist wie verbrannt, und der Impuls, Berlin endlich zu verlassen, ist unabweisbar. Und da meine Verhältnisse nichts anderes erlauben, entschließe ich mich, nach vierzig Jahren Abwesenheit in meine alte Heimat zurückzukehren, in der noch einige von meiner Familie leben.
Es bleibt mir keine andere Wahl.
Aber ein Wunsch, ein Traum.
In den vier Jahrzehnten, in denen ich in Städten lebte, bin ich kein Stadtmensch geworden. Das Stadtleben ist mir immer fremd geblieben und gegen meine Natur erschienen. Schon mit dreißig Jahren wollte ich aufs Land zurück, freilich nicht in Deutschland und erst recht nicht in meine alte saarländische Heimat, deren Schatten sich in der Erinnerung noch längst nicht verklärt hatten. Auf meinen Reisen kreuz und quer durch Europa, in mehr oder weniger alten und klapprigen Autos, war ich über eine neue und, wie mir schien, von vergangenen Schatten unbelastete Heimat sozusagen gestolpert, ein kleines portugiesisches Dorf am äußersten Rand Europas. Aber alle im Lauf der Jahrzehnte unternommenen Ansiedlungsversuche scheiterten, und zwar an der Weigerung meiner Lebensgefährtinnen, sich mit mir in das ungewisse Abenteuer der Auswanderung zu stürzen. So blieb ich, wo ich war, in Berlin mein Brot als Schriftsteller und literarischer Übersetzer mehr schlecht als recht verdienend, immer wieder periodisch heimgesucht von brennender Sehnsucht nach der nun zwar gefundenen, mir aber nur für kleine Zeiträume offen stehenden neuen Heimat. Ich führte, kurzum, ein zwischen dem alltäglichen Da und dem ersehnten Dort hin und her vagabundierendes Leben.
Als ich mich endlich entschied, in meine alte Heimat zurückzukehren, war ich mir bewusst, dass in den vierzig Jahren meiner Abwesenheit nicht nur ich mich verändert hatte, sondern auch die Heimat....
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