Schweitzer Fachinformationen
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Die Heimkehr liegt hinter mir, der Besucherstrom ist zum Rinnsal geworden, die neuen Eindrücke und Erlebnisse überstürzen sich nicht mehr, die Erinnerungsströme verlaufen sich und mäandern in die unmittelbar erlebte Gegenwart. Ich kann nun nicht mehr nur in großen, Wochen und Monate umspannenden Kapitelbögen erzählen. Wie auf den Autobahnen und Schnellstraßen kommt man auf ihnen zwar schnell voran, übersieht aber hier wie dort die Vielfalt und Vitalität der Augenblicke. Mein Weg führt jetzt über Tages-, Wochen- und Jahreszeitenbrücken, die es mir erlauben, die Vielgestalt der erlebten Wirklichkeit in möglichst reichhaltigen und farbigen, aber auch düsteren und dunklen Facetten zu erfassen und darzustellen.
Oder mit einem anderen Bild: In Buch I und II gab es ein stürmisches Anbranden alter Erinnerungen und neuer Erfahrungen. Nun beginnt mit Buch III der stete Rhythmus von Ebbe und Flut. Die erste große Erinnerungsflut hat sich aus meiner Lebensbucht zurückgezogen, und ich lese die kleinen Goldkörnchen, Bernsteine, Muscheln, Seesterne und seltenen Steine auf, aber auch den Tang, die verwesenden Kadaver, die Teerbrocken und den ganzen von der Flut angeschwemmten Zivilisationsmüll, Unrat und Gift. All das sind Botschaften. Ich bin ein wenig wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel, von den Menschen getrennt und doch mit ihnen verbunden durch die Dinge, die sie hinterlassen, weggeworfen oder verloren haben.
Ich muss mich auf dieses fragmentarische Erzählen einlassen, denn es spiegelt meine erlebte Wirklichkeit. Ich stehe allein mit meinen Wörtern in meiner Lebensbucht und bin im Wechsel von Ebbe und Flut immer neuen Anbrandungen von Erinnerungs- und Erfahrungsfluten ausgesetzt. Die impressionistische Form eignet sich am besten, um die Prosa des mit gesteigerter Aufmerksamkeit erlebten Alltags einzufangen. Sie sammelt Kleines und Verstreutes auf und wirft ein Licht auf das, was das Erzählen in großen Kapitelbögen vernachlässigt oder übersieht. So mögen denn mit jedem Tag meines Strand- und Landgangs in meiner Lebensbucht neue Mosaikteilchen auftauchen, die am Ende die Gestalt meines All-Tags in der neuen und zugleich alten Heimat in einem Panoramabild innerer und äußerer Landschaften aufleuchten lassen.
Heute vor einem Jahr ist Solvejg gestorben. Ihr Grabstein mit Hölderlins Satz »Alles Getrennte findet sich wieder« leuchtet vor Einsamkeit und Schönheit. Ich habe die braune Erde mit einem Strauß roter und weißer Rosen geschmückt, ein Licht angezündet, an Solvejg gedacht und mit ihr gesprochen. Ich fühle, dass es ihr gut geht. Von hier oben ist die Aussicht auf Dorf und Tal noch schöner als von meiner Wohnung.
Ich schreibe jetzt am Abend nichts mehr, will nur sitzen, Wein trinken, sinnieren und mich in meine Erinnerungen versenken.
Unsere Liebe war Ebbe und Flut, Geben und Nehmen, im Guten wie im weniger Guten. Und eine unendliche Geschichte, eine Sage. An einem Abend in Berlin, er ist mir noch so nah, dass ich glaube, unsere Stimmen zu hören, saßen wir uns gegenüber in meiner Wohnung, zurück vom guten Essen und Trinken in Nikos> Taverna, als Solvejg zu mir sagte: »Erzähl mir noch einmal, wie du mich gefunden hast, ich höre es so gern.« Und ich erzählte ihr, weil auch ich es gern erzählte und hörte, keinen Umweg und keinen Abweg auslassend, dass mein Lebens- und Liebesweg eine einzige lange Suche nach ihr war.
Über dem Waldhügel scheint ein freundlicher Vollmond wohltuend in mein Zimmer.
Ein neuer Tag. Ich habe viel geschrieben und in einer spannenden Rilke-Biographie gelesen. Das ist mein Lebensrhythmus: Lesen und Schreiben wie Einatmen und Ausatmen.
Schwermütig macht mich der Gedanke, in Berlin alle Freunde zurückgelassen zu haben. Nur Solange ist räumlich näher gerückt, doch ich fürchte, unsere Freundschaft ist bedrohlich nah am Verlöschen. Unsere Wege scheinen sich getrennt zu haben.
Die Natur, die Landschaften im wechselnden Licht der Tages- und Jahreszeiten sollen meine neuen Freunde und Verbündeten werden. Habe ich in der Katze Iris und im Kastanienbaum Jussuf nicht zwei neue Freunde gefunden? Sind mir die Pferde vom Bauernhof, die ich fast täglich sehe, nicht auch schon so vertraut geworden, dass sie, sprächen sie die menschliche Sprache, mich wohl längst duzen und grüßen würden? Und ist es jetzt, ein Jahr nach Solvejgs Weggang und nachdem ich das Jahr nicht mehr hinter grauen Stadtmauern jahreszeitenlos vorbeiziehen sehen musste, sondern von einem Frühling, Sommer und Herbst reich beschenkt wurde, trotz aller Trauer nicht heller in meiner Seele geworden? Habe ich nicht einen nach allen Himmelsrichtungen und für alle Wetterlagen offenen Zufluchtsort in Elsterbach gefunden?
Wie aber wird der erste Winter werden?
Tagsüber war ich Pilze suchen. Im nahen Tannenwald fand ich weder Maronen noch Steinpilze. Nur Knollenblätterpilze. Vielleicht hätte ich etwas gefunden, wenn ich den Steilhang hochgekraxelt wäre, aber die feuchte und schwüle Luft im Wald war zum Ersticken. Einen einzigen kleinen Schopftintling sah ich am Wegrand, aber was soll ich mit einem einzigen Pilz anderes anfangen als ihn freundlich anzuschauen und stehen zu lassen?
Vor der Nepomuk-Kapelle erzählte mir ein alter Einheimischer, man habe sowohl hier in der Kapelle als auch an der Marienstatue auf dem Weg zur Elsterbachmühle die Spendenkasse aufgebrochen und das Geld geraubt. »Die schlagen dich heute für fünf Euro tot!«, sagte er.
Abends sah ich im TV einen türkischen Dokumentarfilm über Istanbul, in dem man Gérard de Nerval zitierte. Der Dichter Nerval ist einer meiner Herzensfreunde. Ich kenne ihn schon seit einer Ewigkeit, habe sogar einige seiner Gedichte übersetzt. Mein Lieblingsgedicht von ihm heißt »El Desdichado«, und so lautet, auf Französisch, die erste Strophe:
Je suis le Ténébreux, - le Veuf, - l'Inconsolé, Le Prince d'Aquitaine à la Tour abolie: Ma seule Étoile est morte, - et mon luth constellé Porte le Soleil noir de la Mélancolie.
Ich versuche eine Übersetzung:
Ich bin der Dunkle, - der Witwer, - ohne Trost, Der Prinz von Aquitanien mit zerstörtem Turm: Mein einziger Stern ist tot, - und meine Sternenlaute Trägt die schwarze Sonne der Melancholie.
Inzwischen fast ein Porträt von mir. Fast .
Als der Dichter die schwarze Sonne seiner Melancholie auf seiner Sternenlaute nicht mehr sehen konnte, ging er hin und erhängte sich an einer Pariser Straßenlaterne.
Die türkische Sprache hat einen schönen Klang. Und die türkische Musik ist zauberhaft. Man spürt, dass ein Reitervolk sie geschaffen hat. In Berlin lebte ich immer auch in einer türkischen, italienischen, spanischen, persischen, arabischen, indischen, chinesischen Großstadt. Das hat abgefärbt, und dieses Flair vermisse ich in der hiesigen ethnischen Monokultur. Hier gibt es ausländisch aussehende Menschen nur an Kochtöpfen, Pizzaöfen und Dönerspießen. Auch Nikos, Ewa, Taverna Kythera und meinen Döner-Imbiss um die Ecke vermisse ich. Hier ist der nächste Grieche in Sankt Wendel, der nächste Döner-Imbiss in Theley, und der macht abends früh zu und morgens spät auf. Auch gibt es dort nicht täglich mehrere gute und günstige, auch vegetarische Gerichte. Und überallhin muss man mit dem Auto rollen.
Genug. Keine Fados. Ich bin froh, dass ich hier bin. Und wie der Vagabund Rilke habe ich mir in zwei, drei Tagen ein Heim geschaffen.
Ein Nie-Heim.
Als ich aufwache, ist das ganze Dorf eingeschneit, begraben unter russischen Schneemassen. Auch die Hauptstraßen. Es herrscht grimmige Kälte. Gestern Nacht hatten wir achtzehn Grad unter Null. Nie und nirgends in meinem Leben sah ich so viel Schnee. Nein, einmal sah ich mehr, in den Abruzzen, wo eine Lawine ein ganzes Bergdorf unter sich begraben hatte. Gerade war ich draußen, um den Bürgersteig freizuschaufeln. Es war klirrend kalt trotz Sonne, und nach zehn Minuten hatte ich Eiszapfen im Bart. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sieht die tief verschneite Landschaft zauberhaft aus. Ich müsste noch mal Kind sein, dann könnte ich rodeln, Eislaufen oder Ski fahren. Alle motorisierten Krachmacher fahren mit Schalldämpfern aus Schnee oder trauen sich erst gar nicht auf die Straße.
Freund Jonas hat abends angerufen. Ihm geht es gut, und er freut sich über mein Buch, das jetzt im Handel ist, und über die Widmung. Auch seiner griechischen Tochter Rosalina gefällt es, die für eine Woche bei ihm zu Besuch ist. »Jedes Gespräch ist eine Übersetzung«, sagte sie zu ihm.
Eine kurze Jahresbilanz:
Bei der Weihnachtsfeier, die diesmal bei Maria und Georg im Kreis der Familie stattfand, fiel mir auf, dass Georg schusselig und fahrig geworden ist. Er lässt dauernd Sachen fallen und sieht im Gesicht abgezehrt aus. Auch seine Nase ist spitzer geworden. Das sind keine guten Zeichen.
Mit Hanna und Willi sind kaum noch Spaziergänge möglich, da Willi immer schlechter laufen kann. Dafür bin ich oft mit Maria und Georg unterwegs, die gern mit mir zusammen zu sein und das Gespräch zu genießen scheinen.
Jonas ist weiter bettelarm und dadurch wie gelähmt. Mir scheint, er kommt nicht mehr aus Berlin hinaus.
Solvejgs beste Freundin Martha geht immer noch an Krücken. An einen Besuch bei mir ist gar nicht zu denken.
Winfried hat mich bei...
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