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Jorges mahnende Worte gehörten zu den üblichen Sprüchen wie »Pass auf dich auf«, die jeder Reisende bei der Abfahrt zu hören bekommt: leere Worte, in denen der Neid mitschwingt, Vorsichtsmaßregeln, die dem muffigen Stubenhocker später das Recht geben, mit einem »Siehst du, ich hab's dir doch gesagt!« aufzutrumpfen.
»Me vale madre.« Jorge quittierte den groben mexikanischen Ausdruck, mit dem ich seine Mahnungen in den Wind schlug, mit einem lächelnden Seufzen und Kopfschütteln. Er hielt mich offenbar für sehr töricht.
Eigentlich hatte er recht damit, weil ich tatsächlich wenig Ahnung von dem ganzen Chaos hatte. Es sind eine Menge Menschen von den Kartellen umgebracht worden, das weiß man, aber die brutalen Fakten waren mir nicht im Detail bekannt. Vielleicht hatte ich sie auch bewusst ausgeklammert, um mich nicht beirren zu lassen. Was ich hier aufschreibe, entstand im Nachhinein. Die Statistik zum Beispiel besagt schlicht, dass seit September 2006, als die mexikanische Regierung dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt hatte, zweihunderttausend Menschen umgebracht wurden oder verschwunden sind. Was ich bei meinem Aufbruch im Frühjahr 2017 nicht wusste, ist, dass es allein in den ersten zehn Monaten jenes Jahres 17063 Mordfälle im Land gegeben hatte, wobei Ciudad Juárez im Durchschnitt einen Mord am Tag verzeichnete - bei meiner Abfahrt waren es also schon mehr als 300, weil die Drogenkartelle von Sinaloa und Juárez sich in der Stadt erbitterte Revierkämpfe lieferten. Zum Jahresende 2017 verzeichnete Mexiko 29168 Mordfälle, überwiegend standen sie im Zusammenhang mit den Kartellen.
In Reynosa, der mexikanischen Stadt gleich gegenüber von McAllen, Texas, wo ich in all meiner Unkenntnis stand, war Gewalt inzwischen Dauerzustand: Die Straßen waren unsicher, weil es immer wieder blutige Auseinandersetzungen gab - es wurde gemordet und gekidnappt - und weil immer wieder narcobloqueos errichtet wurden, Straßensperren aus gekaperten, manchmal in Brand gesteckten Autos als Barrikaden zum Schutz der narcos gegen die Belagerung durch Polizei oder Armee. »Reynosa amanece con narcobloqueos, persecuciones y balaceras« hatte die Online-Ausgabe des Proceso getitelt, als ich im Mai 2018 wieder einmal über die Grenze fuhr. Ich bekam aber nur noch mit schwerbewaffneter Polizei besetzte Kontrollposten und schwarzmaskierte Soldaten in dunklen, dick gepanzerten Lastwagen zu sehen.
Reynosa war zu einer der Städte mit der höchsten Kriminalitätsrate in Mexiko geworden, weil ein erfolgreicher Schlag der mexikanischen Armee, die zwei der Bosse des Golfkartells aufgespürt und getötet hatte, ein Machtvakuum ergeben hatte. Julian Loiza Salinas (»Comandante Toro«) wurde im April 2017 getötet, und der Mord an Humberto Loiza Méndez (»Betito«), der im Jahr darauf zusammen mit drei Kumpanen von Regierungstruppen umgebracht worden war, erzeugte noch mehr Chaos und Machtkämpfe.
In Reynosa kamen Los Zetas, die zuerst zur Verstärkung des bewaffneten Flügels des Golfkartells eingesetzt wurden, auf die Idee, ihr eigenes Kartell zu bilden; die Zetas galten als gnadenlos. Die meisten von ihnen waren Deserteure aus einer Spezialeinheit der mexikanischen Armee, hatten sich gegen ihre Offiziere erhoben und dann beschlossen, mit ihren Fertigkeiten im Töten als sicarios, als Auftragskiller, richtiges Geld zu machen. Die Kämpfe in den Straßen von Reynosa forderten zwischen Mai 2017 und Juni 2018 insgesamt vierhundert Todesopfer. Um diese Zeit überquerte ich mehrmals die Grenze und fuhr, von einem Schlagloch ins andere rumpelnd, die Gassen und Straßen von Reynosa entlang - in einem Auto mit auffällig beschrifteten Nummernschildern: Massachusetts - The Spirit of America.
Ich hatte mich von Reynosas Anblick täuschen lassen, von der malerischen Plaza, der hübschen Kirche und den freundlichen Ladenbesitzern, von den guten Restaurants und Taco-Buden, dem florierenden Markt, dem Treiben der Schulkinder in ihren Uniformen. Erst nachdem ich öfter dort gewesen war, begriff ich, was sich hinter der Fassade des heiteren mexicanismo abspielte: zwielichtige Gassen, kleine Dealer, sogenannte narcomenudeos in den Slums und Elendsquartieren am Stadtrand, dürre, kläffende Hunde - und Straßenbarrikaden: Panzerwagen voller grimmiger Soldaten mit Sturmgewehren, nervös wirkende, schwerbewaffnete Polizisten. Fast alle waren maskiert, um nicht erkannt, überfallen und von Killern ermordet zu werden.
In den mexikanischen Drogengangs spiegeln sich mexikanische Politik, mexikanische Bundesstaaten, mexikanische Geographie und mexikanische Lebensart: el mundo México. Ihre vielfältigen Erscheinungsformen und Schattierungen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Gewalt herrscht nicht nur im Kampf der Regierung gegen die Kartelle, sondern auch in den Fehden der Kartelle untereinander, die durch die ideologischen Brüche in ein und derselben Gang noch verkompliziert werden - ideologisch im gröbsten und brutalsten Sinn, wenn zum Beispiel die einen für Enthauptungen sind, die anderen lieber Gedärme herausschneiden, Gliedmaßen amputieren, Ermordete an Laternenpfählen aufhängen, Migranten versklaven oder nach neuer Praxis Leichen auf den Straßen der Städte verteilen, so geschehen, als im September 2011 Joaquín Guzmáns Schläger fünfunddreißig blutige Leichen - darunter zwölf Frauen - auf dem Boulevard Ávila Camacho in der Nähe einer Shoppingmall im gepflegten Teil der Hafenstadt Veracruz von einem Laster warfen, um ihren Gegnern klarzumachen, wer der Boss ist. Sobald die Kontrolle durch ein einziges Kartell fehlte, gab es nur mehr konkurrierende Gangs und mehr Gewalt als jemals vorher.
Verstümmelungen sind Botschaften. Eine abgeschnittene Zunge weist auf einen Schwätzer hin, und weil dedo im Slang auch für Ausspionieren stehen kann, fehlt den Leichen von Spionen ein Finger. Es geht noch weiter. Ein Forensiker führt in Ed Vulliamys Amexica, einem ausführlichen Buch über die Kartelle, aus: »Abgetrennte Arme bedeuten, dass einer etwas von seiner Lieferung für sich abgezweigt hat, abgetrennte Beine heißen, dass er das Kartell verlassen wollte.« Enthauptungen sind eine unzweideutige »Machtbehauptung, eine Warnung an alle, so etwa wie die öffentlichen Hinrichtungen früherer Zeiten«.
Und warum gibt es diesen blutigen Wettkampf der Kartelle? Weil eine erfolgreiche mexikanische Drogengang einen jährlichen Profit einstreichen kann, der in die Milliarden geht. Die besonders geschäftstüchtigen Kartelle stecken ihr Geld in ihre Geschäftsaustattung. Vor seiner zweiten Festnahme besaß Guzmán, wegen seiner kleinen Statur El Chapo, der Kurze, genannt, das größte Flugunternehmen in Mexiko und verfügte über mehr Flugzeuge als die nationale Fluggesellschaft Aeromexico. Zwischen 2006 und 2015 beschlagnahmten mexikanische Behörden 599 Fluggeräte - 586 Flugzeuge und 13 Hubschrauber - des Sinaloa-Kartells. Aeromexiko dagegen musste mit einer mickrigen Flotte von 127 Flugzeugen auskommen. El Chapos Flugreisen (er gab an, auch U-Boote zu besitzen) dienten hauptsächlich zur Belieferung des Marktes in den USA, des weltgrößten Abnehmers für illegale Drogen. Nach einem Bericht der RAND Corporation von 2014 wird hier jährlich über eine Milliarde US-Dollar für geschmuggeltes Kokain, Crack, Heroin, Marihuana und Metamphetamine ausgegeben.
Zwei ehemalige Verbündete aus der Zeta-Gruppe hatten sich abgespalten und rivalisierten inzwischen; die Vieja Escuela Zeta führte gegen die Cartel-del-Noreste-Fraktion einen Krieg um die Hauptrouten für Menschen- und Drogenschmuggel. Die Zetas hatten nicht nur besonders perfide Mordmethoden, sondern waren überregional aktiv: Das ist in Mexiko unüblich bei den Gangs, die normalerweise in ihren Heimatregionen oder nur auf speziellen Routen und plazas Ärger machen. Eine Plaza ist im Narco-Slang ein wertvoller Handelsplatz. Nuevo Laredo und Tijuana sind besonders begehrt, daher das Chaos dort. Die Zetas, hieß es, waren überall, selbst in Sinaloa, wo sie Krieg gegen das nach der Verhaftung von El Chapo führerlose und zersplitterte Sinaloa-Kartell führten. In Amexica zitiert Vulliamy einen Geschäftsmann aus McAllen: »Los Zetas und die Kartelle unterwandern gerade die USA. Sie sind schon in Houston, sie sind in New York City und in allen Indianerreservaten.«
Eine Gräueltat der Zetas, von der ich vorher nicht gewusst hatte, wurde im Jahr 2010 in der Kleinstadt San Fernando südlich von Reynosa verübt. Eine herumziehende Bande von Zetas hielt zwei Busse mit Migranten an - Männer, Frauen und Kinder aus Zentral- und Südamerika auf der Flucht vor der Gewalt in ihren Heimatländern. Die Zetas verlangten Geld. Die Migranten hatten keins. Die Zetas verlangten, dass die Migranten für sie als Killer, Agenten oder Drogenkuriere arbeiten sollten. Die Migranten weigerten sich. Also wurden sie in ein Gebäude im Dorf El Huizacal gebracht, man verband ihnen die Augen, fesselte sie an Armen und Beinen und tötete alle mit Kopfschüssen. Zweiundsiebzig von ihnen starben. Ein Mann aus Ecuador stellte sich tot, entkam und schlug Alarm.
Die blutigen Einzelheiten dieses Massakers wurden bei der...
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