KAPITEL 2
DIE AUTORINNEN DER SCHREIBWERKSTATT STELLEN SICH VOR
Jürgen Artman
"Schreiben ist Handwerk und die eigenen Abgründe", sagte Bodo Kirchhoff. In diesem Sinne ist Schreiben für mich immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schreiben hat eine reinigende Wirkung und den Vorteil, deutlich günstiger als eine Therapie zu sein.
Anti TikTok
Mein Sohn hat ein neues Hintergrundbild auf seinem Handy. Eine Influencerin, perfekte Wimpern, perfekte Lippen, perfektes Make-up. Er sagt, er hat sie mir schon einmal gezeigt, aber ich erkenne sie nicht wieder. Austauschbar. Ich verlasse das Café und laufe durch Frankfurt. Vor einem Wand-Graffiti bleibe ich stehen, zücke mein Handy, mache ein Bild, stecke das Handy in die Tasche. Auf dem Bild ist eine Mutter mit Kleinkind zu sehen. Darüber prangt ein Slogan.
There is something better than perfection", hallt es in mir nach, als ich weitergehe.
Frankfurt ist nicht perfekt, die Fassaden sehr gemischt. Lila Gasrohre, die in der Höhe über die Straßen gebaut sind, sind Farbtupfer, die es nicht besser machen.
Das hilflose Kleinkind ist nicht perfekt. Aber es hat einen fordernden Blick. Es fixiert die Mutter.
Diese Augen sagen, dass sie Erwartungen haben.
Zufrieden und erschöpft sieht die Mutter aus. Sie ist nicht perfekt.
Es fehlt jedes Styling, nicht für Instagram geeignet. Der nackte Körper ist nicht perfekt trainiert, die Stirn liegt in Falten, die Haare haben keinen Pep.
Zufrieden sieht sie aus.
Mutter und Kind tragen Gesichtsmasken, nach oben geschoben wie Hüte. Sie glänzen, goldbraun und perfekt. Die beiden haben sie nicht nötig.
Der Film auf der Hauswand läuft vor meinem geistigen Auge. Die Mutter atmet entspannt und gleichmäßig. Das Kind wird auf der Bauchdecke leicht angehoben und senkt sich wieder.
Die Einheit ist perfekt. TikTok.
Jogging-Rundkurs
"Warum zögerst du? Traust du mir nicht?", sagt gleich zu Beginn der Zebrastreifen. "Ich passe auf dich auf."
"Danke, doch, ich traue dir, aber ich sehe instinktiv nach links und rechts, wenn ich dich überquere. Das geht nicht gegen dich."
"Mich hast du nicht mal beachtet. Ich weiß, ich bin hässlich", weint die alte DB-Zentrale.
"Du bist nicht hässlich, du bist brutal. Das ist halt dein Architekturstil. Dafür kannst du nichts."
"Hey, wo willst du so schnell hin?", fragt die Galluswarte. "Bleib hier und trink einen mit. Ich bin das größte Wasserhäuschen weit und breit."
"Nach dem Joggen vielleicht", antworte ich im Vorbeiziehen nicht ganz ernst gemeint.
"Du schnaufst wie ein Walross", sagt die kleine Steigung vor der Eisenbahnbrücke und verdreht die Augen.
"Ja, ich weiß, du bist nicht lang. Aber ich mag halt keine Anstiege."
"Wir spenden dir Schatten", sagen die Bäume in Niederrad. Etwas zu viel Schatten für mich. Ich freue mich auf die Sonne.
"Störe mit deinem Gerenne unser Meeting nicht!", beschweren sich die Banktürme der Frankfurter Skyline. "Wir haben Wichtiges zu besprechen. Wir sind systemrelevant."
"Ich liebe Lucas, ich liebe Anne, ich liebe Tom, ich liebe Verena!", rufen hunderte von Vorhängeschlössern auf dem Eisernen Steg wild durcheinander.
Wie viele haben später verzweifelt im Main nach dem Schlüssel gesucht?
"Hallo Kleiner, sieh her und schau, wie hübsch ich bin", ruft mir die EZB stolz zu.
"Ja, du glänzt wie eine Diva auf der Cocktail-Party im PaillettenKleid. Aber ich muss weiter."
"Ach verschwinde, du schwitzt. Ich warte auf einen echten Gentleman."
"Morgen fahren wir los. Erst Main, dann Rhein, vielleicht darf ich aufs Meer. Ich darf bestimmt aufs Meer!" Ein angelegtes Schiff wippt vor Vorfreude auf den Wellen.
Ich will ihm die Illusion nicht nehmen und sage nichts.
"Boa, is mir schlecht, Alter. Ich habe echt zu viel getrunken und gegessen", klagt der mit leeren Weinflaschen und Pizza-Kartons vollgestopfte Mülleimer.
"Ja, du tust mir ein wenig leid. Hoffentlich räumt dich jemand auf."
"Na, wieder da? Siehst fit aus", lobt mich meine Haustüre. "Danke, Kumpel, dabei habe ich gar nichts anderes getan, als alte Freunde zu besuchen."
Marion Döring
Auf der Suche sein
meinen stolpernden Gedanken
versuchen zu folgen
Verbunden sein mit der Gruppe
vorlesen, mich zeigen
den anderen lauschen
Mich inspirieren lassen
von deren Worten
Berührendes
in meine Texte weben
Mich wertgeschätzt fühlen
mit all meinen Facetten
dem Leichten und Bunten
dem Abgründigen und Traurigen
mal zart und leise
oder wild, trotzig und laut
nach hinten blicken
in Erinnerungen schwelgen
sie vorüberziehen lassen
Gefühltes in Worte kleiden
auch das Schweigen zeigen
nach vorne gerichtet
mal stotternd und scheu
dann polternd und forsch
immer neugierig und unterwegs
spielend, wieder ein Kind sein
mit Worten jonglieren und
versuchen, den Verstand
auszutricksen, keine Zensur
sinnfreie Fragmente bergen
auf der Suche sein,
meinen stolpernden Gedanken
versuchen zu folgen
Im Boot
Gestern fast ertrunken
im Tränenmeer
Heute sitze ich
im Boot,
lasse mich treiben
Die Segel setzt
der Wind
flüstert zart
deinen Namen
Bäume am Uferrand
ein einzelnes Blatt
flattert tanzend
durch die Luft
Zeitlupentempo
Es fällt sanft
in den See,
zieht Kreise
Ich schaue ihm nach
wie es davon treibt
Mein Boot
trägt mich,
schaukelt hin und her
leiser Wellengang
Eine Träne rollt
zurück ins Auge
Irgendwas bleibt immer
morgen
vielleicht
Trotzdem
Genug dem Verstummten gelauscht,
endlich wieder anfangen,
das Rascheln der Blätter zu spüren,
die alten Träume zu bergen - auch, wenn sie zerklüftet und in
wirre Einzelteile zersplittert sind.
Ein krabbelnder Käfer
am Wegesrand - aus Schatten geborgener Glanz
durch die äußerste Enge hindurch
gekrochen - na und?
Schrittchen für Schrittchen,
stetig, der fernen Sternenspur folgend -
links ein lächelndes Du
gewürzt mit Hoffnung,
rechts eine Prise Trost
Und niemals vergessen,
die Visionen zu dividieren:
Nur so ergibt sich der tiefere Sinn:
Wachsam bleiben und Staunen.
Tu etwas Zaun an den Mond
Lass sein Geheimnis
für sich stehen
Nicht alles muss
ans Licht gebracht werden
ein kleiner Funken
leuchtet einfach so
Es gibt jetzt und hier
nichts weiter zu ergründen,
doch alles wächst
und gedeiht.
Wortspiel
Spiele mit Worten
wie einst als Kind
im Wald,
voller Sehnsucht
abgetrotztes Lächeln.
In diesen Zeilen
ein Zuhause finden,
flüchtig
scheu tastend
Wegweiser ins
kleine Glück.
Antonia Maritta
Warum schreibe ich?
Mit meinem Arbeitsalltag hat Schreiben wenig zu tun, dort beschäftige ich mich mehr mit Zahlen. Um so mehr genieße ich es, in der Schreibwerkstatt meinen Gedanken freien Lauf lassen zu können und mir meine Gefühle und Empfindungen von der Seele schreiben zu können.
In all der Hektik des Alltags sind das Schreiben und die Schreibwerkstatt für mich Kraftquellen, die meine Akkus wieder aufladen.
Dämmerung
Die Nacht ist vorbei, ein neuer Tag bricht an. Ich genieße diese Zeit der Ruhe und bereite mich auf den neuen Tag vor. Die Stadt ist noch nicht erwacht. Die Straßen sind noch leer. Ich fahre mit dem Auto Richtung Osten und erfreue mich an dem wunderschönen Sonnenaufgang. Der Himmel ist leicht wolkenverhangen. Die Sonne geht blutrot am Horizont auf. Nebelschwaden wabern über die Wiesen links und rechts der Autobahn. Ich freue mich. Das Licht ist wunderschön, und ich bin wieder versöhnt mit der Welt. Was mag der neue Tag mir wohl bringen? Sicherlich viel Arbeit, aber auch nette Gespräche mit den Kollegen. Wenn ich mit offenen Augen unterwegs bin, kann ich sehen, wie die Natur erwacht, wie jedes Jahr wieder. Im Moment geht es mir zu langsam.
Abenddämmerung, ein langer Tag liegt hinter mir. Der Tag war anstrengend, und ich bin müde. Ich habe meinen inneren Autopiloten eingeschaltet und lasse die Ereignisse des Tages nochmal Revue passieren. Was war gut, was war schlecht? Bin ich bedrückt und deprimiert? Auf der...