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Torie hielt es kaum noch auf ihrem Platz aus. Das langweilige Geplauder der Gäste quälte sie zunehmend, auch wenn sie ihr zu Ehren gekommen waren. Der Umstand, dass ganz in ihrer Nähe der berühmte Adolphe Kégresse zusammen mit ihrem Vater bei einem Gespräch saß, während sie gezwungen wurde, ihren Geburtstag mit lauter langweiligen Leuten zu verbringen, fand sie nicht nur ungerecht, sondern empörend. Warum durfte sie mit ihren vierzehn Jahren nicht selbst entscheiden, wie sie feiern wollte? Zumindest ihr Vater musste wissen, wie gern sie den Ingenieur kennengelernt hätte. Der Mann war eigens aus Russland nach Paris gereist, um ihn in technischen Dingen zu konsultieren. Ob es etwas mit den berühmten Halbkettenfahrzeugen zu tun hatte, die Kégresse für den Zaren entwickelt hatte? Torie hätte es zu gern erfahren. Ihr Vater war ein anerkannter Spezialist für das Herstellen komplizierter Getriebeteile. Kein anderer Fabrikant in Frankreich war in der Lage, so ausgefeilte Zahnräder und Mechanismen zu konstruieren wie ihr Papa.
Sie stocherte lustlos in ihrem Tortenstück herum, das sie kaum angerührt hatte. Auch ihr großer Bruder, der ihr von schräg gegenüber zuzwinkerte, vermochte sie nicht aufzumuntern. Dabei hatten sie beide einen höchst vergnüglichen Vormittag bei schönstem Juniwetter erlebt. Maurice und sie waren auf dem Rummelplatz gewesen und hatten die berühmte Wahrsagerin Madame Odessa besucht. Die ganze Stadt sprach von ihren treffenden Prophezeiungen. Torie war skeptisch gewesen. Sie glaubte grundsätzlich nur an Dinge, die sie selbst sah. Dann hatte sie das Ambiente in dem schummrigen Wohnwagen vor der leuchtenden Kristallkugel der geheimnisvollen Frau doch beeindruckt. Madame Odessa hatte sie mit einer neugierigen Wildkatze verglichen, die auf der Suche nach Abenteuern das Naheliegende übersah.
»Für jemanden, zu dessen Ehren ein Fest gegeben wird, könntest du ruhig ein wenig mehr Freude zeigen«, riss die Gattin des Bürgermeisters sie unsanft aus ihren Gedanken.
»Es kann eben nicht jeder so ein charmantes Lächeln wie Sie haben, Madame Rochette«, konterte Torie mit einem honigsüßen Lächeln.
Sie hoffte, dass ihr Gegenüber nun von einer weiteren Konversation genug haben würde, doch sie hatte sich getäuscht. Die Bürgermeistergattin gefiel sich leider darin, als Instanz in Benehmen aufzutreten. Ihre kleinen Augen huschten über Tories Äußeres und blieben schließlich missfallend auf ihren Händen haften, unter deren Nägeln sich noch Ölreste befanden. Trotz eifrigen Schrubbens war es ihr nicht gelungen, alle Spuren ihrer handwerklichen Tätigkeit zu beseitigen.
»Du kannst von Glück sagen, dass das Pensionat in Lausanne dich überhaupt genommen hat«, tadelte Madame Rochette kopfschüttelnd. »Dort wird man dir hoffentlich beibringen, wie man sich als Tochter aus besserem Hause zu verhalten hat. Dein Vater ist viel zu gutmütig! Dass er dir erlaubt, dich ständig in den Werkshallen herumzutreiben, ist meines Erachtens empörend. Das ist weiß Gott kein Zeitvertreib für eine junge Dame.«
Torie hätte ihr am liebsten heftig widersprochen. Für sie gab es nichts Schöneres, als sich in der Werkstatt die Hände schmutzig zu machen. Es lag ihr auf der Zunge, der Frau zu sagen, dass man dort wenigstens nützliche Dinge herstellte, anstatt seine Zeit mit unnötigen Benimmregeln und oberflächlicher Konversation zu vergeuden. Leider wusste sie nur allzu gut, was für einen Ärger sie sich damit einhandeln würde. Wenn sie doch nur einen Weg fände, um dieser schrecklichen Gesellschaft endlich zu entkommen. Bedauerlicherweise wachte ihre Maman mit Argusaugen darüber, dass sie bis zum Ende blieb. Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte die Mutter keinerlei Verständnis für ihr Interesse an technischen Dingen. Ihr hatte sie es auch zu verdanken, dass man sie demnächst in dieses grässliche Schweizer Internat abschob. In Tories Augen war der Aufenthalt dort vergeudete Zeit. Ihr einziger Wunsch war, einmal in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten.
Sie glaubte sicher zu sein, dass ihr Papa dies auch wünschte, zumal Maurice ihm schon früh zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht an der Fabrik interessiert war. Mittlerweile stand er kurz vor seinem Examen als Mediziner. Für Torie war es schon immer klar gewesen, dass sie einmal ihrem Vater in der Fabrik nachfolgen würde. Sie hatte von ihm die Passion und Begabung zum Lösen technischer Probleme geerbt. Für sie gab es nichts Schöneres, als mit Fernand Ruiz, dem Werkstattleiter, und ihrem Papa über kniffligen Problemen zu brüten. So war es schon immer gewesen. Und jetzt würde sie nichts lieber tun, als gemeinsam mit Fernands Sohn Julien eine Lehre als Mechanikerin zu absolvieren und später einmal Maschinenbau zu studieren. Bis vor Kurzem hatte sie ihren Papa immer für ihren Verbündeten gehalten, für einen modernen Mann, der sich nicht nur technischen Neuerungen, sondern auch gesellschaftlichen Dingen gegenüber aufgeschlossen zeigte. Doch jetzt hatte ihre Maman ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht und sie in diesem Internat angemeldet. Ihre Mutter war so schrecklich altmodisch und unterwarf sich ohne Wenn und Aber den gesellschaftlichen Konventionen. Wie ein Bollwerk stellte sie sich zwischen Tories Wünsche und Träume und war der Meinung, dass ein standesgemäßer Schwiegersohn in naher Zukunft viel wichtiger für sie sei als ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse.
»Ein junges Mädchen von Stand muss in erster Linie lernen, einen eigenen Haushalt zu führen, um ihrem Ehemann eine wichtige Stütze sein zu können«, nahm Madame Rochette prompt ihren Gedanken auf und schlug damit in dieselbe Kerbe wie ihre Maman. Die feisten Arme der Bürgermeistergattin ruhten selbstgefällig verschränkt auf ihrem ausladenden Busen. »Dem wirst du mir bestimmt beipflichten, mein Kind, nicht wahr?«
»Wenn Sie meinen, Madame.«
Torie gelang es nur noch mit Mühe, freundlich zu bleiben. Ihr Unmut wuchs mit jeder Belehrung. Warum sollte sie nicht selbst ihre Zukunft bestimmen? In den Augen ihrer Mutter und deren Freundinnen war sie nicht normal, weil sie sich als Mädchen für Naturwissenschaften und Mathematik interessierte. Dabei war sie mit Schraubenzieher und -schlüssel genauso geschickt wie Julien oder ein anderer Handwerker. Sie würde es wohl nie verstehen. Ihr einziger Trost in diesem Dilemma war, dass ihr Papa ihr einen Kompromiss vorgeschlagen hatte. Er hatte ihr versprochen, dass es ihr, sollte sie die Schulzeit in dem Pensionat erfolgreich abschließen, freistünde, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Damit hatte er sich sogar ihrer Maman gegenüber durchgesetzt.
»Möchtest du uns nicht eine deiner Sonaten auf dem Klavier vorspielen, Victoria?«
Für Torie war das Maß endgültig voll. Ihre Mutter wusste genau, wie ungern sie vor Publikum musizierte. Sie ließ ihr keine andere Wahl, als zu schwindeln.
»Tut mir leid, ich fürchte, ich habe mir den Magen verdorben«, brach es aus ihr heraus. »Ich habe vermutlich zu viel Torte gegessen.«
Demonstrativ griff sie nach einem Taschentuch und hielt es sich mit einem angedeuteten Würgen vor den Mund. Madame Rochette rückte prompt ein Stück vom Tisch ab. Doch ihre Maman ließ sich leider von dieser Einlage nicht so leicht beeindrucken.
»Trink einen Schluck Wasser. Das geht sicher gleich wieder vorüber«, bemerkte sie mit kritischem Blick.
Hatte sie die Ausrede etwa schon zu häufig benutzt? Widerwillig legte sie die Serviette beiseite und wollte sich schon in ihr Schicksal fügen, als ihr Bruder ihr unverhofft zur Seite sprang.
»Torie sieht wirklich entsetzlich blass aus«, bemerkte Maurice mit besorgter Miene. »Im Augenblick geht eine Magenverstimmung um.« Er erhob sich von seinem Platz und kam zu ihr, um ihren Puls zu fühlen. Dabei machte er ein besorgtes Gesicht. »Das gefällt mir ganz und gar nicht! Tories Puls flattert wie ein Schmetterling. Sie sollte sich unbedingt ausruhen.«
Selbstverständlich stellte niemand seine Diagnose infrage. Nur der Gesichtsausdruck ihrer Maman blieb skeptisch. »Ausgerechnet an deinem Geburtstag.«
»Sie wird schon wieder, Maman!« Maurice lächelte der Mutter beruhigend zu. »Wahrscheinlich ist es die Aufregung. Am besten begleite ich sie gleich in ihr Zimmer und sehe noch einmal genauer nach ihr.«
Élise Belrose entließ ihre Kinder mit einem ungnädigen Nicken. Torie gab sich alle Mühe, ihre Freude zu verbergen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Mit leidender Miene und schwer auf seinen Arm gestützt ließ sie sich von ihrem Bruder aus dem Salon führen. Kaum hatte Maurice die Tür hinter ihnen geschlossen, ließ sie von ihm ab und schüttete sich aus vor Lachen.
»Du hast mir das Leben gerettet«, keuchte sie und schüttelte ihre dunkelbraune Lockenpracht. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, versetzte sie ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. »Ohne dich hätte ich es noch stundenlang bei den alten Wachteln da unten aushalten müssen!« Ihre grünblauen Augen blitzten vor Vergnügen auf.
»Weiß der Himmel, weshalb ich mich dazu habe hinreißen lassen.« Maurice rümpfte die Nase, als hätte er es nur widerwillig getan. »Eigentlich fand ich Madame Rochettes Ratschläge äußerst nützlich.« Sein Grinsen strafte seine Worte Lügen. »Ich glaube, sie würde viel darum geben, wenn sie an deiner Stelle nach Lausanne gehen dürfte.«
»Da würde sie auch viel besser hinpassen als ich, die alte Schrapnelle! Noch ein paar Worte länger in ihrer Nähe, und ich wäre ihr an die Gurgel gesprungen.«
»Das wäre natürlich auch ein verlockender Anblick gewesen!«
Torie streckte die Zunge raus. »Gib zu, dass du selbst...
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