Schweitzer Fachinformationen
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»Ich lasse keinen anderen mehr an meine Füße. Ich hab Zucker, aber das Mädchen spürt den Schmerz, den ich nicht mehr fühle. Guck sie dir an, wie sie Nägel schneidet. Das ist wie beim Chirurgen.«
Sie waren zu sechst und saßen im Kreis um Samantha herum. Die kniete in der Küche auf einer Matte, und die Uhr tickte etwas zu laut an der Wand. Rechts von Samantha lag ausgebreitet ihr Pediküre-Set, links ein Stapel angewärmter Handtücher. Sie spürte die Blicke der Alten auf sich ruhen und das kühle Metall ihrer Nagelzange in der Rechten. Köln schwitzte seit Wochen, jeder Kanaldeckel war heiß wie eine Sonnenbank.
»Das Mädchen macht es am besten«, redete Rita weiter. Sie sprach absichtlich Hochdeutsch. Das klang würdiger, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
Samantha führte die Spitze der Zange ganz vorsichtig tiefer unter den gelblichen Nagel von Rita, es machte klick und noch einmal - klick! Rita wuchsen die Nägel immer fies wie Haken ins Fleisch. Hätte sie keinen Zucker gehabt, so hätte sie jetzt geheult, aber so redete und redete sie unbeeindruckt. Das Gebiss saß und jeder Satz ebenfalls. Samantha legte den abgeknipsten Nagel mit der Pinzette in das durchsichtige Kästchen zu den übrigen Nägeln von Rita. Denn der Aberglaube in dem Kölner Stadtbezirk Ehrenfeld besagt: Wenn einer deine Haare hat, dann hat er deine Seele. Wenn einer deine Zehennägel hat, dann hat er dein Herz.
Deshalb bestand Rita auf ihre Nägel. Klick!
»Sie können schon mal die Socken ausziehen«, sagte Samantha zu Hannes, einem der zwei Männer in der Runde. Während Samantha Ritas Füße einpuderte, vom Handtuch hob und ein neues angewärmtes Handtuch vor Hannes auf den gekachelten Boden legen wollte, fragte Rita: »Weshalb tust du das? Der Hannes und ich sind verheiratet, seit 56 Jahren. Der kann seine Füße ruhig auf mein Handtuch setzen. Wat glaubst du, worauf der schon gesessen hat. Das Handtuch hat jetzt genau meine Fußtemperatur. Das mag er, oder, Hannes?«
Samantha schaute fragend zu Hannes auf.
Der nickte. »Nä, neues Handtuch brauch ich nicht, wenn die Rita dat sacht, dann is dat so.«
Die anderen im Kreis amüsierten sich. Hannes und Rita waren schon immer verheiratet, und seit jeher war klar, wer das Sagen hatte. Hygiene fand niemand wichtig in der Runde. Auch während der Corona-Pandemie hatte ihre Runde stattgefunden, unveränderbar wie Ebbe und Flut. Die sechs Rentner fühlten sich befreit, keiner unter 70, alle auf Zucker, Hüfte, Rücken und lebensfroh. Samantha wandte sich Hannes' Füßen zu, sehr dünn, sehr adrig, sehr verhornt, aber sauber.
Es klingelte.
»Ich mach auf«, sagte Silvia und drückte sich das lilafarbene Haar zurecht. Sie trug es turmhoch, außerdem hatte sie zu rote Wangen und roch stets ein wenig nach Likör. Eckes Edelkirsch. Barfuß ging sie zur Tür und öffnete. Die Stimme, die nun vom Hausflur in die Wohnung drang, war dunkel und gefiel Samantha. Ruhig, rau und männlich. Und sie gehörte zu Marlon, der ein Pissoir in Händen hielt.
»Ich muss mal durch«, sagte er. »Bitte geh weg. Das Ding ist schwer.«
Silvia sagte: »Sofort«, und blieb trotzdem stehen. Marlon setzte das Pissoir auf der Fußmatte ab und wiederholte: »Das Ding ist schwer.«
»Aber nicht so schwerhörig wie dat Silvia!«, rief Rita aus der Küche.
Marlon schrie das Gesicht unter dem Haarturm an: »Du musst jetzt zurück in den Stuhlkreis, Tante Silvia! Hast du das verstanden? Ich muss ins Bad damit. Das ist Opas Pissoir!«
Manchmal hörte Silvia sehr gut, manchmal hörte Silvia sehr schlecht. Kein Arzt wusste, warum das so war. Es mochte am Edelkirsch liegen oder am Wetter. Ruhig rangierte Marlon mit beiden Händen Silvia ein wenig vorwärts Richtung Küche. »Setz dich bitte wieder zu den anderen.« Er selbst nahm das Pissoir und schleppte es ins Bad, setzte es vorsichtig auf den Fliesen auf, betrachtete noch einmal sein kantiges Gesicht im Spiegel des Badezimmerschränkchens, begutachtete sein zurückgekämmtes Haar und schlenderte entspannt zur Pediküre-Runde in die Küche.
Dort gab er seiner Oma Rita einen Kuss auf die Wange.
»Ja, und wie soll ich dat Ding an die Wand kriegen?«, fragte diese sogleich vorwurfsvoll.
»Gar nicht. Ist nur Deko, Oma. Opa muss weiter wie bisher ins Waschbecken pinkeln.«
»Sehr witzig«, sagte Rita ein wenig eingeschnappt. Austeilen konnte sie, aber einstecken war nicht ihr Ding. Alle anderen fanden die Bemerkung jedoch lustig. Peter betonte, dass der Junge klasse sei. Marlon ging zum Kühlschrank und holte sich den Käse heraus, Emmentaler in Plastik.
»Haben wir noch Brot?«
»Ja.« Auch Pumpernickel hatten Rita und Hannes geholt, extra für Marlon, ihren Lieblingsenkel. Schließlich hatten sie ihn erwartet. Der strich sich Erdbeermarmelade auf den Käse und biss hinein. Es gab nichts Besseres als selbstgemachte Erdbeermarmelade auf Pumpernickel mit Emmentaler.
Samantha schaute etwas verlegen von Hannes' Füßen zu Marlon auf. So musste sich Sir Edmund Hillary gefühlt haben, als er sich zur Besteigung des Mount Everest aufmachte. Marlon gefiel ihr, der gepflegte Bart, die blauen Augen, und egal, was er trug, es sah immer lässig aus. Aber sie machte sich keine großen Hoffnungen. Schließlich studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Universität, und sie machte Nägel.
»Hier spielt die Musik«, sagte Hannes, und dass ihm die Füße langsam kalt würden, wenn sie nur noch Augen für Marlon hätte. Samantha fühlte sich ertappt, sie lief unmerklich ein wenig rot unter ihrem Make-up an. Marlon lächelte nur freundlich, was sollte er auch sonst tun? Er mochte Samantha, die ihm inmitten all der Füße leid tat. Sie war nicht viel älter als er, aber die Jahre an der Nagelfront hatten sie schon gezeichnet.
»Mach jetzt, Mädchen«, drängte Rita weiter.
Samantha griff zur Zange und hätte Hannes am liebsten den kleinen Zeh abgeknipst. Aber das waren nur die wilden Fantasien einer Fußpflegerin.
Dann fragte Rita Marlon aus: »Wie ist es denn im Hafen? Viel zu tun?« Als Marlon antworten wollte, unterbrach sie ihn gleich wieder. »Ich weiß! Alles, was du beim Ikea kaufen kannst, alles, was du beim Baumarkt kriegst, alles, was es im Gartencenter gibt, einfach alles muss vorher durch den Hafen. Wusstet ihr das?« Sie schaute prüfend in die Runde.
Jeder wusste, dass im Niehler Hafen jede Menge Waren umgeschlagen wurden. Aber Blumen und Möbel? Doch alle taten jetzt sehr erstaunt. Denn wenn Rita ihre persönlichen Fakten auf den Tisch legte, wollte sie diese entsprechend gewertschätzt wissen. Sie schob eine weitere Frage an ihren Enkel nach: »Der Pissklo ist auch von da?«
»Ja«, sagte Marlon. »So ist es. Villeroy und Boch. Falls noch einer ein Pissoir braucht, muss er mir nur Bescheid geben. Onkel Albert hat noch Restposten.«
»Wie teuer?«, wollte Peter wissen. Aber seine Frau Gisela fuhr ihm sogleich über den Mund und sagte, dass es dafür keinen Platz mehr in ihrem Bad gäbe. Sie hätten schließlich schon den Whirlpool.
»Das Teil bläst dich weg wie 'n Tsunami, is super, ein Jungbrunnen«, sagte Peter, der unter Bluthochdruck litt, was sich in seinem ziegelroten Gesicht widerspiegelte. »Dank Albert nochmal dafür. Wie jeht et im överhoup?«
Marlon belegte sich eine weitere Scheibe Pumpernickel und sagte: »Wie immer. Onkel Albert tut, was er kann.«
»Bist ein guter Junge«, erklärte Rita. »Andere saugen ihre Eltern bis auf den letzten Cent aus fürs Studium. Du hilfst einfach deinem Großonkel.« Dabei zog sie Marlon am T-Shirt, der bückte sich, ihre Hand berührte seinen Nacken, und sie verpasste ihm einen Kuss auf die Wange. Es klang, als habe sie gerade einen Kinderpfeil mit Gummisaugnapf von der Scheibe abgezogen.
Was sie nicht sagte, war, dass Marlon seit seinem achten Lebensjahr keine Eltern mehr hatte, sie waren beide auf der A3 gestorben. März, Blitzeis - ab diesem Zeitpunkt war sein Großonkel Albert sein Vater gewesen, seine Großtante Silke seine Mutter. Und das, obwohl Albert und Silke selbst drei Kinder hatten, eine Tochter und zwei Söhne: Saskia, Sandro und David.
Nach der Mittleren Reife war Marlon nach Köln gezogen, eine preiswerte Wohnung hatte er über Hannes und Rita in der Landmannstraße in Neuehrenfeld bekommen und nach einem erfolglosen Jahr Schreinerlehre sein Abitur nachgemacht. Schreiner war nichts für ihn, obwohl die Schreinerei Wohlfahrt direkt ums Eck lag und er es also nicht weit bis zur Arbeit gehabt hatte. Und nun stand er in Ritas Küche, wo es nach Füßen und Erdbeermarmelade roch.
Marlon wich Samanthas Blicken aus, er war schließlich verliebt. Schon eben, als er das Pissoir getragen hatte, war er verliebt gewesen, als er bei Rita und Hannes geklingelt hatte, war er verliebt gewesen, als er heute Mittag von der Uni weggegangen war, war er verliebt gewesen, als ihm Smilla in der Kantine Zeilen aus Hartmann von Aues mittelalterlichem Versepos Erec vorgelesen hatte, war er verliebt gewesen - und er war auch jetzt verliebt, genau in dem Moment, als Samantha die Feile aus der Hand legte, ihr Haar zurückstrich wie eine blondierte Madonna, und ihn von der Seite anlächelte. Ihre Wimpern klimperten, doch er wollte zurück an die Uni, zurück zu Smilla.
»Ich muss los.«
»Und Kaffee, Jung?«, fragte Rita.
»Nein, mir ist zu warm für Kaffee«, sagte er. Tatsächlich war es drückend heiß. Nicht umsonst hatte Köln den Spitznamen »Kalkutta...
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