Schweitzer Fachinformationen
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Der Glockenschlag von Big Ben schallte durch die Wohnung. Das war der spezielle Klingelton, den sie auf dem Handy ihrem Chef Oscar Krebs zugeteilt hatte. Unter den Kollegen wurde er nur «Krebs» genannt, weil er imstande war, den Schwachpunkt einer jeden Geschichte zu finden und sie mit seinen Scheren zu bearbeiten, bis sie entweder in sich zusammenfiel oder der Journalist seine Recherche vertiefen musste. Mit diesem Vergleich konnte auch Krebs selbst gut leben. Einige Stimmen aus der Redaktion höhnten jedoch, der Name passe auch gut zu seiner Gesichtsfarbe im gestressten Zustand.
Nora respektierte seine Manie, alle Fakten zwei- bis dreimal zu überprüfen, ehe ein Artikel auf den Seiten von Globalt erschien. Was sie dagegen grenzenlos irritierte, war sein untrügliches Talent, den Begriff Greenwich Mean Time misszuverstehen. Er vergaß nicht nur, dass es in London eine Stunde früher war, sondern behauptete auch noch unverdrossen, sie wäre ihm eine Stunde voraus. Nachdem sie mehrere Versuche unternommen hatte, es ihm zu erklären, hatte Nora verstanden, dass es Dinge auf der Welt gab, die man Chefs nicht beibringen konnte.
«Du bist ja schon seit ein paar Stunden auf den Beinen», sagte Krebs mit morgendlichem Elan.
Nora schielte zum Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war 6.30 Uhr britischer Zeit. Sie schwang die Beine über die Bettkante.
«Hmpf.»
«Wunderbar. Wann kannst du Ruanda abgeben? Wir rechnen auf Seite 7 mit dir, und die Deadline ist heute Nachmittag.»
Nora murmelte vage etwas über zwei Uhr «dänischer Zeit», legte auf und schlurfte in das zweite Zimmer der Wohnung, wo sie erstaunlicherweise eine Art Wohnzimmer, ein Büro, eine Bibliothek und eine Kochecke untergebracht hatte. Im Halbschlaf drehte sie ihre übliche Morgenrunde, um den Computer, BBC News 24 im Fernsehen und den Wasserkocher einzuschalten und dann weiter in das winzige Badezimmer zu tapsen.
Doch kurz davor endete die Routine, denn plötzlich lag sie der Länge nach im Flur, weil sie über den Koffer gestolpert war, den sie am Vorabend direkt hinter der Tür stehen gelassen hatte. Das Schloss war aufgesprungen, und aus dem offenen Schlund des Koffers waren Polaroidfotos herausgerutscht. Nora setzte sich auf den Boden und öffnete den Koffer ganz.
Sie nahm den Stapel Bilder in die Hand und blätterte sie durch. Auf allen waren junge Mädchen zu sehen, Teenager. Mädchen, die allein an einer Mauer oder Wand standen, fast immer in der gleichen Pose. Alle blickten direkt in die Kamera.
Einige flirteten offenkundig mit dem Fotografen und lächelten. Andere wirkten angesichts der Situation eher verschüchtert und beklommen. Den Frisuren und der Kleidung nach zu urteilen, mussten die Fotos zwischen den achtziger Jahren, in denen Haargel und Schulterpolster angesagt waren, und den neunziger Jahren aufgenommen worden sein, denn auf einem T-Shirt war das Achtung, Baby-Logo von U2 zu sehen.
Die Sammlung hatte wohl einem Amateurfotografen gehört. Denn es waren keine professionellen Aufnahmen, sondern eher ein witziger Einblick in einige klägliche Versuche, die schwierige Kunst des Fotografierens zu erlernen. Sicher handelte es sich um einen Mann, der von jungen Frauen fasziniert war, offensichtlich aber keine Ahnung von der Wahl des Motivs oder der Belichtung hatte und auch nicht einen Hauch von Talent. Nora zuckte die Achseln und wollte den Koffer gerade wieder schließen, als ihr Blick bei einem Bild hängenblieb, das sich von den anderen unterschied.
Auf diesem Foto waren zwei Mädchen zu sehen. Eine lächelnde Blondine, die ein wenig mollig, aber sehr hübsch war, und neben ihr ein dunkelhaariges zierliches Mädchen, das verstohlen zum Fotografen herüberschielte. Es war Sommer, und die beiden standen in Shorts vor einem weißen Hintergrund. Nora vermutete, dass das verwaschene Feed-the-World-T-Shirt schon ein oder zwei Jahre alt gewesen sein musste, und das Live-Aid-Konzert hatte 1984 stattgefunden.
Aber es war nicht das T-Shirt, das ihren Blick gefesselt hatte, sondern das Schild hinter den beiden Mädchen, auf dem neben einem roten Pfeil auf Dänisch auf das Vogndæk 2 einer Fähre hingewiesen wurde.
Sie stapelte die Bilder auf ihrem Schreibtisch und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und eine Katzenwäsche zu machen. Dann bereitete sie sich eine Tasse tiefschwarzen Nescafé zu, frischte die Farbe mit etwas Milch auf, setzte sich an den Computer und stellte das Diktiergerät an.
Mr. Benns gefühlskalte Stimme erfüllte den Raum, und in den darauffolgenden Stunden gab es in Noras Leben nur noch ihn und seine Gräueltaten. Ihre Finger tanzten über die Tastatur.
Als Nora den Artikel abgegeben hatte und auf eine Rückmeldung wartete, versuchte sie zerstreut, ein wenig Ordnung in die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch zu bringen. Dann warf sie einen Blick in den Kühlschrank und überlegte, ob sie einen längeren Ausflug zu Whole Foods in Kensington unternehmen sollte, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sie liebte es, stundenlang durch die drei Etagen mit ausgewählten Speisen zu schlendern, und kam immer mit einem leeren Portemonnaie und Tüten, gefüllt mit italienischem Ziegenkäse, Dinkelkeksen, ökologischen Johannisbeeren oder einem Cheesecake von der Bäckertheke, zurück. Aber heute war sie nicht in der richtigen Stimmung.
Irgendetwas an dem Bild von der Fähre beschäftigte sie. Es war ein Gefühl, als würde sie alte Soldatenfotos von jungen grinsenden Männern betrachten, die sich für unsterblich gehalten hatten, aber heute nur noch als in Stein gehauene Buchstaben auf einem moosüberwachsenen Granitmonument in der Bretagne existieren.
Sie versuchte, die Ahnung einer Tragödie abzuschütteln. Die Mädchen auf dem Bild waren sicher glücklich verheiratet oder wieder geschieden und hatten die Fährüberfahrt ganz vergessen, die sie vor mehreren Jahrzehnten einmal gemacht hatten.
Doch dann nahm Nora das Foto von den beiden Mädchen erneut in die Hand. Die eine hell, die andere dunkel. Der Blick der Blonden war unnachgiebig, als hätte sie denjenigen, der hinter der Kamera stand, herausfordern wollen: Was zum Teufel willst du von mir? Die Dunkelhaarige wirkte unsicher, sie hatte den Kopf schiefgelegt, und ihr Blick war verstohlen, als würde sie es nicht wagen, den Betrachter direkt anzusehen. Nora drehte das Foto um. Die Rückseite war nicht beschriftet.
Das heisere Klingeln der Sprechanlage riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand auf und ging zur Tür.
«Ja?», sagte sie.
«Guten Tag, hier spricht die Polizei. Uns wurde eine Ruhestörung gemeldet», tönte eine Stimme in breitem Nordjütländisch aus der Sprechanlage.
Mist, sie hatte völlig vergessen, dass sie mit Andreas zum Mittagessen verabredet war.
Im Gymnasium waren sie Freunde gewesen, aber auf einer der letzten Schulpartys hatte Andreas zu viel getrunken und ihr seine Liebe gestanden. Und als Nora sie nicht erwidern konnte und darum gebeten hatte, dass sie trotzdem Freunde blieben, war Andreas ihr die letzten Wochen bis zum Abitur aus dem Weg gegangen. Kurz darauf war Nora nach England gereist, um sich eine einjährige Auszeit zu nehmen, und Andreas war auf der Polizeischule aufgenommen worden. Seither hatte er sich schon einige Dienstgrade hochgearbeitet und war bei der Kripo gelandet. Nora hatte seinen Weg aus der Ferne verfolgt. Aber mit den Jahren hatte Andreas seinen Stolz offenbar doch überwunden. Er hatte Nora auf Facebook entdeckt und ihr eine Nachricht geschickt, weil er für einige Wochen in London war, um bei Scotland Yard einen Spezialkurs über Terrorzellen zu besuchen.
Nora warf einen Blick in ihren Kalender, der unter einer mehrere Tage alten Ausgabe des Guardian, einem WHO-Report und einem ausgerissenen Economist-Artikel über Migration lag, nach dem sie schon vergeblich gesucht hatte.
Im Kalender stand ganz richtig: Mittagessen, Andreas, 13.30.
«Was ist denn nun?», fragte er durch die Sprechanlage.
Sie ließ ihn herein. «Komm rauf. Ich bin gleich so weit.»
Die breiten Schultern und das strohblonde Haar über den braunen Augen, das war Andreas, so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Und trotzdem konnte sie sehen, dass die Zeit Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Er war erwachsen geworden.
Wortlos breitete er seine Arme aus, und sie warf sich hinein.
«Immer noch hübsch wie eine Meerjungfrau», sagte er mit schiefem Grinsen.
Nora verdrehte die Augen. «Und du hast immerhin keinen polizeitypischen Oberlippenbart. Das hätte ich nicht verkraftet.»
Sie bat ihn mit einer Handbewegung in ihre Wohnung, die mit einem fast zwei Meter großen und muskulösen Polizisten darin noch winziger wirkte als sonst.
«Ich habe seit heute Morgen gearbeitet. Lass mich kurz duschen, bevor wir irgendwo hingehen. Möchtest du in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?»
«Was soll das denn heißen? Willst du etwa nicht in deinem Kung-Fu-Morgenmantel mit mir essen gehen? Wirst du auf deine alten Tage spießig?», fragte Andreas lachend und sah sich um.
Nora tat beleidigt und zeigte auf den Wasserkocher.
«Wasser. Kaffee. Milch im Kühlschrank. Ich gehe.»
Während sie das heiße Wasser über ihren Körper rinnen ließ, überlegte sie, wo sie mit Andreas hingehen könnte. Um die Ecke lag das ökologische Honey-Bee-Café, vielleicht konnten sie aber auch in die kleine Tapas-Bar an der U-Bahn-Station gehen. Sie verwarf die Idee wieder. Zu exotisch für den bodenständigen Nordjüten, der er im Grunde seiner Seele immer noch war. Sie entschied sich für das kleine...
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