2
Philosophische Grundlagen
2.1
Medizin und Weltbild
Was Heilung mit Philosophie zu tun hat
"Denn es ist der größte Fehler bei der Behandlung der Krankheiten, dass Leib und Seele allzu sehr voneinander getrennt werden, wobei sie doch nicht getrennt werden können; aber das gerade übersehen die Ärzte, und darum entgehen ihnen so viele Krankheiten; sie sehen nämlich niemals das Ganze. Dem Ganzen sollten sie ihre Sorge zuwenden, denn dort, wo das Ganze sich übel befindet, kann unmöglich ein Teil gesund sein." (Platon, 427-347 v. Chr.)
Wir erfahren im täglichen Leben, dass Wertvorstellungen häufigen Veränderungen unterliegen. Diese Veränderungen im Wertesystem entstehen nicht zufällig, sie sind eher notwendige Erscheinungen im Verlauf der Menschheitsgeschichte, die in unregelmäßigen Abständen neue Weltbilder hervorbringt. Als Weltbild bezeichnen wir dabei die Zusammenfassung der Ergebnisse objektivierbaren Wissens zu einer Gesamtansicht der Welt (inklusive Kosmos), und zwar meist als naturwissenschaftlich-physikalisches, biologisches, soziologisches oder philosophisches Weltbild. Synonym dazu verwenden wir auch den Begriff Weltanschauung, der noch stärker auf Wert- und Handlungsorientierung abzielt und dadurch eine individuellere Note bekommt.
Viele Weltbilder sind berühmt geworden und haben als Denkmodell entscheidenden Einfluss auf die geistige Entwicklung der Menschheit gehabt wie z.B. das geozentrische Weltbild (die Erde steht im Mittelpunkt) des Claudius Ptolemäus aus dem 2. Jhdt. n. Chr. oder das heliozentrische Weltbild (die Sonne steht im Mittelpunkt) des Nikolaus Kopernikus, veröffentlicht im Jahre 1543. Genauso spektakulär wurde in der humanistisch geprägten Renaissance das theozentrische Weltbild (Gott steht im Mittelpunkt) von einem anthropozentrischen Weltbild (der Mensch steht im Mittelpunkt) in Frage gestellt. Jedes Weltbild bringt seine eigenen Wertevorstellungen und seine eigenen Deutungen der Dinge und Erscheinungen mit sich. So ist es also nicht verwunderlich, wenn Menschen, die mit unterschiedlichen Weltbildern groß geworden sind, sich in vielen Dingen nicht verständigen können und Missverständnisse entstehen.
Das betrifft auch die Weltbilder, die einerseits der modernen naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulmedizin und andererseits der traditionellen Naturheilkunde zu Grunde liegen. Wir leben heute bekanntermaßen in einer "pluralistischen Gesellschaft", also in einer sozialen Form, die viele verschiedene Denkmodelle parallel zulässt. Im Grunde genommen kann heute jeder Mensch denken, was er will und dabei Anleihen aus den verschiedensten Weltbildern und Weltanschauungen nehmen. Vielen Menschen genügt es, dass ihnen aus ihrem sozialen Umfeld bekannte Weltbild als das einzige zu nutzen und bewerten ihre Umwelt ausschließlich nach diesem Maßstab. Dadurch sind Probleme der Verständigung vorprogrammiert.
Die immer wiederkehrende Diskussion um die Integration von Ausländern in die deutsche Gesellschaft ist ein Beispiel dafür. Ein ähnliches Problem sehen wir auch im Bereich der Medizin: hier sind es vor allem das Weltbild, das der griechische Philosoph Aristoteles in der Antike entworfen hat und das der Naturheilkunde zugrunde liegt und das Weltbild des französischen Philosophen René Descartes aus dem 16. Jhdt., das die Entwicklung der modernen Schulmedizin mit ermöglicht hat. Beide Weltbilder widersprechen sich in entscheidenden Aussagen über die Welt, die Natur und den Menschen. Weil das aristotelische und das cartesianische Weltbild entscheidend sind für das Verständnis der Diskrepanz zwischen dem naturheilkundlichen und dem schulmedizinischen Denken und noch heute widersprüchliche Ansichten über das menschliche Leben erzeugen, sollen sie im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Als drittes - und versöhnendes - wird das Integrale Weltbild vorgestellt, das vor allem auf den Überlegungen des Philosophen Jean Gebser beruht.
Das aristotelische Weltbild
Aristoteles war neben Platon und Sokrates einer der bedeutendsten Philosophen und Naturforscher der Antike. Der gebürtige Grieche beeinflusste das damalige Denken entscheidend und seine philosophischen Theoreme sind noch für die Nachwelt von wesentlicher Bedeutung. Er betrat mit seinen Forschungen entweder völliges Neuland oder entwickelte bestehende Theorien entscheidend weiter. Aristoteles war nicht nur Philosoph, sondern auch Naturforscher. Seine Naturerkenntnisse gründete er wesentlich auf die Beobachtung und Erfahrung; so hat er Hunderte von Tierarten beschrieben und klassifiziert und die Tiere zum Teil auch seziert.
Aristoteles war überzeugt, dass der Mensch in der Lage ist, am Leitfaden der von jedermann wahrnehmbaren Erscheinungen den inneren Bau der Natur, der den menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zugänglich ist, zu erkennen. Spekulationen über das Unsichtbare haben sich dem Sichtbaren anzupassen und nicht umgekehrt. Platon und seinen Anhängern wirft er vor, "dass sie die Prinzipien, mit deren Hilfe man die Struktur des Naturgeschehens erkennt, nicht richtig anwenden, sondern alles auf gewisse vorgefasste Meinungen zurückführen" [De caelo III 7, 306a.]. Aristoteles bezeichnet das, was die belebten Wesen im Gegensatz zu den unbelebten Dingen besitzen, als "Seele". Das Verfahren, das er zur Erfassung der Seele anwendet, besteht darin, von der sichtbaren Wirkung der Seelenfunktion auf deren unsichtbare Ursache zu schließen.
Seine Erkenntnisse über das Wesen der belebten Dinge hat Aristoteles in seiner Schrift "Über die Seele" (De anima) zusammengestellt. Am Anfang seines Buches "De anima" stellt Aristoteles fest, dass der Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Seele befasst, ein hoher Rang einzuräumen ist, "denn die Kenntnis von der Seele scheint zum Blick in das gesamte Sein beizutragen, vor allem im Hinblick auf die Natur" [De an. I 1, 402 a.]. Aristoteles meint damit, dass die Seelenlehre ein essenzieller Bestandteil für ein Weltbild (Blick in das gesamte Sein) ist. Er spricht wohl aus eigener Erfahrung, wenn er sagt, dass es "zum Schwierigsten gehört, eine feste Meinung über die seelischen Vorgänge zu gewinnen". Und er führt weiter aus: "So ist als erstes zu bestimmen, welcher Kategorie die Seele zuzuordnen ist, ist sie ein Ding oder eine Wesenheit, eine Qualität oder eine Quantität . Weiterhin ist zu prüfen, ob sie geteilt oder ungeteilt ist und ob alle Seelen von gleicher Art sind oder nicht" [De an. I 1, 402 a - 402 b.].
Die erste Frage nach der Kategorie wird so beantwortet: Die Seele ist das "Prinzip der belebten Wesen" [De an. I 1, 402 a.]. "Seele besitzen" ist für Aristoteles nur ein anderer Ausdruck für "leben". Nun bedeutet aber "Seele besitzen" nicht dasselbe für eine Pflanze, ein Tier und einen Menschen. Pflanzen scheinen weniger beseelt zu sein als Tiere und jene wiederum weniger als Menschen [Hist. an. VIII 1, 588a - 589a.]. Seele ist für Aristoteles kein einheitliches Ganzes und er übernimmt von seinen Vorgängern die Praxis, verschiedene Seelenteile zu unterscheiden. Er stellt die Frage, in welchem Sinne man von Seelenteilen sprechen soll und von wie vielen. "In gewisser Hinsicht scheint es unendlich viele zu geben, und nicht nur, wie manche meinen, den überlegenden, mutvollen und begehrenden Teil, oder nach anderen den rationalen und irrationalen Teil" [De an. III 9, 432 a.].
Drei Seelenanteile
Die beiden Einteilungen der Seelenfunktionen, die in der Platonschen Akademie üblich waren, hält der Naturforscher und Empiriker Aristoteles für unzureichend. Er selber nennt drei sich stark unterscheidende Teile der Seele: den ernährenden Teil, der (außer dem Menschen) auch den Pflanzen und allen Tieren zukommt, den wahrnehmenden und empfindenden Teil, der bei den Tieren und beim Menschen auftritt und den denkenden Teil, der nur beim Menschen in Erscheinung tritt. Die drei Seelenteile des Aristoteles werden in der neueren Literatur meistens als vegetative oder Vitalseele, empfindende oder sensitive Seele und Vernunft- oder Geistseele bezeichnet.
Von besonderer Wichtigkeit ist es, wie Aristoteles das Verhältnis zwischen der Seele als Lebensprinzip und dem zugrundeliegenden Körper eines Lebewesens gesehen hat. Am Anfang des zweiten Buches von "De anima" heißt es dazu: "Die Seele gibt es weder ohne Körper noch ist sie ihrerseits Körper", und dann: "Sie (die Seele) ist zwar nicht Körper, wohl aber etwas an einem Körper, und darum ist sie auch in einem Körper, und zwar in einem Körper von bestimmter Beschaffenheit". [De an. II 2, 414 a.]. Hier wird deutlich herausgestellt, dass einerseits ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Körper und Seele vorhanden ist (Seele ist nicht Körper), und andererseits eine unlösbare Gebundenheit der Seele an den Körper existiert (Seele gibt es nicht ohne Körper).
Die Seele mit ihren drei Bestandteilen ist bei Aristoteles den menschlichen Sinnen und der menschlichen Erfahrung zugänglich...