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Stella war Tausende von Metern über dem Boden. Zwölftausendachthundertfünfzig Meter, um genau zu sein, wie der Kapitän des Flugzeugs eben durchgesagt hatte. Mit Zahlen hatte Stella noch nie etwas anfangen können, und zwölftausend Meter konnte sie sich nicht ansatzweise vorstellen. Sie wusste nur, dass das verdammt hoch oben war. Was jedoch keinen der anderen Fluggäste zu beeindrucken schien. Ohne auch nur ein einziges Mal aufzusehen, tippte der Mann im Anzug neben ihr seit Stunden auf den Tasten seines Reiselaptops herum. Und die zwei hübschen Frauen in der Reihe vor ihr mit den glänzend lackierten Fingernägeln steckten immer wieder ihre Köpfe zusammen und kicherten vergnügt.
Stella hatte versucht zu schlafen. Hatte versucht, sich abzulenken. Erst mit dem Rolling-Stones-Album, das sie sich für den langen Flug von ihrem mehr oder weniger letzten Geld geleistet hatte, dann mit einer Graphic Novel über Frida Kahlo. Und zu guter Letzt sogar mit dem Bordmagazin der Airline. Aber nichts half. Denn eigentlich ging es gar nicht um die zwölftausendachthundertfünfzig Höhenmeter. Es ging um die Erinnerungen, die sie jedes Mal hinterhältig überfielen, wenn Stella es am wenigsten erwartete. Zum Beispiel die Erinnerung an die Legende der Weihnachtsblume, die ihre Mutter ihr jedes Jahr an Heiligabend erzählt hatte, als Stella noch ein kleines Kind gewesen war.
Eine eiskalte Faust schloss sich um ihr Herz. Noch immer waren Tränen übrig, was eigentlich kaum möglich war, denn seit zwei Wochen hatte Stella nur geweint und kaum Flüssigkeit zu sich genommen. Vor Mister Anzug (so nannte sie ihn insgeheim) wollte sie sich nicht so jämmerlich zeigen, denn der hatte eben schon miesepetrig geguckt, als sie nur Musik gehört hatte. Also wischte sie sich unauffällig die Tränen von den Wangen und fragte ihn, ob er kurz aufstehen könne, sie müsse sich frischmachen.
Das Gesicht, das ihr der Spiegel in der engen Flugzeugtoilette zeigte . das war doch nicht ihres. Sie sah ein blasses Mädchen mit rot geschwollenen Augen und dunklen Ringen darunter. Wo war ihr Dauerlächeln? Der Stella-Zauber, so hatte Andreas ihr Lächeln genannt. Wenn du lächelst, kann ich nicht mehr ohne dich sein.
Konnte er doch. Immerhin hatte er eine Frau und zwei Kinder, wie Stella herausgefunden hatte.
Aber nicht einmal das war jetzt noch wichtig.
Wo hast du denn deine Sommersprossen gelassen?, hörte sie die warme, starke Stimme ihrer Mutter sagen.
Stella wischte sich die dunklen Ränder ihrer verlaufenen Wimperntusche unter den müden, grünbraunen Augen fort und kühlte ihre Wangen mit den feuchten Händen. Die Klinke der Flugzeugtoilette wurde nach unten gedrückt. »Einen Moment noch!«, rief sie.
Aus der Innenseite ihrer Baseballjacke zog sie das inzwischen leicht geknitterte Kuvert. Lizzy Licht stand mit goldener Tinte darauf geschrieben. California, Laguna Beach. In dem Kuvert steckte eine Einladungskarte für den alljährlichen Poinsettia-Ball.
Ihre Mutter Inge war Gärtnerin gewesen, deshalb kannte Stella sich gut mit Pflanzen aus und wusste, dass »Poinsettia« ein anderer Name für Weihnachtsstern war. Weihnachtssterne waren die Lieblingspflanzen ihrer Mutter gewesen.
»Wer bist du nur, Lizzy Licht?«, murmelte Stella leise. »Warum feierst du diesen Ball und schickst meiner Mutter eine Einladung?«
Es war doch erst zwei Wochen her, dass sie gemeinsam in der Gärtnerei die Weihnachtssterne für dieses Jahr hergerichtet hatten! Es konnte nicht wahr sein, dass ihre Mutter so plötzlich nicht mehr da sein sollte .
Erneut stürzten die Erinnerungen auf sie ein.
Das Foto.
Der Brief.
Der Schneesturm. Weiße Luft. Flocken, die aus allen Richtungen zu kommen scheinen, sogar von unten.
Dann ein blaues Licht in all dem Weiß.
Ein letztes Mal wusch Stella ihr Gesicht und richtete das dezente Band in ihrem kurzen, kupferfarbenen Haar. Es war eine der beiden fröhlichen Frauen, die vor der Toilette wartete. Stella entschuldigte sich bei ihr und dann gleich noch einmal bei Mister Anzug, als der erneut seine Arbeit unterbrechen musste, damit sie sich auf ihren Platz setzen konnte. Er nahm es hin. Kein Wunder, dass er sie so despektierlich behandelte. Mit ihrer Jeans und dem mintgrünen Pulli kam Stella sich in der ersten Klasse unter all den Geschäftsreisenden und gestylten Damen vor wie im falschen Film. »Sei's drum«, sagte sie sich, schob sich die Kopfhörer über die Ohren und legte Heroes von David Bowie in ihren CD-Spieler.
Despektierlich. Eines dieser Wörter, das sie von Andreas übernommen hatte.
Es war alles komplett verrückt. Dies war das erste Mal in ihrem Leben, dass Stella ein Flugzeug von innen sah. Und dann flog sie gleich zwölf Stunden nach Los Angeles. In der ersten Klasse, wo man ihr zum Frühstück Sekt, Rührei mit Lachs und - passend zur Weihnachtszeit - Marzipanstollen serviert hatte. Nichts davon hatte sie angerührt. Das Verrückteste war jedoch immer noch, dass sie zu ihren Verwandten flog, von deren Existenz sie bis vor zwei Tagen nicht mal etwas geahnt hatte! Jahr für Jahr hatte Stella sich als kleines Mädchen eine Familie vom Christkind gewünscht. Bitte mach, dass Mama und ich nicht mehr allein sind. Dabei hatte sie in Kalifornien längst Familie gehabt! Warum nur hatte ihre Mutter ihr das verschwiegen?
Du erzählst nie etwas von deinen Eltern. Wie waren sie?
Sternchen, du weißt, dass ich nicht gerne darüber spreche. Irgendwann vielleicht, wenn ich so weit bin.
Jetzt war es zu spät.
»Ladies and Gentleman, es ist elf Uhr dreizehn. In wenigen Minuten beginnen wir mit dem Landeanflug. Bitte kehren Sie zu Ihren Sitzplätzen zurück, stellen die Rückenlehnen hoch und klappen die Tische ein.«
Kalifornien. Vor Stellas innerem Auge tauchten Luxusboutiquen, hautenge, rote Badeanzüge an durchtrainierten Körpern, Silicon Valley, Westernlandschaften und Arnold Schwarzenegger auf. Sie schob das Verdeck ihres Fensters hoch und musste erst einmal blinzeln, so hell war es. Der Anblick, der sich ihr bot, war atemberaubend. Sie schwebten über ein weißgolden funkelndes Meer, tief genug, um die Wellen ausmachen zu können. Kaum vorzustellen, dass Stella vor zwei Tagen noch den Briefkasten hatte suchen müssen, weil der komplett eingeschneit und der gesamte Garten ein einziges großes, mehr oder weniger formloses Weiß gewesen war.
Der Pazifik ging über in ein zweites Meer aus Häusern und Gebäuden, aus dem wie eine kleine Insel Wolkenkratzer im Zentrum herausragten, deren gläserne Fassaden im Sonnenlicht golden schimmerten. Und direkt dahinter erhoben sich Berge!
Stella rieb ihre feuchten Handflächen über die Knie. Adam hatte in seiner Mail geschrieben, dass er sie vom Flughafen abholen würde. Wer auch immer Adam war. Irgendetwas musste an dieser Familie faul sein. Warum sonst hatte ihre Mutter nie über sie gesprochen? Lizzy schien viel Geld zu haben, immerhin hatte sie Stella ein Flugticket der ersten Klasse bezahlt. Bestand ihre kalifornische Verwandtschaft etwa aus stinkreichen Snobs? War Adam am Ende ein brezelbraun gebrannter Onkel, der sich bereits die ersten Falten hatte wegliften lassen? Geh nicht gleich vom Schlimmsten aus, mahnte Stella sich. Lizzy war am Telefon sehr gefühlvoll und lieb gewesen. Es half ohnehin nichts, sich unnötig den Kopf zu zerbrechen. Schon in wenigen Minuten würde sie Klarheit haben, denn dann würde sie Adam persönlich gegenüberstehen.
Die helle, moderne Ankunftshalle war vollgestopft mit Menschen. Der Anblick hatte etwas von dem Schneegestöber, das in Deutschland geherrscht hatte. Mit ihren ein Meter fünfundsechzig war Stella durchschnittlich groß, aber unter all den hektischen Menschen fühlte sie sich wie ein kleines Kind. Wie zur Hölle sollte sie hier Adam finden, von dem sie nicht einmal wusste, wie er aussah? So viele Gesichter . Pärchen, die sich küssten, Backpacker, Surfer mit Haifischzahnketten um den Hals, die ihr Brett an den sich umarmenden Familien vorbeimanövrieren mussten, Geschäftsmänner, die eine japanische Touristengruppe mit riesigen, den Weg blockierenden Koffern verfluchten, Schilder mit Namen darauf, die in die Höhe gehalten wurden, indische Taxifahrer riefen: »Taxi! Taxi! Need a taxi?« .
Inmitten des lauten Durcheinanders hörte Stella auf einmal ihren Namen. »Stella! Hier!«
Hinter einer Reisegruppe stellte sich ein junger Typ auf die Zehenspitzen und winkte ihr mit einem Schild, das er in die Höhe hielt. Darauf war in dicken Lettern ihr Name gemalt, in Rot, ihrer Lieblingsfarbe, und daneben zwei Sterne. Das also war Adam.
Sein Lächeln war breit und freundlich, und Stella mochte ihn auf den ersten Blick. Vermutlich, weil er ihre Rettung aus dem Durcheinander war. Aber auch, weil er der erste Mensch war, den sie nach der Beerdigung vor einer Woche so richtig wahrnahm. Nach sieben Tagen der Einsamkeit.
Jedenfalls ging von ihm, als er sich durch die Menschenmenge bahnte, das Schild noch immer hoch erhoben, etwas aus, das...
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