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Herausragendes Debüt: die Geschichte Pakistans mit einer zärtlichen Liebe im Mittelpunkt
Brooklyn, 2022: Ayukta schuldet ihrer Frau eine Antwort auf die Frage, die sie immer vermieden hat: Sollen sie ein Kind bekommen? Die Entscheidung wird durch die Geschichte ihrer Familie erschwert - denn Ayukta trägt nicht nur ihre eigenen Erinnerungen in sich. Ein Ahnengedächtnis, das sich über tausend Jahre erstreckt und alle Frauen in ihrer Familie miteinander verbindet, ist gleichzeitig eine unmögliche Bürde und ein unglaubliches Geschenk. Ayukta durchlebt das Trauma ihrer Großmutter Amla, die vor dem Tod ihrer Mutter ein glückliches Kind in Karatschi war und während der Teilung des Landes auswandern muss. Amlas Tochter Arni führt uns nach Gujarat im Jahr 1974, wo die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Unterschiede zwischen den städtischen Klassen herausgefordert werden, während eine von Studenten angeführte politische Bewegung für instabile Verhältnisse sorgt. Ayukta erzählt nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch von den blutigen Jahren der Teilung ihres Heimatlandes, ganze Jahrzehnte voller Liebe, Verlust, Herzschmerz und Wiedergeburt.
Asha Thanki erhielt ihren MFA von der University of Minnesota. Ihr Schreiben wurde von zahlreichen Stipendien gefördert, ihre Kurzgeschichten und Essays sind in einigen Medien erschienen sowie durch zahlreiche Preise geehrt worden.
Ich erzähle dir zuerst von Amlas Kindheit - Karatschi, 1946.
Die Sonne brennt an diesem Morgen vom Himmel, die Luft ist so schwer, dass man sich an ihr verschlucken kann. Es herrscht allgemeine Lethargie: Die Marktverkäufer treiben die Preise ihrer Waren in die Höhe, Frauen schlagen in einem schleppenden Rhythmus frische Wäsche aus. Selbst die Autos ächzen schwerfällig vorwärts.
Amla sieht von ihrem Beobachtungsposten an der Balkonkante zu, ein Bein baumelt in der Luft, das andere steht fest auf dem Boden. Sie schleckt an einem großen Pistazien-Kulfi. Die schmelzende Eiscreme tropft auf ihre kleinen Hände und sammelt sich in der Mulde zwischen Zeigefinger und Daumen. Alle paar Augenblicke schlürft sie gedankenverloren die kleine Pfütze auf und saugt den kleinen Hautlappen zwischen die Zähne.
Sie liebt es, das Treiben auf der Straße zu beobachten, sich auszumalen, wie es wäre, sich unter die Leute zu mischen. Mit einem Fuß auf dem rauen Beton des Balkons fühlt sie sich sicher genug, um von der Welt da draußen zu träumen.
So sieht der Alltag der zehnjährigen Amla aus: Sie frühstückt mit ihrer Mutter, nur sie beide, denn der Vater ist zu der Zeit schon unten im Laden. Als sie klein war, wachte sie frühmorgens mit dem Duft von Ghee in der Nase auf, der von den frisch gebackenen Rotli aus der Küche herüberdrang, schwelgte in den Momenten, die einen frühmorgendlichen Abschied ausmachen, doch der Morgen scheint immer früher anzubrechen, wie es eben so ist, wenn man älter wird. Also isst sie jetzt später am Morgen ein einfaches Frühstück, bestehend aus Chaash und in Butter gebackenen Snacks aus Kichererbsenmehl, während der Vater längst in einem der drei familiengeführten Mithai-Shops mit einem Holzlöffel warme Milch, Zucker und Safran verrührt. Dann geht sie mit ihrer Mutter zum Markt, die Leinenbeutel fest unter den Arm geklemmt, um in der heißen Mittagssonne mit randvollen Taschen nach Hause zurückzukehren.
Amla gefällt dieses Muster; es gefällt ihr, dass alles immer gleich abläuft und sich jeder Tag mit Ba und Bapu genauso anfühlt wie der Tag zuvor. Zu wissen, dass ihre Welt nicht so stürmisch ist wie die da draußen, dass sie den ganzen Nachmittag an einem Kulfi schlecken kann und alle, die ihr wichtig sind, unbeirrt weiter ihr Leben leben, gibt ihr Sicherheit. All das - das Alltägliche, die unbeirrte Gelassenheit, die Tage, die wie ein Wimpernschlag vergehen - wird sie immer im Herzen tragen, besonders, wenn es damit einmal vorbei sein sollte. Dann - und auch das bleibt im Blut, brennt sich ins Gedächtnis ein, unser Gedächtnis, ein Gefühl, das über Generationen nachklingt - wird daraus eine Sehnsucht, eine Droge, nach der wir verlangen: der schläfrige Dunst eines Lebens voller Nichtigkeiten. Frühstück mit Ba. Einmal blinzeln. Töpfe mit Wasser auf dem Herd, Taschen mit frischem Gemüse über den Schultern. Einmal blinzeln. Unterrichtsnachmittage, die sie damit verbringt, auf ihrer Schiefertafel zu kritzeln, Nächte mit dünnen Baumwolldecken, bis zum Kinn hochgezogen. Dreimal blinzeln.
»Amla, komm und hilf«, ruft ihre Mutter von drinnen.
Amla schwingt das Bein wieder zurück auf den Balkon und beeilt sich, den geschmolzenen Zucker von den Händen abzuwaschen. Im Wohnzimmer ist Ba gerade dabei, ein schweres Stück Stoff von der Wand zu nehmen, befestigt an zwei rostigen Nägeln. Im Näherkommen bemerkt Amla, dass es sich bei dem Stoff nicht um einen Sari oder eine Decke handelt, sondern um einen Wandteppich, der mit Stickereien und kleinen aufgenähten Spiegeln so beladen ist, dass er schwer zwischen den Händen ihrer Mutter hängt. Der Oberfläche des schwarzen Stoffes entwachsen mit kleinsten Stichen gefertigte Szenen in vertrautem Rot und Grün, Frauen über Frauen, alle im Profil, manche mit den Händen kleiner Kinder in ihren eigenen, andere in Umarmung verbunden mit den Frauen vor oder hinter ihnen. Sie kneift die Augen zusammen; die Bilder tanzen, lauter hüpfende schwarze Punkte.
Der Wandteppich hing schon immer dort, Amlas ganzes kurzes Leben lang, und doch hat sie kaum eine Erinnerung daran. Sie hebt die Hand, um die Stickereien zu berühren, aber Ba ermahnt sie mit einem leisen Zischen. »Nimm die Enden«, sagt sie. »Hilf mir beim Falten.«
Amla greift nach den Enden, die ihr am nächsten sind, und hält sie hoch, um den Teppich vor dem staubigen Boden zu schützen. Sie betrachtet die Bilder jetzt aufmerksamer, aus der Nähe - oh, diese Frauen, die hintereinanderher marschieren wie in einer Parade, wobei die Farben des einen Rocks mit den Rändern des nächsten verschmelzen. Lorbeergrün mischt sich mit Senfgelb mischt sich mit Lila, Rot. Sie merkt, wie sie den Fokus verliert, in ihrem Kopf rauscht es, als strömte ihr das Blut plötzlich wärmer durch die Adern. Ba, denkt sie. Dadima. Mama. Ma. Eine Mutter. Deren Mutter, deren Mutter davor und davor und davor -
»Schau auf die Enden«, weist die Mutter sie an, und der Moment ist vorbei. Amla schüttelt den Kopf.
»Was ist -«
»Konzentriere dich nur auf die Ecken, dann lenkt es dich nicht so ab.«
Sie stehen sich gegenüber, falten den Wandteppich wie einen Sari. Der Stoff wird mittig zusammengelegt, die Ecken sorgfältig aufeinander, und diesen Vorgang wiederholen sie so lange, bis der Teppich nur noch ein kleines Viereck ist. Amla spürt, dass sie das Muster der Stickerei bereits vergisst.
Sie wendet sich ihrer Mutter zu, bereit, Fragen zu stellen, doch dann bleibt sie an ihren Gesichtszügen hängen. Den Umrissen ihrer Nase, ihres Kinns. An den langen Fingern und den jetzt nutzlosen Eisennägeln, die sie zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her rollt. An den kantigen Schultern. Ba beugt sich vor, und Amla merkt, dass ihre Mutter ganz entrückt ist; als wäre Amla gar nicht mehr im Raum. Ergriffen von der Ehrfurcht ihrer Mutter, will sie wissen, was es mit diesem Stück Stoff auf sich hat, will dem Gefühl einen Namen geben, das ihre Mutter bereits zu begreifen scheint.
»Was guckst du da an?«, fragt Amla.
»Das sind die Frauen, die vor uns da waren, Amu«, sagt ihre Mutter. »Sie sind alle hier.«
»Bist du auch da?«
»Ja«, sagt sie.
»Werde ich auch mal da sein?«
»Ja, eines Tages.«
Amla weiß nicht, was das bedeutet. Aber Ba nimmt Amlas Hände und verflicht ihre Finger mit denen ihrer Tochter, und so bleiben sie schweigend sitzen, zwischen ihnen der gefaltete Teppich.
Ba verstaut den Wandteppich in ihrem Koffer, zusammen mit neuen Saris, goldenen Ohrringen und flachen Lederschuhen, alles in Vorbereitung auf eine Hochzeit in Delhi. Nach und nach - und das liegt am Wesen des Teppichs, nicht an der Vergesslichkeit eines kleinen Kindes - verblasst Amlas Erinnerung an den Stoff, und die nackte Wand wird Teil ihrer Wirklichkeit.
Draußen auf der Straße verändern die Stimmen ihren Ton. Amla ist sich nicht sicher, warum, und obwohl ich dir gerne erzählen würde, welche Worte dort wie gebraucht werden und wer an der Straßenecke auf der Seifenkiste steht, kann Amla sie nicht begreifen, und es interessiert sie auch gar nicht.
Ohnehin geht es nicht so sehr um das Wer als vielmehr um das Wie. Die Anspannung, die Dringlichkeit. Das Flehende.
Ich wünschte, sie wäre aufmerksamer gewesen, aber es ist auch nicht so wichtig. Du und ich, wir kennen die Geschichte, Nadya. Bis zur Teilung ist es weniger als ein Jahr. Hätte Amla zugehört, hätte sie die Schwere draußen in der Luft vielleicht verstanden. Sie hätte die wiederkehrenden Worte erkannt, wenn auch nicht deren Tragweite. Draußen stehen die Verkäufer dicht gedrängt vor der neuesten Ausgabe des Sind Observer und klopfen mit den Fingerknöcheln auf frisches Zeitungspapier; drinnen ziehen sich die gedämpften Unterhaltungen im vertrauten Gujarati ihrer Eltern bis spät in die Nacht. Amla linst durch die geschlossenen Augen: Eine einzelne Tischlampe beleuchtet von unten die Gesichter von Ba und Bapu in der Küche. Sie ist nicht gut genug darin, sich schlafend zu stellen; Bapu verstummt, sobald sie wach ist, sosehr sie auch versucht, tief und gleichmäßig zu atmen.
»Lass sie noch klein sein«, sagt er dann. »Zehn ist auch so schon ein schwieriges Alter.«
Sie fühlt sich zu Hause sicher, trotz der Worte, die draußen um sich greifen, trotz der Gedanken, die manche als gefährlich bezeichnen. Amla weiß nicht, dass sie sich eigentlich fürchten sollte; sie weiß nur, wie ihr Vater ihre Mutter fragt, ob sie wirklich zu der Hochzeit in Delhi fahren wolle, ob dies der richtige Zeitpunkt sei, ob sie nicht lieber auf die Hochzeit der jüngeren Nichte warten und sich mit einem besonders aufwendigen Geschenk für dieses Mal entschuldigen sollten.
»Aber hier ist doch alles in Ordnung«, hört sie Ba widersprechen, »und dort ist auch alles in Ordnung. Wenn wir uns hier keine Sorgen machen, warum sollten wir uns dann über dort Sorgen machen? Wie kommst du auf die Idee, dass ich nicht fahren soll? Welcher Logik entspricht das? Sollen wir nie mehr irgendwohin reisen?«
Bapu antwortet nicht.
Ihr Zuhause wird neue Silben bekommen; das ist die einzige echte Information, die Amla hat. In der Nacht wiegt sie das Wort wie eine Puppe. Pakistan. Sie erprobt den Klang in ihrem Mund. Pakistan. Pakistan.
Bapus Schwester kommt eines Abends vorbei, unter den Armen...
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