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Rückkehr nach Hause
Mama, da sind Leute an der Tür. Ein alter Mann und eine Frau. Sie wollen hier wohnen, sagen sie.« Gitte hatte in der Tür innegehalten und schmiegte sich an den Türrahmen. Sie war unsicher, ob sie Ärger bekommen würde, falls sie es wagte, einen Schritt in das Gästezimmer zu machen.
Franziska strich das Oberbett glatt und zupfte das bereits perfekt sitzende Laken noch ein letztes Mal zurecht. »Hast du ihnen gesagt, dass alle Zimmer belegt sind?«
»Ja.« Die Antwort kam gedehnt.
Stöhnend legte Franziska eine Hand auf die Hüfte und richtete sich schwerfällig auf. Vor langer Zeit hatte sie bei einem Autounfall einen Bruch davongetragen, und bei jedem Wetterumschwung schmerzte es. Sie wandte sich ihrer jüngsten Tochter zu. Gitte sah sie aus großen dunklen Augen an und lutschte an Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand.
Franziska ging zu ihr, strich ihr übers braune Haar und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Raus hier. Du weißt, dass du in den Gästezimmern nichts zu suchen hast. Wo sind denn diese Gäste? Wo ist Mutti, warum hast du sie nicht gerufen?« Sie schloss die Tür hinter sich.
»Weiß nicht.« Gitte warf die Hände in die Luft, wie ihre Großmutter das hin und wieder tat, wenn sie sich über etwas empörte.
»Na gut, das waren auch viele Fragen auf einmal. Wo ist deine Großmama?«
»Weiß nicht. Weg.«
»Und wo sind die Gäste?«
»Draußen.«
»Wer ist denn in der Schankstube?«
»Weiß nicht.«
Franziska gab auf. Sie packte Gitte an der Hand und zog sie die Treppe hinab bis in den Flur des Hauses, von dem die Schankstube und die Küche abgingen. Von draußen vor der Eingangstür hörte sie Stimmengewirr. Sie ließ ihre jüngste Tochter los und schickte sie mit einem Kuss auf den Scheitel zum Spielen. Gitte hopste davon.
Dann warf sie einen Blick in die Schankstube, in der tatsächlich niemand war, und dann in die Küche, die ebenfalls verwaist war. Blieb nur noch der Hof.
»Wo sind denn alle?«, murmelte Franziska bei sich. Sie trat ins Freie und hielt einen Moment inne, weil die strahlend helle Sommersonne sie blendete. Wie so oft in den letzten Tagen dachte sie, wie gut das Licht und die Wärme taten, nach all den Jahren und dem, was in ganz Europa geschehen war. Der Hof hatte die Kriegsjahre vollkommen unbeschadet überstanden, und seit ein paar Wochen kehrten die ersten Gäste der Saison ein, eher Geschäftsreisende oder Männer, die im Auftrag der Alliierten im Langs umherreisten, und noch spärlich, aber sie kamen. Für dieses Wochenende waren sie zum ersten Mal ausgebucht. Beinahe machte es den Eindruck, als würden sie endlich zu einer friedlichen Normalität zurückkehren.
Wären da nicht immer wieder die amerikanischen Soldaten in Uniform, die in kleinen Gruppen an den Tischen saßen.
Oder dieser abgerissene alte Mann, der sich auf eine junge dunkelhaarige Frau stützte. Beide trugen Kleidung, die diese Bezeichnung kaum noch verdiente, Löcher in den Hemden und der Rock der Frau mehrfach geflickt. Trotzdem löste sich der Saum bereits wieder auf. Sie standen beide abseits, links der Tür und in der Nähe des Tisches, an dem sich die Familienmitglieder und Angestellten des Hofes trafen oder Pause machten. Als wäre es ihnen peinlich, mit ihrer Erscheinung dieses oberflächliche Bild unschuldiger Sommerfrische zu stören.
Franziska trat näher, die Erklärung, dass sie keine Zimmer frei hätte und sie es woanders versuchen sollten, schon auf den Lippen. Da erkannte sie die junge Frau, die sie zuletzt als Zwölfjährige gesehen hatte.
Sie schlug die Hand vor den Mund. »Celeste! Bist du das?«
Und der Mann, das war doch . konnte das sein?
Die Angesprochene nickte trotzig. »Ja, Frau Leidinger, ich bin's.«
»Mich erkennst du nicht?«, entfuhr es dem Mann. Die ersten beiden Worte klangen gallig, aber am Ende brach ihm die Stimme, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Doch, Poldl! Heilige Muttergottes. Wo kommt ihr denn her? Wo ist deine Mutter, Celeste?«
»Mausetot.« Sie sagte das sehr vorwurfsvoll, als wäre Rosemarie di Luca mit Absicht gestorben, um ihrer Tochter eins auszuwischen. Nein, verbesserte Franziska sich in Gedanken, nicht di Luca, sie hieß Bruggmoser - oder Ponte im Italienischen -, denn Leopold hatte sie geheiratet, kurz bevor er ins »gelobte« Land, Hitlers Deutsches Reich, ausgewandert war.
Celeste fasste Leopolds Arm fester und richtete ihn auf. Er wankte, doch er schaffte es, sich auf den Beinen zu halten. Franziska hatte Erbarmen. »Poldl, setz dich da an den Tisch. Du auch, Celeste, ich hole euch etwas zu trinken.«
Beide nickten. Jenseits des Hofes aus Richtung Hausweide sah Franziska ihre Mutter Teresa kommen, zwar mit bedächtigen Schritten, aber mit ihren siebenundsiebzig Jahren immer noch rüstig. Hinter ihr schleppte sich Wilhelm mit einem Korb ab, der vermutlich randvoll mit Gemüse war. Das erklärte, warum weder in der Schankstube noch in der Küche jemand war.
Statt die versprochenen Getränke zu holen, wartete Franziska, bis die beiden näher gekommen waren. Dabei musterte sie die unerwarteten Gäste aus den Augenwinkeln. Celeste war abgemagert, dürre Arme schauten aus der ärmellosen Bluse heraus, ihr dunkles Haar war strähnig, die Waden und Knie unter dem Rock kohlschwarz und voller Pusteln, vielleicht Floh- oder Wanzenstiche. Aber nach einem ordentlichen heißen Bad würde sie wieder manierlich aussehen.
Dagegen sah ihr Bruder nicht nur verwahrlost, sondern auch krank aus. Trotz des Schmutzes konnte Franziska sehen, dass seine Haut grau war, von rot geplatzten Adern durchzogen. Die Wangen waren eingefallen, sein früher immer dichter Bart wuchs nur noch in Büscheln. Auch auf dem Kopf wies er einige kahle Stellen auf, sonnenverbrannt und teilweise aufgeplatzt.
»Mutti, schauen Sie, wer hier ist«, rief Franziska den beiden entgegen.
Wilhelm reagierte nur mit einem Nicken und schleppte den Korb weiter ins Haus. Teresa trippelte dagegen näher, die Augen zu zwei schmalen Schlitzen verengt.
Leopold schaffte es wieder auf die Füße, wusste dann aber offenbar doch nicht, wie er seine Mutter begrüßen sollte, und verbeugte sich daher steif. »Grüß Gott, Mama.« Er streckte ihr ungelenk die Rechte entgegen.
Franziska bemerkte, dass an seiner Hand die letzten beiden Finger fehlten.
Teresa Bruggmoser richtete sich auf und starrte ihren Ältesten erstaunt an. »Poldl, dass es dich noch einmal hierher verschlägt.« Sie bekreuzigte sich.
Celeste war ebenfalls aufgestanden und hatte sich neben Leopold gestellt. »Wir brauchen eine Unterkunft«, erklärte sie resolut. »Aber das kleine Mädchen hat gesagt, es gäbe keine Zimmer.«
»Das ist richtig.« Franziska nickte. »Wir haben die Pension über die Kriegsjahre erweitert, aber wir sind ausgebucht.«
Leopold zog die Augenbrauen zusammen und machte eine Armbewegung, die die mäßig besuchte Gartenwirtschaft einbezog. »Gibt es wirklich Menschen, die Zeit und Geld zum Reisen besitzen?«
»Wohl kaum. Es sind überwiegend wichtige Herren, die mit organisatorischen Dingen in Meran zu tun haben, und einige wenige mitreisende Damen von Soldaten«, stellte Franziska richtig. »Aber so oder so habe ich keinen Platz für euch, so leid mir das tut.«
Leopold neigte den Kopf. Sein Blick verfinsterte sich. »Du konntest noch nie gut lügen. Das tut dir kein bisschen leid.«
Franziska ersparte sich eine Antwort. Teresa blickte verlegen zu Boden.
Die Situation schien zu einem Standbild zu gefrieren, doch da gab Celeste ihrem Stiefvater mit den Ellbogen einen Stoß in die Rippen.
Er zuckte zusammen, hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Und ihr habt ja recht. Hab zu viel Porzellan zerschlagen, was? Ich würde mich auch nicht aufnehmen. Ich hab nix, und ich tauge nicht einmal mehr zum Arbeiten.«
»Aber das ist deine Familie!«, fuhr Celeste ihn unvermittelt an. Franziska bemerkte beiläufig, dass sie ihn duzte. Aber das schien zwischen den beiden seine Richtigkeit zu haben. Hier in Südtirol galt das immer noch als sehr unhöflich, auch wenn diese Tradition allmählich bröckelte.
Leopold schüttelte den Kopf und schob Celestes Arm weg. »Lass es, Mädchen. Wir trinken ein wenig, und dann gehen wir.« Er schaute plötzlich auf, Franziska geradewegs in die Augen, dass sie Mühe hatte, unter diesem stechenden Blick nicht zurückzuweichen. »Nur . wenn du sie unterbringen könntest?« Er zeigte auf Celeste. »Sie kann arbeiten, so wie ihre Mutter früher.«
»Und du?«, entfuhr es Franziska.
Leopold zuckte mit den Achseln, senkte den Kopf und starrte wieder zu Boden.
Franziska gingen eine Menge Dinge durch den Kopf. Und es war bezeichnend, dass ihre Mutter, die alle ihre Kinder auf ihre Weise geliebt hatte, nicht für ihn...
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