Schweitzer Fachinformationen
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Er wollte diese Frage Meininger stellen, als er am nächsten Tag zu ihm gerufen wurde, aber gerade als Paul vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte, begann Meininger umgehend zu reden.
Wie sich durch die Akquisition von Clingo andere Perspektiven eröffnen würden, bisher unerreichbare Märkte, zusätzliche Geschäftsfelder mit neuen Chancen. Nach einer Weile unterbrach Meininger sich selbst und blickte Paul fragend an.
»Haben Sie denn Fragen oder einen Standpunkt dazu?«
Nun, eine Frage gab es da. Doch Paul schüttelte lahm den Kopf, es schien ihm nicht der richtige Moment. Den gab es sowieso nie.
»Ich bin Lebensmittelchemiker und kann Grillfleisch nach Kaffee riechen lassen, aber für das sogenannte Business Development oder Product Management sind andere zuständig, oder?«
Meininger lehnte sich vor, selbst im Gegenlicht konnte Paul die roten Flecken in seinem Gesicht sehen.
»Herr Hartmann, Sie sind einer der wenigen Lebensmittelchemiker in diesem Konzern mit weltweit immerhin 130.000 Angestellten. Also gewissermaßen Mitglied einer Elite. Ihre Aufgabe ist nicht nur das Forschen und Entwickeln nach Auftrag, sondern auch die aktive Mitarbeit an strategischen Entwicklungen!«
Er lehnte sich wieder zurück und fuhr mit der Hand durch die Luft.
»Diese Präsentation hätte ich ja sonst von einem Werkstudenten halten lassen können, war eh grad mal das Niveau einer Klassenarbeit in der Realschule.«
»Naja«, warf Paul leise ein, »ich hatte ja nur wenige Stunden Zeit und .«
Meininger unterbrach ihn mit einer Handbewegung, stand schwungvoll auf und drehte sich zum Fenster.
»Darum geht es nicht.« Er sprach, ohne Paul anzublicken. »Wie lange arbeiten Sie schon für WorldFood?«
»Acht Jahre«, antwortete Paul.
Meininger nickte. »Seit wann bin ich Ihr Vorgesetzter?«
»Seit knapp drei Jahren.«
Meininger nickte wieder.
»Und wie lange, glauben Sie, werde ich Ihr Vorgesetzter bleiben?«
Paul zuckte mit den Schultern und schwieg. Meininger drehte sich vom Fenster weg und schaute Paul an. Die roten Flecken hatten sich aufgelöst.
»Vielleicht weitere drei Jahre, länger nicht«, sagte er. »Ich habe andere Ziele als immer nur den gleichen Job, immer nur im gleichen Büro, immer nur das gleiche Geld. Doch dazu müssen Dinge ständig neu gedacht werden und auch mal quer und auch mal falsch rum.« Seine Stimme wurde lauter. »Was haben Sie denn an echten Innovationen in den letzten sechs Jahren in dieser Abteilung entwickelt?«
Paul zuckte zusammen. »Nun«, antwortete er nach kurzem Überlegen, »der von mir entwickelte Aromawert-Index hat dazu beigetragen, dass unsere Apfelsäfte bei höherer Kundenakzeptanz zu niedrigeren Kosten produziert werden können. Bestandteil meiner Arbeit war die Bewertung des Einflusses der Rearomatisierung und nicht-flüchtiger Geschmacksstoffe auf die Qualität von Apfelsäften aus Konzentrat unter besonderer Berücksichtigung des Konzepts der molekularen Sensorik.« Seine Stimme wurde fester. »Immerhin haben wir vor drei Jahren bei einem Vergleichstest den zweiten Platz erreicht, mit dem besonderen Hinweis auf den günstigen Preis. Das ist schließlich ein Erfolg, oder?«
Meininger hatte sich wieder gesetzt und nickte beiläufig.
»Ja klar, ich erinnere mich. Dolle Sache, keine Frage.« Er hob den Kopf. »Aber sehen Sie nicht das Große, das >big picture<?«
Paul schaute ihn wortlos an.
»Gut«, fuhr Meininger fort, »dann anders.« Er durchsuchte ein paar Schnellhefter, die auf seinem Schreibtisch lagen, öffnete einen und zog eine eng bedruckte Seite heraus.
»Mit welchen ihrer aktuellen Projekte leisten Sie Ihrer Überzeugung nach strategische und lukrative Beiträge für das Unternehmen?«
Paul beugte sich vor, nahm die Liste und überflog seine Projekte. Ein weiterer Auftrag im Bereich molekularer Sensorik, Optimierung von Tomatenerzeugnissen. Die Ergebnisse dieses Projekts wären eher für ihre Zulieferer wertvoll. Zum Thema Apfelsaft gab es ein anderes offenes Projekt, das sollte längst abgeschlossen sein. Dann die Entwicklung und der Einsatz von Peptidasenpräparaten aus gekeimtem Getreide zur Detoxifizierung zöliakieauslösender glutenhaltiger Lebensmittel. Ein schwieriges Verfahren, setzt sehr spezielles Getreide und einen komplizierten Verarbeitungsprozess voraus. Er tippte auf dieses Projekt.
»Wenn das hier klappt«, sagte er, »wäre das ein großer Markt. Eine halbe Million Menschen allein in Deutschland müssen eine glutenfreie Diät einhalten und dürfen kein normales Brot essen. Für diese Zielgruppe könnten wir eine ganz neue Produktlinie herstellen.«
Er reichte Meininger das Blatt über den Schreibtisch.
Meininger las kurz, nickte erst und schüttelte dann den Kopf.
»Das meine ich«, sagte er mit der Verzweiflung eines Grundschullehrers beim Thema Mengenlehre. »Sie sehen in der teilweisen Befriedigung eines kleinen Bedürfnisses einer kleinen Randgruppe ein großes Ziel. Ich jedoch suche nach einem großen Bedürfnis einer großen Zielgruppe, und zwar nun aus dem Blick eines Lebensmittel- und Pharmakonzerns.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ich habe deren Forschungsleiter in unserem Meeting zum ersten Mal gesehen.«
»Naja«, ergänzte er nach einer kurzen Pause, »einen Zielkonflikt sehe ich da schon.«
Meininger hob ruckartig den Kopf.
»Ach«, fragte er und zog dabei die Augenbrauen hoch, »einen Konflikt?«
»Nun«, antwortete Paul. Er sprach wieder leiser. »Immerhin haben zuckerhaltige Lebensmittel mit vierzig Prozent einen erheblichen Anteil am Konzernumsatz. Unsere Zuckerfabriken müssen ausgelastet werden. Wie wir gegen den Isoglucose Import bestehen können weiß ich nicht und zudem steigt das Gesundheitsbewusstsein der Konsumenten. Ich kann mir vorstellen, wenn dann auch noch diese Ampelkennzeichnung kommt, werden sich unsere Zuckersachen noch schlechter oder überhaupt nicht mehr verkaufen.«
Er legte eine Pause ein und schaute Meininger an. Meininger nickte. »Ja, stimmt und weiter?«, fragte er, nun wie der Grundschullehrer beim Einmaleins.
Paul überlegte und fuhr fort. »Da wären Ersatzstoffe wie Stevia eine gute Möglichkeit, Zucker zu substituieren und .« Er stockte.
»Ja?« fragte Meininger laut. »Und was?«
»So genau weiß ich das nicht«, gab Paul zu und blickte nach unten. »Die Umstellung aller Produktionsprozesse auf Steviolglycoside ist aufwändig. Rezepturen müssen angepasst werden, wir brauchen Ersatz für das fehlende Volumen, andere Konservierungsmittel. Der Aufbau von Produktionsstätten für Stevia ist teuer, auf dem Weltmarkt bestimmen die Amerikaner und Chinesen den Preis. Und dann noch die EU-Höchstgrenzen, alles nicht so einfach.« Er blickte wieder hoch, Meininger schien genau zuzuhören.
»Und was Clingo davon hätte weiß ich auch nicht. Die sind ja mit ihren Insulinprodukten davon abhängig, dass möglichst viele unserer Kunden durch hohen Zuckerkonsum irgendwann zuckerkrank werden.«
Meininger lächelte. Nicht dieses steife einstudierte Meeting-Lächeln, sondern das Grinsen, das er von ihm kannte, wenn er bei 240 km/h auf der Autobahn einen BMW von der linken Spur vertrieb. Paul hasste es jedes Mal, wenn er dabei war.
»Das meine ich«, sagte Meininger in gütigem Ton, »wenn ich von Querdenken rede. Es geht nicht um >Entweder-oder<, sondern um >Sowohl-als-auch<.«
Er beugte sich vor und verfiel in sein berüchtigtes Dozieren. Der Kampf der Verbraucher und Ärzte gegen Zucker sei uralt, bereits in den 70ern hätte es in den USA die ersten Gegenkampagnen gegeben. Hätte die amerikanische Zuckerindustrie nicht mit einer genialen PR-Kampagne verhindert, dass die »Food and Drug Administration« eine Klage spinnerter Wissenschaftler zulässt, dann, dabei deutete er auf Paul und sich, würden sie hier nicht sitzen. Paul schaute etwas fragend, doch Meininger fuhr fort.
Er möge sich diese Schlagzeile zum Thema Zucker vor vierzig Jahren in der Herald Tribune vorstellen: »Poison or Food?« Die ganze Öffentlichkeit gegen eine milliardenschwere Industrie. Natürlich sei Zucker - gerade in den hohen konsumierten Dosen - schädlich für den Körper, aber all diesen Angriffen habe die amerikanische Zuckerlobby durch Gegengutachten von, nun ja, »motivierten« Wissenschaftlern begegnen können. Übergewicht sei mit dem bösen Fett...
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