KAPITEL 1
Thorolf
Missmutig saß Thorolf an dem langen Tisch in seiner Halle und löffelte gesalzenen Haferbrei. Hinter dem gemauerten Herd reinigten seine Magd Ilka und deren Tochter Mara Töpfe und Schüsseln im Wasser eines großen Holzbottichs. Das Klappern des Geschirrs zerrte an seinen Nerven.
"Ruhe!", brüllte er.
Augenblicklich verstummten die störenden Geräusche.
Thorolf war sich seiner schlechten Laune bewusst. Diese rührte sowohl von seinem Schädelbrummen, das ihn gnadenlos an das Saufgelage am Vorabend erinnerte, als auch von dem beständigen Schmerzen eines Backenzahns, der seit ein paar Tagen unbarmherzig in seinem Kiefer pochte. Aber nicht nur das. Auch das belanglose Einerlei, das ihn erwartete, verursachte an Tagen wie diesem ein unzufriedenes Grummeln in seiner Brust. Dann gierte er nach Herausforderungen, die sein Blut in Wallung brächten, und sehnte sich nach dem Reiz von Abenteuern, wie er sie als junger Mann in seiner nordischen Heimat erlebt hatte. Damals hatte er mit seinem Handelsschiff fast alle Küsten der bekannten Welt bereist und innerhalb nur weniger Jahre ein beträchtliches Vermögen angehäuft.
Doch dann hatte er Asla, der schönen Tochter eines nordischen Königs, zur Flucht vor einer Ehe mit einem widerlichen Tyrannen verholfen. Für diese Liebestat, die fast einen Krieg heraufbeschworen hätte, war er zusammen mit seinen Brüdern Yngvi und Digur, die ihn unterstützt hatten, für die Dauer von sieben Jahren aus der Heimat verbannt worden.
Gemeinsam mit einigen Familien, die in der Auseinandersetzung mit Aslas rachsüchtigem Vater ihr Hab und Gut verloren hatten, waren sie auf ihren Schiffen zu einer Insel tief im Süden aufgebrochen, von deren freundlichen Bewohnern und fruchtbarem Boden ihnen ein weit gereister Händler berichtet hatte. Doch eine feindliche Flotte und heftige Stürme trieben sie weitab von ihrem eigentlichen Kurs auf den Ozean hinaus. Erst nach einer langen und bedrohlichen Irrfahrt erreichten sie die Küste einer anderen Insel. Dankbar hatten sie das große, unbewohnte Eiland Catan getauft, was in der Sprache des Volkes, zu dessen Insel sie ursprünglich hatten segeln wollen, "Land der Sonne" hieß.
Achtzehn Jahre war das her und so schön und fruchtbar Catan auch war, wurde die Insel Thorolf oft zu eng. Doch zu weit lag sie von seiner alten Heimat entfernt, zu gefährlich war die lange Reise über die tückische See, um von hier aus seine Handelsfahrten wieder aufzunehmen.
An weinseligen Abenden wie dem am Vortag verstummte bisweilen die Vernunft und er gab sich der verführerischen Vorstellung hin, am nächsten Morgen seine Knorr zu besteigen und mit ihr nach Osten zu segeln. Es war nur die Schläfrigkeit nach den vielen Bechern Wein gewesen, die ihn schließlich davon abgehalten hatte, noch in der Nacht ein paar seeerfahrene Männer aus ihren Betten zu holen und mit ihnen die lange Fahrt vorzubereiten. Vielleicht war es auch der Gedanke an seine erste Frau Asla gewesen, die er förmlich hören konnte, wie sie beharrlich an seinen Verstand appellierte und ihn schalt: "Schäm dich, Thorolf Ulrikson, du beleidigst die Götter, die uns in diese wundervolle neue Heimat geführt haben. Du bist Fürst über Waldhafen und dessen Einwohner achten dich. Das wolltest du doch immer. Was willst du mehr?"
Trotz seiner üblen Laune musste Thorolf schmunzeln. Asla sagte ihm oft schonungslos die Meinung, wenn sie eine seiner Handlungen missbilligte, nicht selten spitz und scharf. Bei einigen Themen - wie der Stärkung der Rechte von Frauen - war sie genauso unnachgiebig und stur wie er geblieben. Nach einem Vorfall, an den Thorolf sich nicht gern erinnerte, hatte Asla die Scheidung von ihm verlangt. Seitdem fehlte ihm etwas, das ihm seine zweite Frau Vildis nicht gab. Vielleicht lag darin eine weitere Ursache für seine anhaltende Unzufriedenheit.
Ein Jahr nach seiner Trennung von Asla hatte Thorolf eine der Töchter des Bauern Sören geheiratet. Vildis war ein hübsches, wenn auch für seinen Geschmack zu mageres Mädchen von fünfzehn Wintern gewesen, das ihm in der Hochzeitsnacht ebenso widerwillig wie ängstlich ins Ehebett gefolgt war. Tapfer, mit zusammengebissenen Zähnen hatte Vildis den Vollzug der Ehe ertragen. Später biss sie zwar nicht mehr die Zähne zusammen, wenn er in sie eindrang, blieb aber stets teilnahmslos und erwiderte weder seine Küsse noch die Liebkosungen seiner Hände. Wie er sich auch mühte, es gelang ihm nicht, Vildis' Inneres zu berühren und Gefühle in ihr zu wecken. Nach jedem Akt war ihr die Erleichterung anzusehen, es hinter sich gebracht zu haben.
Lange hatte Thorolf ihr Verhalten nicht verstanden. Er war Anfang vierzig, ein großer, ansehnlicher Mann mit noch immer dichtem schwarzem Haar und zudem ein Fürst, der über rund achthundert Menschen in der Gegend um Waldhafen herrschte. Er hatte immer geglaubt, jede Frau würde ihm zu Füßen liegen und ihn innig lieben - wenn nicht gleich, dann zumindest im Laufe der Zeit.
Als er Vildis nach Jahren mürrisch danach gefragt hatte, warum sie sich nichts aus ihm mache, hatte sie ihn verständnislos angeblickt und ihm mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme entgegnet: "Ich bin als junges Mädchen in die Ehe mit dir genötigt worden. Du hast mich nicht gefragt, ob ich dich liebe, bevor du mich zur Frau genommen hast. Weder meinem Vater noch dir war das wichtig. Warum störst du dich jetzt an meinen mangelnden Gefühlen? Bin ich dir nicht eine gute Frau? Wann immer du es willst, spreize ich meine Beine für dich. Ich gebäre dir Kinder und sicher wirst du dich nicht über die Führung des Haushalts beklagen." Widerwillig hatte er ihr zugestehen müssen, dass sie ihm eine gute Frau war, und es dabei bewenden lassen. Vildis hatte ihre Pflicht erfüllt und ihm im Lauf der Jahre sechs Kinder geboren - nur zwei davon hatten das Säuglingsalter nicht überlebt. Was das anging, hatte er wenig Grund zu klagen.
Jetzt hörte Thorolf das dunkle, glucksende Lachen seiner Frau. Er ging nach draußen auf den Hof. Das helle Morgenlicht eines späten, warmen Sommermorgens ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Vildis spielte Fangen mit Njala und Valny, ihren sechs und fünf Jahre alten Töchtern. Vildis war in den vergangenen Jahren fülliger geworden und trug ihre blonden Haare zusammengesteckt. Mit geröteten Wangen lief sie Njala hinterher, streckte einen Arm aus und grapschte vergeblich nach dem Hemd ihrer Tochter.
Vor Vergnügen kreischend schlug das Mädchen einen Haken und rannte auf eine Schar Hühner zu, die entrüstet gackernd in alle Richtungen davonstoben. Plötzlich stolperte Njala über einen Stein und stürzte. Nach einem kurzen Schreckmoment begann sie zu weinen. Besorgt eilte Vildis zu ihr, besah das aufgeschlagene Knie und hauchte einen Kuss auf die Schramme. Sie nahm Njala in den Arm und herzte und küsste sie, bis diese nur noch kleine Schluchzer von sich gab. Als Vildis zu Thorolf sah, stand Liebe in ihrem Blick. Aber die galt nicht ihm.
Thorolf ging über den Hof und pfiff nach einem Knecht, der Heu von der Scheune zum gegenüberliegenden Stall karrte. "Sattle mein Pferd!", wies er ihn an. Kurz sah er dem Mann nach, der beflissen zum Stall eilte, dann öffnete er das Tor seines Anwesens. Von hier aus hatte er einen weiten Blick auf den See und die Häuser Waldhafens. Vom Ufer des Gewässers zogen sich die reetgedeckten Dächer den sanft ansteigenden Hang bis zu seinem Fürstensitz hinauf.
Als sie damals Catan erreichten, hatte noch dichter, unwegsamer Wald das ganze Gebiet um den See bedeckt. Mühevoll hatten die Siedler mit ihren Knechten unzählige Bäume geschlagen und so Jahr für Jahr mehr Land für ihre Felder und Wiesen gewonnen. Inzwischen war der Saum des Waldes in weite Ferne gerückt.
Dorthin wollte er jetzt, um den Baufortschritt am neuen Weg zu begutachten. Auf die Begleitung seiner Gefolgsleute würde er verzichten - schließlich hatte er nicht vor, einen aufmüpfigen Bauern, der seine Abgaben nicht zahlen wollte, zurechtzuweisen und ihm seine Macht zu demonstrieren.
Der Knecht brachte ihm seinen Schimmel. Die temperamentvolle Stute tänzelte unruhig und schnaubte, als sich Thorolf in den Sattel hievte. Offenbar war das Pferd das Stehen im Stall leid und konnte es kaum erwarten, mit seinen Hufen auszugreifen. Mit einem freudigen Wiehern reagierte es auf seinen sanften Schenkeldruck und trabte los.
Thorolf folgte dem alten Weg nach Südosten. Felder mit heranreifendem Roggen und fast erntereifer Gerste wechselten sich mit blühenden Wiesen ab. Er ritt an einer Gruppe von Rindern vorbei, die bedächtig Büschel saftigen Grases malmten und ihm neugierig hinterherglotzten. Auf einer Wiese zu seiner Linken ragten verkohlte Pfosten in den Himmel - die Überreste der ersten Köhlerei, die sie bald nach ihrer Ankunft, damals noch tief im Wald, errichtet hatten.
Wenig später passierte er ein halb fertiges Gehöft. Ein junger Bauer deckte mit der Hilfe eines Knechts den Dachstuhl eines Nebengebäudes mit Schilfrohr ein. Als der Bauer seinen Fürsten erblickte, hob er die Hand und nickte ihm respektvoll zu. Wohlwollend erwiderte Thorolf den Gruß.
Sigurd war einer der vielen nachgeborenen Bauernsöhne Waldhafens, die nicht das Land ihres Vaters erben würden, und der Knecht hieß Beli. Thorolf hatte den ehemaligen Freien erst vor ein paar Wochen auspeitschen lassen und zu zwölf Jahren Knechtschaft verurteilt. Manche hatten gemurrt und moniert, das Urteil...