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Ich folgte der schrillen Stimme. Lauschte schneidender Angst darin. Entdeckte den glatzköpfigen Mann im Dachzimmer, ein kleines Kind in seinen Pranken. Es peinigend. Zitternd schloss ich die Augen, öffnete sie erneut und fand mich in einer Küche wieder. Eine dreistufige Treppe führte hinauf in die Kammer. Jemand rief: »Tu etwas!« Als der Glatzkopf mich entdeckte, hörte er auf, warf das Kind in eine Ecke, zog ein großes Messer hervor, starrte mich an, grinste ein breites Lächeln. »Was ist?! Soll ich das auch mit dir machen?!« Langsam kam er die Stufen herab. Rechts am Herd ein weiterer Mann. Er zuckte mit den Schultern, lächelte. Ich wich zurück. Ängstlich. Und das Kind? Ich war nur Zuschauerin! Nur Zuschauerin! Vor einer großen, weißen Leinwand, auf der ich atemlos einem Film folgte, mühsam versuchte, jede einzelne Situation zu entziffern, ihr einen Sinn zu entlocken. Ich lebte in diesem Traum. Was tat ich dort? Warum war ich feige? Bewegte mich in einer Kulisse, die mir bekannt vorkam, zwischen Menschen, denen ich einmal für einen Moment oder eine längere Zeit begegnet war. Mit einem Mal eine Frau neben mir, so sehr vertraut, aber eine Fremde an diesem Ort. Sie ließ mich zurück, bat mich aber doch, ihr zu folgen. Und nichts geschah. Stillstand um mich herum. Die Frau entschwand. Von einer Sekunde auf die andere befand ich mich an einem Ort, den ich nicht kannte, sich aber wie mein Zuhause anfühlte. Dann hörte ich wieder die spitzen, gellenden Schreie. So viele Schmerzen aus einem so kleinen Mund. Das Kind! Das Erschrecken seines Blickes steckte so tief in mir drin; immer wieder drehte ich den Kopf abseits und starrte doch wieder in das Gesicht aus Angst und Pein. Konnte ich nichts tun? Die Bestie in meinem Kopf töten? Deren rotglühende Kralle aus meinem Herzen herausreißen; und endlich aufwachen? Auftauchen aus einem dunklen Ozean ...
***
Die Aluminiumstege vibrierten.
»Du bist schweißgebadet. Jede Wette, du hast wieder mies geträumt. Nicht wahr?«
Ich blickte auf den Boden vor meinem Sitz. Gelochte Stege mit Schraubbefestigungen für Materialgurte. Unregelmäßig durchlief ein leichtes Zittern das Metall. Für einen langen Moment schloss ich die Augen und atmete tief ein.
»Wenn du so weiter machst, Chatrina, werden sie dir eines Tages auf die Schliche kommen.«
Ich sah auf und nickte.
»Das werden sie wohl, Reto. Eines Tages ...«
Er hustete heftig und formte aus Fingern einen Kamm, fuhr durch den krausen Berg Haare auf seinem massigen Schädel. Angewidert betrachtete er den glänzenden Fettfilm auf der Hand.
»Ich muss mal wieder duschen«, stellte er lakonisch fest.
»Das müssen wir alle.«
Reto wandte sich ab, lehnte den Kopf an das Haltenetz, schloss die Augen. Ich meinte, ihn leise röcheln zu hören, war mir aber nicht sicher. Es ruckelte einige Male kräftig und der gesamte Mannschaftsraum neigte sich auf die Seite, eine Tasse löste sich aus ihrer Halterung, rollte über die Tischplatte und fiel auf den Boden. Seufzend öffnete er die Augen und stellte sie wieder in die Halterung. Ich entdeckte feine rote Äderchen, die sich durch sein Augenweiß zogen. Ein metallisches Klacken, das rechte Schott öffnete sich. Geschäftiger Lärm und hektische Stimmen pressten sich in die Stille. Obmann Takunos Kopf erschien.
»Wir tauchen. Die See wird zu unruhig«, informierte er uns.
Ich nickte. Das Schott wurde verriegelt. Die Stille kehrte zurück.
»Es geht nicht nach Hause, oder?«
Retos Verdacht verweilte noch einen Moment in meinen Gedanken, bevor ich an die nächsten Tage dachte.
»Nein. Es geht nicht nach Hause. Wir fahren nach Süden.«
Er fixierte mich, verschwitzt, mit müdem Blick. Erschöpft. Wie wir alle.
»Was ist denn im Süden?«, setzte er nach.
»Eine Insel ist verschwunden.«
Es blieb still. Reto runzelte die Stirn.
»Sie wird abgesoffen sein«, vermutete er dann und zuckte mit den Schultern. »Kommt ja ab und zu vor, wenn die Dinger zu alt sind.«
»Die Insel ist ein Neubau«, klärte ich ihn auf. »Gerade mal ein halbes Jahr alt. Mit größtenteils erfahrener Bevölkerung.«
Er gähnte ausgiebig, blickte auf seine Waffe, dann an die Wand über mir. »Wann wolltest du es uns sagen?«, kam seine Frage unvermittelt.
»Ich habe es selbst erst vor zwei Stunden erfahren und außer dir schlafen alle«, erwiderte ich. Er stand auf, streckte sich.
»Na gut, dann dusche ich eben hier und leg mich in die Koje.«
Mit den Gedanken war ich bei meinem Traum und vermutete, Reto mit einem Nicken verabschiedet zu haben, war mir jedoch nicht mehr sicher. Nur das Verriegeln des linken Schotts, das zu unserem Schlafraum führte, hallte in mir nach. Bei durchgehender Tauchfahrt mindestens drei Tage im Boot, rechnete ich aus. Drei Tage, zwei Nächte. Genug Zeit, um dem Traum zu begegnen. Ich seufzte. Meine Medikamente gingen zur Neige. Mühsam erhob ich mich und trottete in die Mannschaftsunterkunft.
Wir schliefen. Schon seit zwölf Stunden. Der Geruch im Raum erreichte meine persönliche Schmerzgrenze. Die Frischluftzufuhr war kaum in der Lage, Feuchtigkeit und Düfte abzuscheiden. Leises Atmen. Retos Schnarchen hatte tatsächlich einen röchelnden Unterton. Ich stand auf, schlich mich hinaus und meldete fünfzehn Minuten Bedarf für eine Nasszelle an. Das Grün kam für die nächste Stunde. Dann ging ich in die Zentrale. Obmann Takuno entdeckte mich beim Eintreten, hob die Hand, winkte mich zu sich. Das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Er war, wie alle Boot-Kommandanten und Boot-Kommandantinnen, auf Ebene vier der Hierarchie. Es wäre an ihm gewesen, zu mir zu kommen. Doch es war sein Boot. Und solange alles nach Protokoll verlief, blieb das auch so. Seine Stellvertreterin rümpfte die Nase als ich an den Kartentisch trat. Takuno hob die linke Augenbraue.
»Obfrau Sutter, verzeihen Sie . durchgeschwitzte Gäste sind wir nicht gewohnt. Haben Sie eine Nasszelle reserviert?«
Ich lächelte ihn an. Takunos Stimme war gedämpft, fast zu leise. Sie passte in diese Zentrale mit ihrem schwach rötlichen Licht, den hochkonzentrierten Menschen vor den Instrumenten.
»In einer Stunde kann ich duschen«, bestätigte ich. »Wo sind wir?«
Er nickte. Flink packte er die holographische Seekarte und zog sie aus dem Tisch.
»Wir fahren in einer Tiefe von 500 Metern. Alle Inselgruppen in diesem Gebiet sind abgetaucht. Zwei sich gegenseitig schwächende Tiefdruckgebiete rotieren momentan über unserem Zielgebiet. Wir können nicht an die Oberfläche. Die Vorhersage gibt Entwarnung für morgen früh. Dann sollten wir einige Tage eine ruhigere Wetterlage bekommen.«
Unser Boot schwebte als grüner Lichtpunkt unter unzähligen Quadraten. Den getauchten Inseln. Dreihundert Meter über uns. Es juckte am Hinterkopf und ich kratze mich spontan, musterte die Fingernägel. Dreck! Takuno grinste und fixierte Sato.
»Besorgen Sie Obfrau Sutter bitte eine Tasse Tee und etwas zu essen«, trug er ihr auf, drückte das Hologramm in den Tisch und holte Luft. Ich ahnte seine Fragen.
»Was wissen Sie über Insel 64?«, kam ich ihm zuvor.
Er legte kurz den Kopf auf die Seite und sah mich überrascht an.
»Vermutlich weniger als Sie, Obfrau.«
Ich zog das Pad aus der Hemdtasche und zeigte ihm die Nachricht. Takuno las schweigend, ohne dass sich ein Muskel in seinem Gesicht rührte. Als Sato mit dem Tee und einem Teller Seetang-Rollen zurückkam, reichte er mir das Pad zurück und nahm seiner Stellvertreterin Becher und Essen ab.
»Danke, Sato. Machen Sie bitte das Grundsonar klar. Fahren Sie einen doppelten Test.«
Sie nickte und verschwand. Takuno grinste.
»Redet nicht viel. Ist dafür ungemein zuverlässig. Sie will zu den Mobilen Einheiten. Vielleicht was für Sie, Obfrau?«
Ich nahm ihm den Becher ab und schlürfte langsam vom heißen Tee. Er schmeckte ausgezeichnet.
»Ich werde es im Hinterkopf behalten, Takuno. Momentan sind alle Positionen zu meiner vollsten Zufriedenheit besetzt, aber ich werde mich umhören, wenn wir wieder zuhause sind.«
Er steckte sich eine Seetang-Rolle in den Mund, kaute, sah mich für einen Moment an und drehte sich um. »Wir gehen in meine Kabine«, sagte er fast unhörbar. Ich folgte ihm.
»Sie ist größer als bei den älteren Booten«, wunderte ich mich erstaunt. »Ich war noch nie auf einem der neueren Boote. Das ist ja fast luxuriös.«
Takuno reagierte nicht, setzte sich aufs Bett, klappte einen Tisch aus der Wand und stellte die Rollen darauf ab. »Salzig und scharf. Mein Lieblingsgebäck.« Er griff sich eine der grünen Scheiben, biss hinein und deutete auf die mit rotem Vlies bezogene Bank.
»Bitte, setzen Sie sich, Obfrau. Diese Boote haben...
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