Kapitel 3
Vincent
Einen Tag später stehe ich noch vor Trainingsbeginn vor dem Büro von Simon, das sich nah bei den oberen Rängen befindet. Mit dem Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, zertrete ich einige vertrocknete Blätter, die der Wind hierhergeweht haben muss. Während ich beobachte, wie unser Co-Trainer Keshaw die Auffrischung der Spielfeldlinien überwacht, die gestern ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden sind, dringen aus Simons Büro Stimmen an mein Ohr. Unser Trainer scheint sich mit Sam Fildon, dem Teameigner, zu unterhalten.
»Das ist eine Katastrophe, Simon!«, ruft Fildon gerade außer sich.
Sofort schnürt sich mir die Kehle zu. Den ganzen gestrigen Abend habe ich überlegt, wieso wir jetzt schon drei Spiele in Folge verloren haben. Wieso mich die Erinnerungen an meine Frau permanent dazu bringen, unkonzentriert auf dem Platz zu sein. Aber ich finde einfach keine befriedigende Antwort, die mir dabei helfen könnte, endlich wieder zu dem Sportler zu werden, der ich vor anderthalb Jahren noch gewesen bin.
»Ich weiß«, räumt Simon nun geknickt ein. Dabei kenne ich ihn so gar nicht, denn bisher war er immer eine Frohnatur und wirkte energiegeladen und unerschütterlich. Aber bisher gab es auch zu anderen Emotionen kaum einen Grund.
»Es sind noch zwei Spiele, bis es in die Play-offs geht. Eins müssen wir in jedem Fall gewinnen, um noch die Chance zu haben, in die K.-o.-Runde zu kommen. Ansonsten blamieren wir uns.« Fildons Schritte werden lauter. Er scheint zur Tür zu laufen. Doch gleich danach werden sie wieder leiser. »Bisher sind wir eines der besten Teams, die es jemals in der NHL gegeben hat. Wir haben den Superbowl bisher so oft gewonnen. Du bist wirklich talentiert und weißt, wie du die Männer dazu bekommst, Höchstleistungen zu erbringen. Aber du musst die Kurve kriegen. Ansonsten muss ich die Reißleine ziehen.« Die Worte sind wie ein Stein, der hart und dumpf in meinem Magen aufschlägt.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, antwortet Simon nach einer gefühlten Ewigkeit. Kurz darauf geht die Tür auf, und Mr Fildon verlässt den Raum, ohne mich wahrzunehmen.
Dafür verfehlen seine Worte nicht ihre Wirkung, auch wenn sie gar nicht für mich bestimmt waren. Ich hole tief Luft, drücke mich von der Wand ab, klopfe an der offen stehenden Tür und trete ein, während Simon mich noch hereinbittet. Dieser steht mit beiden Armen auf den Tisch gestützt da und studiert ein Stück Papier, auf dem verschiedene Spielzüge aufgemalt sind.
»Ist es unpassend?«, frage ich und zeige nach draußen, um zu verdeutlichen, dass ich das Gespräch der beiden mitbekommen habe.
Doch Simon schüttelt den Kopf. »Nein, alles gut. Ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass fehlende Leistungen irgendwann zu Konsequenzen führen.« Er sagt es so locker. Dabei höre ich deutlich seine Sorge. Aber ich kann nicht genau ausmachen, ob es daran liegt, dass er Angst um seinen Job oder das Team hat. Dazu kenne ich ihn noch nicht lange genug.
»Also, wie kann ich dir helfen?«, fragt Simon weiter und löst sich von seinen Notizen, um mich aufgeschlossen anzusehen.
»Ich wollte .« Abrupt stocke ich, denn die Gewissensbisse drohen, mich zu übermannen.
Simon blickt mich unterdessen erwartungsvoll an. Er muss sich seine blonden, kurzen Haare gerauft haben, denn sie sind leicht zerzaust.
»Ich wollte mich entschuldigen«, sage ich schließlich und merke, wie sich ein kleiner Teil meiner Anspannung löst.
»Entschuldigen?«, wiederholt mein Coach und wirkt überrascht. »Wofür?«
Schon sehe ich Lauras Gesicht wieder deutlich vor mir. Ihr Lächeln, bei dem sie ihre Nase nur minimal nach oben zieht. Wie sie über ihren Bauch streichelt, weil sie unser gemeinsames Kind erwartet hat, das unsere kleine Familie perfekt gemacht hätte. Doch die Bilder enden abrupt, als ich erneut den Schrei höre, der mich auch nach anderthalb Jahren nachts aufwachen lässt.
»Ich war so unkonzentriert«, presse ich hervor und sehe auf meine großen Hände, denen der letzte Ball, der uns hätte zum Sieg führen können, entglitten ist. Ich habe versagt. Schon balle ich die Hand zur Faust.
»Wenn du deswegen Konsequenzen ziehen musst, dann .«
»Stopp«, unterbricht Simon mich bestimmt.
Abrupt sehe ich zu ihm.
»Du bist erst seit dieser Saison bei uns, weil du in der letzten ziemlich viel verkraften und verarbeiten musstest. Und das ist in Ordnung und für mich keine Bemessungsgrundlage dafür, Konsequenzen«, dieses Wort setzt er in Gänsefüßchen, »zu ziehen, die absolut sinnlos wären.« Er kommt auf mich zu und legt mir eine Hand auf die Schulter.
Ich lasse meine Hände sinken, die sich aus ihrer Starre lösen.
»Das, was dir widerfahren ist, ist furchtbar. Ich kann mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, was du durchgemacht hast, und ich bin mir sicher, dass dich die Erinnerungen daran auch auf dem Spielfeld verfolgen.«
Wie recht er doch hat.
»Ich gebe zu, es ist gerade nicht die beste Voraussetzung für einen Sieg. Aber wir sind ein Team, und wir gewinnen oder verlieren gemeinsam. Das war schon immer so und wird so bleiben. Zumindest so lange ich hier bin und diese Philosophie vertrete und lebe.«
Seine Worte sind wie Balsam für meine Seele, die sich seit meinem Start hier in Clearwater wünscht, endlich die Vergangenheit hinter sich zu lassen, damit sie vollkommen im starken Mannschaftsgefühl, das hier herrscht, aufgehen kann. Denn mehr ist mir von meinen Träumen nicht geblieben, die weit über die Grenzen des Superbowlsiegs hinausgegangen sind.
»Ich weiß auch, dass du dich immer noch schwer damit tust, dich ins Team zu integrieren. Vielleicht ist das ja ein Punkt, an dem du ansetzen kannst, um den Teamspirit etwas mehr zu fördern und zu spüren.«
Sofort fällt ein weiterer Stein dumpf in meinen Magen, bevor ich die Schultern abwehrend hochziehe. Es ist nicht so, dass ich mich nicht integrieren möchte. Aber in diesem Stadion begegnet einem an jeder Ecke Glück und Zufriedenheit. Das Wort Partnerbörse springt einem förmlich überall direkt ins Auge. Schon angefangen bei Simon und seiner Frau, deren Zusammenkommen hier wie eine gute alte Geschichte am Lagerfeuer erzählt wird. Und ich? Kämpfe immer noch mit dem Tod meiner Frau und unseres ungeborenen Kindes. Doch das spreche ich nicht an. Nicht heute und auch nicht, solange wir nicht die Play-offs erreichen. Im Grunde weiß es Simon ja schon und hat Verständnis. Vielleicht sollte ich also seinem Wunsch einfach nachkommen, damit er weiterhin mein Coach bleibt.
»In Ordnung«, murmle ich wenig überzeugend.
»Super. Gib einfach dein Bestes, genau wie der Rest von uns. Vertrau in unser Spiel, in mich, in euch, und dann werden wir gewinnen.«
Ich nicke nur und verlasse anschließend sein Büro. Während ich die Tür schließe, hole ich tief Luft und stehe einige Sekunden nur da, in denen ich meine Gedanken ordne.
Ich hätte nie gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, im Stadion Fuß zu fassen. In meinem alten Team war ich neben dem Quarterback der Starspieler und viel geselliger, weil ich Laura hatte und eigentlich gar nicht anders konnte, als überallhin mitzugehen, um ihre Neugier zu befriedigen. Und hier wirkt es so, als würde ich gerade erst das Laufen lernen.
So kann es auf keinen Fall weitergehen. Ich straffe die Schultern, hole ein weiteres Mal tief Luft und mache mich auf den Weg zu den Umkleiden, um mich für das Training umzuziehen. Eventuell schaffe ich es dieses Mal, einmal als Erster das Wort Hallo in den Mund zu nehmen, anstatt nur stillschweigend dazustehen und den anderen beim Herumalbern zuzusehen.
Gedankenverloren steige ich die Treppen hinunter. Bis jetzt wirkt alles ganz verschlafen. Nur das Servicepersonal, das den Müll beseitigt und alles reinigt, ist unterwegs. Dabei herrschte gestern noch reges Treiben, als uns die Zuschauer angefeuert haben, ehe es in Buhrufe ausgeartet ist und ich einfach abgehauen bin.
Schließlich komme ich vor den Umkleiden an. Die Tür ist angelehnt. Mich dafür wappnend, gleich etwas zu sagen, das nichts mit dem Sport zu tun hat, lege ich die Hand gegen das kalte Eisen und stoppe doch, als ich die Männer dahinter lachen höre. Natürlich ist Chris der Erste, der das Wort ergreift.
»Ich sag's euch, der Club ist super und nicht so überlaufen.«
»Ach, so wie der letzte?«, entgegnet Davis. Sowohl er als auch Chris klingen entspannt und nicht sorgenvoll wegen der schlechten Ergebnisse.
»Als wir uns vor den Reportern nicht mehr retten konnten. Susanna war danach echt ganz schön aufgewühlt«, ergänzt Jason, dessen Stimme immer lauter wird, weil er bestimmt in meine Richtung läuft. Sofort weiche ich einige Schritte zurück. Doch die Tür geht nicht auf.
»Was kann ich denn dafür, dass gerade an dem Tag dort eine Veranstaltung von diesen Skandalsuchern stattfindet?«
Alle lachen ein weiteres Mal, ehe Chris erneut das Wort ergreift. »Also, was sagt ihr? Versuchen wir es noch einmal?«
Zuerst bleibt es still. Dann höre ich Davis sprechen. »Von mir aus. Aber nur, wenn du eine halbe Stunde eher da bist und die Lage checkst.«
»Deal«, erwidert Chris sofort. Ein bestätigendes Raunen geht durch die Runde der Männer, die mein Team darstellen.
»Gut, dann frage ich nachher gleich noch Vincent«, sagt Davis.
»Wo ist er überhaupt?«, fragt Leroy.
»Ich habe ihn vorhin hoch zu Simons Büro gehen sehen. Vielleicht will er etwas besprechen, so schnell wie er gestern vom Platz gestürmt...