Kapitel 1
Susanna
Hastig ziehe ich den Reißverschluss der Reisetasche auf, bis mich die Leere im Inneren anstarrt und fast schon überfordert. Genauso fühle ich mich auch, denn in meinem Kopf wollen sich die zuvor erlebten Minuten nicht zu einem Bild zusammensetzen. Lediglich der Schmerz, der in einem gleichbleibenden Rhythmus über meine rechte Wange, meinen Bauch und Taille pulsiert, zeigt mir, dass das alles real ist. Dass dieser Albtraum gerade seinen Höhepunkt gefunden hat und ich hart auf dem Boden der Realität, die ich seit Jahren nicht wahrhaben wollte, aufgeschlagen bin.
Immer noch unterdrücke ich die Tränen, die sich in meinen Augen aufstauen und endlich an die Oberfläche brechen wollen. Doch das können sie nicht. Das dürfen sie nicht. Sonst würde ich augenblicklich zusammenbrechen. Also ignoriere ich das von Sekunde zu Sekunde stärker werdende Pochen in meinem Fuß - warum musste ich auch umknicken - und torkle auf wackeligen Beinen mit der über den Boden schleifenden Tasche zum Kleiderschrank in meinem Schlafzimmer. Bei den letzten Schritten verlässt mich kurz die Kraft, und ich falle gegen die geschlossene Tür, an deren Griff ich mich festhalte, um zu verhindern, dass ich komplett zusammensacke.
Tief hole ich Luft, damit ich meine Emotionen irgendwie unter Kontrolle halte. »Reiß dich zusammen, Susanna«, ermahne ich mich selbst, drücke mich vom Schrank ab und schaffe es beim Zurücktreten in einen einigermaßen stabilen Stand. Dann endlich ziehe ich mit schwitzigen Händen den Schrank ruckartig auf. Weiterhin scheint mein Kopf leer. Zumindest rede ich mir das ein, denn langsam wollen die Erinnerungsfetzen zurückkehren.
Wie mechanisch ziehe ich die mit Blumenmustern bedruckten Shirts heraus, knülle sie zu einem großen bunten Knäul zusammen und stopfe alles in die Tasche. Das Gleiche tue ich mit einigen Hosen, Unterwäsche und Socken. Leider sehe ich dabei permanent aus dem Augenwinkel seine Hand, die auf dem weichen Hochflorteppich nur noch schwach zuckt.
Meine Atmung wird schneller. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Das Ticken der unbarmherzigen Uhr in meinem Ohr wird lauter, weil ich das Gefühl habe, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Die nächsten Minuten und mein Handeln werden über Leben und Tod entscheiden.
Was mache ich hier nur? Ich kann ihn doch nicht liegen lassen. Was ist, wenn .?
Ich schlucke. Ohne es steuern zu können, wandert mein Blick zum Fenster. Die Sonne geht bald unter. Sie taucht bereits die Wände unseres Hauses in ein sanft orangefarbenes Licht. Ein Licht, das ich sonst so sehr liebe, aber heute scheint es meinen Untergang einzuläuten.
Immer wieder überlege ich, wie ich am besten so schnell wie möglich von hier wegkomme. Wie ich dieser Hölle, die ich viel zu lange zugelassen habe und für die ich keine Kraft mehr besitze, entfliehen kann. Denn wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich es nie tun, sondern weiterhin die blauen Flecke überschminken oder die Jacke über die roten Striemen auf meiner Schulter ziehen. Nein, das kann ich nicht mehr. Es wäre mein Tod, lieber nehme ich seinen in Kauf, wenn es sein muss.
Ohne mich noch einmal zu ihm umzudrehen, humple ich mit starrem Blick aus dem Zimmer, die Tasche weiter hinter mir herziehend. Langsam passiere ich die Treppe, die sich in der Mitte der Etage befindet, und steuere auf das Arbeitszimmer zu, das genau am anderen Ende des Flurs liegt.
Dort angekommen, stütze ich mich an der neuen Couch ab, deren Geruch den ganzen Raum einnimmt. Blut tropft auf das weiße Leder. Vorsichtig taste ich meinen Kopf ab, bis ich an der Schläfe die Wunde ausfindig mache. Erst jetzt realisiere ich, wie hart sein letzter Schlag gewesen und wie abgestumpft ich sein muss, dass ich nicht einmal das Brennen meiner aufgerissenen Haut spüre. Ein weiterer Grund, ihn sofort zu verlassen und nicht über sein Schicksal nachzudenken.
Also laufe ich an der Couch entlang und erreiche seinen Schreibtisch. Ächzend beuge ich mich zu dem obersten Schubfach runter und tippe den Sicherheitscode ein. Es piept, das Schloss entriegelt sich und ich blicke auf einen kleinen Teil unseres Vermögens, das hier in Bündeln gestapelt und als Reserve oder Sicherheit, wie er es immer formuliert, liegt. Jetzt wird es mir dabei helfen, ihm zu entkommen.
Ich lasse den Henkel der Tasche los, greife mit beiden Händen in das Schubfach und stopfe so viel Bargeld wie möglich zwischen meine Klamotten.
Ohne mir eine Pause zu gönnen, schließe ich hastig den Reißverschluss und laufe, meinen immer stärker pochenden Fuß schonend, zurück in den Flur.
Im Schlafzimmer brummt es. Ein dumpfer Knall folgt, Glas zerbricht und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Das war die Nachttischlampe! Mein gesamter Körper zittert. Als hätte jemand die Anleitung, wie ich einen Fuß vor den anderen setze, in tausend Schnipsel zerrissen, bin ich unfähig, mich zu bewegen. Ist er wieder wach? Hat er sich hochgerappelt und geht gleich auf mich los?
Ich will das nicht mehr. Ich muss hier raus, weit weg von ihm, von diesem Haus und von diesem Leben. JETZT!
Ich umgreife den Riemen der Tasche fester, setze mich humpelnd in Bewegung und laufe endlich zur Treppe. Verbissen nehme ich jede Stufe einzeln. Die Tasche hinter mir schlägt immer wieder dumpf auf die nächste Stufe. Endlich komme ich unten an und durchquere den endlos wirkenden Flur, in dem die Tasche erbarmungslos über den neu verlegten Holzdielenboden schleift.
Von oben klopft jemand auf den Boden. Alle Haare stehen mir zu Berge. Kaum bin ich an der Eingangstür angekommen, ergreife ich panisch den Schlüsselbund, der auf dem kleinen weißen Tisch neben der Tür liegt. Mit weiterhin zitternden Fingern suche ich den richtigen Schlüssel, um die Tür aufschließen zu können, die ER am liebsten immer doppelt und dreifach verriegelt, als wären alle Bewohner dieses Hauses seine Gefangenen.
Im oberen Flur schleift sich jemand über den Boden. Alles in mir setzt aus, denn ich allein bin seine Gefangene, die an ihn gefesselt ist.
Nun kann ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Sie fließen mir über die Wangen, doch ich halte nicht inne, um sie wegzuwischen. Da! Endlich halte ich den richtigen Schlüssel in den Händen und stecke ihn ins Schloss. Ich öffne die Tür und nachdem auch die Tasche auf dem Treppenvorsprung unserer Stadtvilla steht, schließe ich die Tür und verriegle sie, so wie er es immer fordert.
Noch immer atme ich nicht auf. Nein, sofort hinke ich die drei Treppenstufen hinunter. Die Tasche knallt laut von einer auf die andere Stufe und folgt mir über die hellgrauen Gehwegplatten bis zur Garage.
Kaum betätige ich die zwei grünen Knöpfe an der Seite, öffnet sich der Zugang zum Grundstück. Gleichzeitig fährt ratternd das Tor vor mir hoch, und noch bevor es ganz oben angekommen ist, zwänge ich mich unter dem schmalen Spalt hindurch. Der Schlüssel ist nah genug, sodass die Blinker am Auto aufleuchten und es entriegelt wird. Kopflos zerre ich die Tür des Wagens auf, schmeiße die Tasche auf die Beifahrerseite und starte den Motor.
In mir macht sich ein Gefühl breit, das ich nicht benennen kann. Ich will losfahren, stelle den Fuß aufs Gaspedal . aber ich schaffe es nicht, es durchzudrücken. Alles ist bereit. Die Garagentür und das Tor zu unserer Einfahrt stehen sperrangelweit offen und fordern mich förmlich auf, den Weg in die Freiheit zu nehmen. Wohin? Das ist eigentlich vollkommen egal. Ich könnte überallhin. Die Welt steht mir offen. Aber mein Körper und vor allem mein Fuß auf dem Pedal ist bewegungslos.
Ich sehe in den Rückspiegel, aus dem mir mein Spiegelbild mit dem verschmierten Make-up entgegenstarrt. »Was tue ich hier gerade?«, sage ich mir selbst und spüre mein Gewissen, das mich wie ein immer wiederkehrender Blitz in meinen Gedanken zwackt.
Ich kann ihn doch nicht schwer verletzt liegen lassen und ihn seinem Schicksal überlassen? Wenn ich jetzt gehe und er erneut das Bewusstsein verlieren sollte, wird ihn niemand finden. Er wird einfach so daliegen, eventuell wegen seiner Platzwunde am Kopf verbluten und im schlimmsten Fall .
Erneut rinnen mir die Tränen über die Wangen, weil ich nicht wegkann. Nicht so und nicht jetzt. Ich kann nicht für den Tod eines Menschen verantwortlich sein. Egal, wie kontrollsüchtig und brutal er die letzten sechs Jahre zu mir gewesen ist. Ich . ich . ich kann nicht aus meiner Haut oder aus dieser Rolle ausbrechen - noch nicht.
Kraftlos gleiten meine Hände vom Lenkrad und ich schalte den Motor aus. Ohne der Tasche weiter Beachtung zu schenken, öffne ich die Autotür, steige aus und laufe zurück zum Haus. Das Rattern des sich schließenden Rolltors begleitet mich, bis ich zurück in der Villa bin.
Hier drin ist es totenstill. Kein Geräusch außer dem Rasensprenger, der in regelmäßigen Kreisen das Wasser verteilt, ist durch das geöffnete Fenster in unserem Esszimmer zu hören. Und ich richte meinen Blick nur allzu gern nach draußen, weil ich mich nicht traue, die Treppe nach oben zu schauen.
Ob er noch atmet?
Als würde der Film, in dem ich die Hauptrolle spiele, rückwärtslaufen, lege ich den Schlüssel zurück auf den Tisch, an dem etwas Blut klebt. Ich blicke auch weiterhin nicht zur Treppe, sondern gehe schnurstracks nach links, durch das Esszimmer direkt in die Küche, wo ich nach dem Telefon an der Wand greife, weil mein Handy oben im Bad liegt - und da wird es auch bleiben. Gleichzeitig schalte ich den Fernseher an, um diese unerträgliche Stille zu durchbrechen,...