Schweitzer Fachinformationen
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Wegweinen lässt sie sich nicht, also lachen wir: Zwei wild entschlossene kopflose Hühner gackern sich in die Apokalypse. Die Welt geht unter, aber wir trennen seit zehn Minuten akribisch die Luftpolsterfolie unserer Umschläge vom Papier.
Ein weiterer früher Morgen im Frühjahr 2020, nur wenige Wochen nach Beginn des Lockdowns und eine Woche nach dem schweren Erdbeben, das Zagreb erschüttert hat. Jetzt hängt über der ganzen Stadt eine Staubwolke. Wir, zwei gleichaltrige Frauen, stehen mit unseren halb aufgerissenen Luftpolstertaschen vor den Recycling-Containern in der Marticeva-Straße und schütteln uns vor Lachen, obwohl wir uns gar nicht kennen.
Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke, und wir sehen einander, aber auch uns selbst: Mit Zottelhaaren und schief sitzender Corona-Maske sortieren wir unseren Müll in die entsprechenden Tonnen, um wenigstens ein bisschen Kontrolle über diese schrottreifen Zeiten zu gewinnen, wenn sich mit unseren latexüberzogenen Händen schon nichts anderes in Ordnung bringen lässt. Pyramiden, Revolutionen, Symphonien, die Raumfahrt, die Quantenphysik, die Mona Lisa - und wir stehen Anfang des 21. Jahrhunderts wie der Müll der Menschheitsgeschichte da.
Unser hysterisches Gelächter soll die allzu menschliche Frage ersticken, die sich in dieser Zeit aufdrängt: Sind wir jetzt nur noch so? Können wir wirklich nicht mehr machen?
»Was machen wir jetzt?«
Diese Frage wurde mir nach so gut wie allen Vorträgen gestellt, die ich 2019 an zahlreichen Veranstaltungsorten in zahlreichen Ländern hielt. Nachdem Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist erschienen war, sprach ich fast das ganze Jahr hindurch über die Logik der politischen Maschinerie, der wir all das Chaos, all die Angst und Verzweiflung zu verdanken hatten, unter der wir so sehr litten. Kein Land sei gegen die lähmende politische und moralische Pest unserer Zeit immun, lautete meine Behauptung. Doch bis ich das entspannte westliche Publikum davon überzeugen konnte, dass diese neue Form von Faschismus einen globalen Krieg gegen die Grundlagen menschlicher Vernunft führt, begannen sich meine Vorhersagen auch schon zu bewahrheiten. Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte, herrschte jedes Mal tiefes Schweigen im Saal, bevor jemand die erste Publikumsfrage stellte. Irgendwann wurde mir klar, dass viele Anwesende in der bleiernen Stille mit einer wichtigen Entscheidung rangen: »Soll ich fragen, wie wir diesem übergriffigen Wahnsinn entkommen können, oder einfach rausgehen und das Ganze bei einem Drink vergessen?« Die Alternativen, die uns die Welt von heute bisher geboten hatte, erschienen vielen von uns schließlich kaum sinnvoller als das Entfernen der Luftpolsterfolie aus Papierumschlägen - oder aber als beängstigend radikal, Stichwort Revolution. Der riesige Raum dazwischen, in dem das wahre Leben stattfindet, wurde selten thematisiert. In diesem wahren Leben kam gerade eine historische Phase zum Abschluss; es fühlte sich aber eher so an, als wäre die ganze Menschheit am Ende.
Jeder Status quo besitzt die magische Fähigkeit, den Massen weiszumachen, ein untergehendes System würde auch alles andere mit sich reißen.
So verhalten sich alle Systeme, nämlich wie ängstliche Seeleute in der Antike: Sobald du in unbekannte Gewässer segelst, warnen sie, wirst du über den Rand der Welt hinweggespült. Genau das, erzählt man uns, passiert gerade. Unser politisches und wirtschaftliches System sei an seine Grenzen gelangt, taumle und drohe uns alle mit sich in den Abgrund zu ziehen. Jede Entscheidung, die wir treffen, erscheint so wirkungslos wie der Eimer, mit dem man das volllaufende Boot leer zu schöpfen versucht. Das schiere Ausmaß des Chaos verleitet uns zu dem Glauben, nichts würde genügen, ganz egal was wir machten. Und irgendwann ist vergessen, dass wir Menschen sehr wohl in der Lage sind, uns mit Hilfe auch kleinster Dinge neu zu erfinden.
Ob sie die Sachen nicht richtig in die Hand nimmt, weil Kinder mit kleinen Gegenständen instinktiv behutsam umgehen, oder ob es einem erlernten Ekel geschuldet ist, kann ich aus meinem Blickwinkel nicht erkennen. Jedenfalls sammelt die fünfjährige Zeyno im Sommer 2019 an einem menschenleeren Strand der griechischen Insel Kalymnos etwas. Sie hebt die Sachen mit spitzen Fingern auf und läuft damit zum Sonnenschirm zurück. Ist der Gegenstand sicher deponiert, zieht sie von Neuem los, um langsamen Schrittes den Boden abzusuchen.
Weil sie unermüdlich so weitermacht, folgen ihr irgendwann zwei Frauen mittleren Alters aus entgegengesetzten Richtungen. Der lässige Schlendergang, in dem sie sich nähern, soll ihre Neugier kaschieren und den Anschein erwecken, Zeynos Sonnenschirm läge ganz zufällig auf ihrem Weg. Schließlich bleiben sie davor stehen und betrachten den mysteriösen Haufen. »Plastikteile«, sagt die eine. »Ach, sie sammelt Müll«, meint die andere. Dabei lächeln sie sich so vielsagend zu, wie es Erwachsene tun, wenn ihnen Begeisterung begegnet. Wie eine Eichhörnchenmutter, die Gefahr wittert, eilt Zeyno zurück, um das Nest zu verteidigen. Noch ganz außer Atem hält sie einen sehr engagierten Vortrag darüber, wie schädlich Plastik für »unsere Erde« sei und dass man aus Plastik »Kunst« machen könne, ja wirklich. Nachdem die beiden Frauen dem Kind anerkennend den Kopf getätschelt haben, machen sie sich wieder auf den Weg zu ihren eigenen Sonnenschirmen. Doch dann bleiben sie fast gleichzeitig stehen, bücken sich nach einem Stück Müll im Sand, kommen zurück und fügen es der Sammlung des kleinen Mädchens hinzu. Anstatt sich weiter in der Sonne zu aalen, suchen auch sie jetzt den Strand ab. Von der unverhofften poetischen Mittagsstimmung beflügelt, erinnern sie sich: Selbst in kaputten Zeiten wie diesen gibt es da unsere angeborene Neigung, Schönes zu schaffen. Jedes Mal, wenn ein System in der Mülltonne der Geschichte landete, hat sie dafür gesorgt, dass es mit uns Menschen weiterging. Und allen Schwarzmalern zum Trotz, die noch bei jedem Zusammenbruch das Ende gekommen sahen, war dieser Wesenskern unserer Spezies der Grund, warum wir immer von Neuem an die Menschheit geglaubt haben.
Als ich in Zeynos Alter war, verstand ich die stumme Sprache der Dinge noch. Bei uns zu Hause gab es eine Schublade, die als letzter Aufenthaltsort für kleine, nicht mehr benutzte Gegenstände diente. Die Entscheidung über ihr Schicksal wurde ständig vertagt: Kugelschreiber mit irgendwelchen Macken, die eines Tages aber vielleicht doch funktionieren würden, Bänder, die auf ihren Einsatz als Verschönerung von Notgeschenken warteten, rostige Schlüssel für längst nicht mehr existierende Türen, halb vertrocknete Lippenstifte, ein zerbrochener, von schwarzgrauen Sprüngen durchzogener Handspiegel, Plastikkämme mit abblätternder Beschichtung und der ganze andere Krimskrams unseres Lebens, dessen Anspruch auf einen eigenen Platz im Haus erloschen war. Das alles lag in dieser Schublade und wartete auf den nächsten Wegwerfanfall meiner Mutter. Die Klage dieser Dinge, der verstörende Schrei der Verstoßenen, den nur ich hören konnte, war unerträglich.
Eines Tages kam ich auf die Idee, all die armen Sachen in einer Art Rettungsaktion zusammenzukleben. Nach und nach wuchsen sie sich zu bizarren Talismanen aus, die ich in meinem Zimmer aufhängte. Nun, da sie als Teile eines Ganzen in die Welt zurückgeholt worden waren, vermochten sie wieder zu sprechen.
So verhält es sich auch mit Wille und Würde. Das Buch ist ein Talisman aus all den Kleinigkeiten über unsere Spezies, die wir in den Schubladen der Menschheit vergessen haben, ohne es selbst zu bemerken. Nur indem wir sie aneinanderfügen, können wir uns in Erinnerung rufen, wie und warum es den Menschen gelungen ist, bis heute zu überleben, und weshalb wir immer wieder beschlossen haben, Vertrauen in uns zu setzen.
Sie werden bei der Lektüre auf scheinbar Belangloses stoßen, auf zerbrochene Bilder, halb vertrocknete Träume, nie gebaute Städte und den ganzen Krempel der Welt. Dies ist eine neue Geschichte des Menschen, zusammengesetzt aus den Bruchstücken der kaputten Bilder unserer Spezies.
Es geht in diesem Talisman-Buch um zehn Entscheidungen, die Menschen wie wir, denen es wichtig ist, solche Bücher zu lesen und zu schreiben, im wahren Leben treffen sollten. Und zwar nicht erst in einer unbekannten Zukunft, sondern hier und jetzt, weil wir sie hier und jetzt brauchen. Wille und Würde soll dazu beitragen, dass wir uns einmal mehr für uns entscheiden.
Solche Entscheidungen mögen einigen angesichts der brutalen Gegenwart als zu schwach erscheinen, aber alles Wertvolle ist zerbrechlich - das Schöne, das Menschliche, das Wahre. Und erst wenn alles Zerbrechliche zu einer kompakten Geschichte des Menschen zusammengefügt wäre, könnte ich sagen: »Ich glaube an euch«, ohne dass es komisch klänge.
Doch um eine neue, bessere Geschichte für uns entwerfen zu können, brauche ich Sie. Sie müssen eine Entscheidung treffen, und zwar jetzt.
Jetzt ist ein niederschmetterndes Wort.
Jetzt ist das Bild eines kleinen Mädchens, das mitten in der Bewegung erstarrt, wenn es über das Seil springen soll. Während die anderen »Jetzt! Spring jetzt!« rufen, wird das Hüpfseil für das Mädchen zu einer Schlangenzunge, die immer wieder den Boden leckt und dem Kind jedes Mal verkündet, dass es zu spät dran ist.
Menschen wie Ihnen und mir ergeht es heute wie diesem Mädchen - wir sind mitten in der...
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