Schweitzer Fachinformationen
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Amanda betrat den Umkleideraum und ließ ihre Tasche auf den gekachelten Fußboden fallen. Das Reinigungspersonal musste gerade erst da gewesen sein. Es roch nach Putzmitteln und Desinfektionsspray; nirgends ein verschwitztes Kleidungsstück. Man hatte fast den Eindruck, in der Umkleide eines Fitnessstudios zu stehen. Doch sobald ihre Kollegen zurückkämen, würde der Zitronenduft innerhalb weniger Minuten durch den Geruch von Schweiß und getragenen Kampfwesten ersetzt - vermischt mit dem Duft von Laub, Tannennadeln und Moos. Und vor den hohen Spinden würden sich Uniformen, Thermounterwäsche und Stiefel türmen.
Amanda ging in den abgetrennten Bereich der Umkleide, der eigens für sie eingerichtet worden war - für die einzige Frau bei der Sondereinsatztruppe. Sie sprang unter die Dusche und betrachtete den faustgroßen blauen Fleck auf ihrem Oberschenkel, der bereits dunkelviolett schillerte. Sie hätte ihn mit einem Eisbeutel kühlen sollen.
Anschließend schickte sie Bill eine SMS: «Machst du Kaffee? Bin in fünf Minuten da.»
Noch ehe sie das Telefon aus der Hand gelegt hatte, kam seine Antwort: «Schon fertig.»
Amanda lächelte. Das hatte sie vermisst. Die Umkleide. Den Muskelkater. Bei einer Tasse Kaffee über einen möglichen neuen Fall zu diskutieren - einen Fall, der ihre Hilfe erforderte. Jemand zu sein, der einen Beitrag leistete.
Als sie am Fitnessraum vorbeikam, warf sie einen Blick durch die Glasscheibe. Zwei Kollegen machten mit Gewichtswesten bekleidet Klimmzüge an der Stange. Das Bild wiederholte sich jeden Herbst, wenn der alljährliche Konditionstest näher rückte. Pull-ups und Chin-ups wurden mit zusätzlichen Gewichten am Körper trainiert, genau wie die Dips für die Brust- und Trizepsmuskulatur - um für den Ernstfall gerüstet zu sein, bei dem man sich in schwerer Kampfausrüstung bewegen musste.
Das Kletterseil hing einsatzbereit von der Decke. Daneben stand eine Dose Magnesium auf dem Boden. Je später die Kletterübungen am Tag des Konditionstests stattfanden, umso schwieriger wurde die Aufgabe. Da konnte man sich die Handflächen noch so sehr mit Magnesium einreiben; wenn man bei den anderen Disziplinen sein Bestes gegeben hatte, war die Milchsäure bereits zwangsläufig in die Armmuskulatur geschossen.
Vor der Anschlagtafel im Flur blieb Amanda stehen und ging die einzelnen Disziplinen Punkt für Punkt durch. Der Cooper-Test sollte ihr keine Probleme bereiten. Sie war gelenkig und schnell. Hindernisse überwand sie rascher als die meisten anderen, ganz gleich, ob sie sie übersprang oder unter ihnen hindurchkroch. Das Laufen in voller Einsatzausrüstung würde dieses Jahr eine größere Herausforderung darstellen. Ihre Joggingrunden mit dem Kinderwagen um Kungsholmen in allen Ehren, aber ein Dreikilometerlauf mitsamt Kampfweste, Stiefeln und Waffe erforderte wesentlich mehr Kraft und Ausdauer.
Als sie sich der Treppe näherte, hörte sie Tores monotone Stimme aus der Küche. Bill klapperte mit Bechern und schenkte Kaffee ein. Bei ihrem letzten gemeinsamen Auftrag hatte Amanda auf der Suche nach zwei entführten schwedischen Diplomaten ganz Afghanistan durchkämmt, während Bill und Tore parallel in einem Mordfall in Stockholm ermittelt hatten. Dabei hatten sie dem Außenministerium nahezu täglich über Amandas Fortschritte in Kabul Bericht erstatten müssen. Obwohl ihre Arbeit sowohl in Afghanistan als auch in Schweden von höchsten Regierungskreisen behindert worden war, hatten sie die beiden Diplomaten am Ende lebend befreien können. Die Aufklärung des Falls hatte weitreichende politische Folgen gehabt: Ein Staatssekretär war von seinem Amt zurückgetreten, und ein geplanter Staatsbesuch des afghanischen Präsidenten war abgesagt worden.
«Amanda, du hast mir gefehlt!», rief Tore überschwänglich, als sie den Pausenraum betrat.
«Du mir auch», erwiderte sie und schloss ihn in die Arme.
Tore sah noch durchtrainierter aus, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Er war gerade aus einem Florida-Urlaub zurückgekehrt und schien die freien Tage mit seiner Frau Lena für Trainingseinheiten am Strand genutzt zu haben.
«Achtzig Prozent Kaffee und zwanzig Prozent Milch für dich», sagte Bill und reichte ihr einen granitgrauen Becher mit dem Emblem des Sondereinsatzkommandos: drei goldgelben Kronen über einem sich aufbäumenden, feuerspeienden Panther. Bill trank wie immer aus seinem eigenen Becher, dem mit dem Foto seiner beiden Kinder. Obwohl er ihn grundsätzlich mit der Hand spülte, war das Bild inzwischen verblasst.
«Wir kommen besser sofort zur Sache, möglicherweise muss es schnell gehen», sagte Tore und zog eine dicke rote Mappe aus seiner Tasche, auf der der Name Åke Jönsson stand.
Typisch Tore, dachte Amanda. Organisiert und vorbereitet wie immer, um Bill und ihr die Arbeit zu erleichtern. Ganz bestimmt hatten seine Mappen je nach Art des Falls auch unterschiedliche Farben.
«Wer hat Jönsson als vermisst gemeldet?», fragte Bill, kratzte sich am Bart und setzte sich aufs Pausensofa.
«Seine Frau Magdalena», antwortete Tore, zog eine Vermisstenanzeige aus der Mappe und legte sie so auf den Tisch, dass sie sie zu dritt einsehen konnten.
Amanda überflog den knappen Bericht, der lediglich geschrieben worden war, um den Formalanforderungen für die Voruntersuchung zu genügen. Er enthielt Personalien und Meldeadresse sowie Zeitpunkt und Ort des Tatbestands. Die wesentlichen Informationen würde sie den Befragungsprotokollen entnehmen.
Aus der Anzeige ging hervor, dass Åke Jönsson sechsundfünfzig Jahre alt war, in der Nähe von Ella gård in Täby wohnte und zum Zeitpunkt seines Verschwindens als entsandter schwedischer Polizist Dienst in Pristina geleistet hatte.
«Was sagt die Ehefrau?», fragte Amanda.
«Sie ist außer sich vor Sorge. Wir müssen zu ihr fahren und mit ihr sprechen. So etwas sei noch nie vorgekommen, sagt sie, aber in letzter Zeit seien in der Nähe ihres Hauses merkwürdige Dinge vor sich gegangen.»
«Zum Beispiel?»
«Sie hat sich beobachtet gefühlt und glaubt, fremde Männer in ihrem Garten gesehen zu haben . Ich weiß nicht, es klang ziemlich wirr.»
«Warum hat sie ihren Mann denn erst nach drei Tagen vermisst gemeldet?» Amanda tippte auf den Anfang des Berichts.
«Wenn ich sie richtig verstanden habe, kommt Jönsson jedes zweite oder dritte Wochenende auf Heimatbesuch nach Stockholm. Er war erst in der vergangenen Woche hier, und da war alles wie immer. Wenn Jönsson in Pristina ist, telefonieren sie abends. Als er sich nicht gemeldet hat, schob sie es zunächst auf die Arbeitsbelastung», antwortete Tore und krempelte die Hemdsärmel hoch, sodass seine gebräunten Arme zum Vorschein kamen.
«Das erklärt immer noch nicht, warum sie drei Tage gewartet hat», erwiderte Amanda und las weiter.
«Vielleicht hielt sie es für ein bisschen zu dramatisch, sofort die Polizei einzuschalten, solange sie sich nicht ganz sicher war, dass er tatsächlich verschwunden ist», mutmaßte Tore.
«Wie lautet deine Hypothese?», fragte Bill.
«Ich habe mit Martin Blom gesprochen, Jönssons Vorgesetzten in Pristina, und denke, wir sollten ihn so schnell wie möglich vor Ort befragen», gab Tore zurück und nahm einen Becher Blaubeerquark aus dem Seitenfach seines Rucksacks. Er löste den Plastiklöffel vom Rand und zog den Deckel ab. Amanda musste gar nicht erst auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es Punkt neun war - die übliche Zeit für Tores zweites Frühstück.
«Weshalb?», fragte Bill.
«Weil seine Geschichte unwahrscheinlich klingt. Wenn Jönsson zwei, drei Tage nicht zur Arbeit erscheint, sollte man doch erwarten, dass Blom in irgendeiner Form hellhörig wird. Blom ist Jönssons direkter Vorgesetzter und außerdem Kontingentchef für sämtliche schwedischen Kräfte im Rahmen der EULEX-Mission», erklärte Tore in seinem typisch monotonen Tonfall.
Die nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Jahr 2008 von der EU ins Leben gerufene EULEX-Mission unterstützte die kosovarischen Behörden beim Aufbau eines rechtsstaatlichen Polizei-, Justiz- und Zollwesens. Außerdem befassten sich die Mitarbeiter mit Dingen, mit denen man die örtlichen Behörden nicht betrauen wollte, wie der Aufklärung von Kriegsverbrechen und der Bekämpfung der Korruption.
«Könnte Jönsson aus freien Stücken verschwunden, also untergetaucht sein?», fragte Amanda.
Tore zuckte mit den Schultern und löffelte seinen Quark. «Wir sollten erst mal ganz unvoreingenommen an die Sache herangehen. Die NOA will, dass so wenige Informationen wie möglich nach außen dringen. Sollte sich das Ganze als Bagatelle erweisen, wäre das für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die schwedische Polizei nicht gerade förderlich. Und falls wir es mit einer Entführung zu tun haben, ist die Angelegenheit ohnehin unter Verschluss.»
«Warum sollte jemand auf dem Balkan einen schwedischen Polizisten entführen? Jeder weiß, dass nach einem Polizeibeamten mit Hochdruck gesucht wird», wandte Amanda ein.
«Vielleicht hatten die Entführer keine Ahnung, dass Jönsson Polizist ist. Er sieht nicht unbedingt wie ein Vertreter der Ordnungsmacht aus», erwiderte Bill und zeigte auf ein Foto von Jönsson.
Vielleicht nicht von Bills Warte aus, dachte Amanda und schmunzelte. Der Mann auf dem Foto hatte große blaue Augen und eine beginnende Glatze. Er lachte in die Kamera und wirkte eher wie ein Dorfpolizist, der Kindern und alten Leuten über die Straße half, als wie ein Ermittler, der auf dem Balkan die Organisierte...
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