IM ERSTEN MONAT
»warten sie bitte noch einen Moment im Wartezimmer!«
Taner und ich setzen uns in den Raum hinter der Glastüre direkt neben dem Empfangstresen, wo unentwegt das Telefon klingelt.
»Wir sind dann gleich so weit«, hat die medizinische Fachangestellte lächelnd zu Taner gesagt. Heute haben wir den Vortritt. Mittlerweile kenne ich jede Ecke dieses Raumes. Die letzten Male saßen wir nie weniger als eine Stunde hier. Warum sollte es sonst auch Wartezimmer heißen? Und warten müssen hier alle!
Der kleine graue Mülleimer steht heute rechts von der Türe, ich bin mir sicher, dass er sonst immer auf der anderen Seite stand. Schwarze Stühle mit glänzenden Metallbeinen umrahmen streng den steril weißen Raum. An den Wänden hängen riesige Fotodrucke auf Leinwand. Es sind sicher zwei Meter auf zwei Meter. Neben den Bildern hängt ein kleines Schild, auf dem ein kurzer Titel und der Name der Fotografin steht. Trotz ihrer gewaltigen Anwesenheit wirkt der Raum nicht weniger karg und unpersönlich. Die Bilder sagen mir nichts. Direkt neben der Tür hängt die Makroaufnahme einer Sonnenblume, an der gerade eine Biene den Nektar saugt. Sie ist ganz vom Blütenstaub bedeckt. Hinter uns, ich weiß es, auch wenn ich es gerade nicht sehen kann, hängt das Bild mit dem dunkelrot blühenden Rosenstrauch, der sich an einer alten Backsteinmauer emporrankt. Wenn ich mir den Platz aussuchen kann, wähle ich immer den mit Blick auf das Foto eines Lavendelfeldes im Abendlicht, durch das der warme Wind streift. Es beruhigt mich. Die üppigen Lavendelbüsche aus Tausenden Blüten laufen in so akkurat geraden Bahnen zum Horizont hin, wie mit dem Lineal gezogen. Da gerät nichts aus der Spur.
Die große Fensterfront lässt die Sonne ungehindert ins Wartezimmer. Es ist noch früher Vormittag, aber trotzdem schon sehr heiß. >Der heißeste Juni seit Jahren<, meldet meine News-App seit zwei Wochen fast täglich. Die Luft ist drückend. Ich spüre, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Die Hitze in Kombination mit meiner Aufregung ist schwer auszuhalten. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Meine Beine kleben am Stuhl fest. Möglichst unauffällig senke ich meine Nase in Richtung meiner Achsel. Ich will nicht nach Schweiß riechen, wenn ich aufgerufen werde. Aber noch ist alles gut. Ich habe ein leichtes, bequemes T-Shirt-Kleid aus Jersey an. Ich trage selten Kleider, aber heute habe ich es ganz bewusst ausgewählt. Wenn ich gleich auf dem Behandlungsstuhl sitze, muss ich es nur leicht nach oben ziehen und fühle mich nicht ganz so nackt.
Taner atmet neben mir tief aus und flüstert: »Puh, ist das jetzt schon heiß!« Er liest Nachrichten auf seinem Handy. »Nächste Woche soll die heißeste Woche des Sommers werden«, sagt er zu mir und liest weiter.
»Ich weiß«, antworte ich leise, während ich mich frage, ob ich zu viel von diesem Moment erwarte. Unentschlossen mache ich es Taner nach und nehme mein Handy aus der Tasche. Ich öffne mein Postfach, schließe es aber gleich wieder, ohne einen Blick auf die Mails geworfen zu haben. Dann eben auch die Nachrichten. Ich scrolle durch den Newsticker, aber es gelingt mir nicht einmal, mich auf die Headlines zu konzentrieren. Ich packe das Handy wieder weg und greife nach einem Flyer auf dem tiefen Tisch in der Mitte des Raumes, um mir Luft zuzufächeln. Dort liegen auch einige Ausgaben der drei bekanntesten Frauenzeitschriften, die Taner übrigens genauso gerne liest, wie ich.
Anfangs habe ich mich noch darauf gefreut, aber mittlerweile weiß ich schon alles. Beim letzten Mal musste ich bereits wühlen, um überhaupt noch eine zu finden, die ich noch nicht durchgeblättert hatte. Auch heute liegen die Magazine schon wild durcheinander auf dem Tisch. Nur der Stapel der Frühjahrsausgabe von »Schwangerschaft & Kind« liegt ordentlich und unberührt am Rand. Zum Mitnehmen. Ein dickes Baby lächelt mich vom Cover an. Ich bezweifle, dass man Babys dick nennen darf, aber es sieht wirklich prall aus. Auf der Titelseite steht: Entspannt zum Wunschkind - 10 Tipps, damit Sie lockerer werden. Mein Bein fängt nervös an, auf und ab zu wippen. Taner legt seine Hand auf das zuckende Bein, ohne von seinem Handy aufzuschauen. Ich nehme sie. Unsere Finger umschließen einander und ich drücke meine Hand ganz fest in seine.
Wir sind dann gleich so weit. Bin ich so weit? Ist das heute der Tag, an dem sich alles für uns verändert? Ich kann es kaum erwarten! Ich könnte platzen vor Aufregung. Endlich! Aber müsste es sich nicht anders anfühlen? Irgendwie intensiver? Magischer? Dabei sitzen wir hier wie jedes andere Mal auch. Taner starrt in sein Handy und ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, um nicht daran kleben zu bleiben, während doch eigentlich unsere Körper gerade leidenschaftlich miteinander verschmelzen sollten. Sein Sperma sich entschlossen seinen Weg zu meiner berstenden Eizelle bahnen sollte und . Trommelwirbel . BÄÄM - unser Baby! Dann sanfte Musik.
So haben wir es über Monate versucht. Und wenn ich dann in Taners Armen lag oder er in meinen, dann haben wir uns ausgemalt, wie es aussehen wird. Ob es mit den dunklen, fast schwarzen Haaren von Taner auf die Welt kommen wird? Und vielleicht, auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, mit meinen blauen Augen? Rezessive Vererbung. Taner überlegte, ob es in seiner Verwandtschaft jemanden mit blauen Augen gibt.
Ich erinnere mich, wie er mich dann küsst und flüstert: »Er wird bestimmt die grünen Augen meiner Nene haben!«
Ich drehe mich empört auf ihn. »Er?!«
Wir lachen und ich küsse seinen Hals an der Stelle hinter dem Ohrläppchen und atme seinen Geruch tief ein.
Ein anderes Paar betritt, sich zögernd umschauend, den Raum. Ich löse meine Hand aus Taners. Direkt hinter den beiden schiebt sich etwas ungeduldig eine medizinische Fachangestellte an ihnen vorbei und lächelt Taner an: »Na, alles gut bei Ihnen? Wir sind jetzt so weit. Würden Sie dann direkt mitkommen, wir haben ja bereits alles besprochen!«
Taner macht einen auf locker und sagt: »Klar, kann losgehen!« Er drückt mir einen Kuss auf die Wange, während er sein Handy in die hintere Hosentasche schiebt und zielstrebig hinter Tatjana, wie ich auf dem Schild an ihrer Brust lesen konnte, hergeht.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass Männern hier viel freundlicher begegnet wird. Mir gegenüber schwankt der Ton immer zwischen neutral bis unfreundlich oder schon beinahe genervt. Ist es, weil man uns Frauen die Schuld gibt, während die Männer dafür bedauert werden, die Falsche erwischt zu haben? Warum kommen mir jetzt solche Gedanken, wo ich mich doch einfach nur freuen sollte? Ich blicke noch einmal Richtung Flur, wohin Taner verschwunden ist.
Meine Gedanken schweifen zu unserem ersten Termin in dieser Praxis. Es war Anfang Mai. Ich hatte Ende Januar angerufen, ein Vorsatz für das neue Jahr. Taner war nicht so überzeugt, aber ich wollte wissen, woran es lag. Wir hatten es nun schon seit einem Jahr auf eine Schwangerschaft ankommen lassen, erst ganz entspannt, irgendwann forcierter und ungeduldiger, mit Temperaturmessung und Ovulationstests, aber nichts geschah. Die Frau am Telefon bot mir einen Termin im Mai an. Als ich fragte, ob es nicht früher möglich ist, sagte sie nur: »Nein. Für Erstgespräche sind wir bis Mai voll.«
Das Geschäft schien gut zu laufen! Ich vereinbarte einen kurzfristigen Termin bei meiner Gynäkologin, die aber zunächst nichts feststellen konnte und mir riet, entspannt zu bleiben. Diesen Rat höre ich seither ständig. Ich ging wieder regelmäßig zum Yoga und malte mir aus, wie ich in der Kinderwunschpraxis anrief, um den Termin für das Erstgespräch wieder abzusagen, weil wir ihn nicht mehr brauchten. Aber während die Tage wieder heller wurden, Berlin aus seinem tristen Winterschlaf erwachte und ich im Lotossitz meine Fruchtbarkeit beschwor, wuchs so gar nichts in mir. Doch. Ein tiefes Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmte.
Es ist ein später Frühlingsnachmittag im Mai, als wir zum ersten Mal den kleinen Fahrstuhl bis zur fünften, der obersten Etage nehmen und die Kinderwunschpraxis betreten. Wir sind zehn Minuten vor unserem Termin da. Nachdem ich die Datenschutzerklärung und einen Patientenbogen mit meinen Daten ausgefüllt habe, werden wir gebeten, noch einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen. Da ahne ich noch nicht, wie lange ein Moment hier werden kann. Aber nun haben wir ja schon bis Mai gewartet.
Mit uns sitzen noch zwei Frauen hier. Sie grüßen uns freundlich, schauen dann aber schnell wieder weg. Eine der beiden blickt abwechselnd auf ihr Handy, dann wieder auf die Uhr, die über der Tür zum Wartezimmer hängt. Die andere hat einen dicken Roman auf dem Schoß liegen und blättert alle zwei Minuten leise um. Sie hat schon über die Hälfte gelesen und wirkt nicht so, als könnte ihr das Warten etwas anhaben. Ich frage mich, wie lange sie schon versucht, schwanger zu werden. Ich finde, dass beide Frauen älter aussehen als ich. Das beruhigt mich. Zumindest bei der einen bin ich mir sehr sicher, dass sie über vierzig sein muss. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Ich nehme mir vor, Taner nach seiner Einschätzung zu fragen, wenn wir hier wieder raus sind.
In der Ecke steht ein kleiner Tisch mit Gläsern und zwei Flaschen Mineralwasser. Taner fragt mich, ob ich etwas trinken will, aber ich schüttle den Kopf. Er steht auf und schenkt sich ein Glas Wasser ein, bleibt kurz im Raum stehen und schaut in Richtung der vielen Fenster. Dann setzt er sich wieder und stellt sein Glas auf den...