Schweitzer Fachinformationen
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Der neue SPIEGEL-Bestseller vom bekanntesten Rettungssanitäter Deutschlands.
In jeder Stadt gibt es ein Viertel, in dem Menschen zwar mitten unter uns und doch am Rand der Gesellschaft leben. Einer der bekanntesten deutschen Brennpunkte war jahrelang das Einsatzgebiet von Rettungssanitäter Luis Teichmann.
Die Abgründe, die sich ihm dort offenbarten, zeigen, woran unser Land wirklich krankt: Arbeits- und Obdachlosigkeit, Drogensucht, alleingelassene Jugendliche in psychischen Krisen - Menschen, die im öffentlichen Raum nicht stören sollen, Menschen, denen wirkliche Hilfe verwehrt wird. Stadtbekannte Wohnblöcke, in denen Uniformträger ein Feindbild sind, weil man Dinge lieber unter sich klärt. So etwas geht an Sanitätern wie Luis nicht spurlos vorbei.
Mit klarer Sprache und Empathie statt Polemik widmet sich Luis Teichmann den Missständen in unserem Sozialstaat.
Ich sehe was, was du nicht siehst
Der Halbkopfmensch
In jeder Großstadt gibt es Straßen, Plätze, ja, ganze Viertel, in denen einen schon untertags ein unangenehmes Gefühl beschleicht, und spätestens bei Einbruch der Dunkelheit würde man keinen Fuß mehr an diese Orte setzen. In Frankfurt am Main und ebenfalls in Hamburg wäre das wahrscheinlich das Bahnhofsviertel mit seinen zahlreichen Drogenjunkies, die sich ungeniert einen Schuss am helllichten Tag auf dem Bürgersteig setzen, und in Berlin wahrscheinlich Neukölln. Auch in »unserem Harlem« gibt es diesen Ort. Nennen wir ihn Adenauerplatz, weil es fast in jeder Stadt einen Adenauerplatz oder eine Adenauerstraße gibt. Hier kommt der öffentliche Nahverkehr zusammen, mitten im Zentrum. Die Stadtplanung hat für Sitzmöglichkeiten gesorgt, damit soziales Leben stattfinden kann. Treppenstufen säumen, an ein Kolosseum erinnernd, die freien Flächen zwischen Bahnstationen und Bushaltestellen, in einem Café können Pendler, Schüler und Touristen ein Croissant und einen Latte genießen. So die schöne Theorie. Doch in der Praxis hält sich hier kein Passant länger als nötig auf. Die einzigen Menschen, die auf den Treppenstufen verweilen und die vielen Stunden des Tages, in denen sie nichts zu tun haben, in Alkohol ertränken, sind Süchtige, Wohnungslose und Kriminelle, die unseren einst so beschaulich angedachten Adenauerplatz zu einem üppigen Potpourri aus Drogen, Alkohol, Arbeits- und Obdachlosigkeit, Banden- und Beschaffungskriminalität machen.
Während meiner Zeit in diesem Einsatzgebiet wurde durchschnittlich vier bis fünf Mal innerhalb von 24 Stunden ein Rettungswagen zum Adenauerplatz gerufen, der wie bereits erwähnt dafür bekannt war, dass sich dort besonders viele intoxikierte Personen ohne festen Wohnsitz aufhielten. Meistens waren wir demnach wegen Alkoholvergiftungen im Einsatz oder weil es in Streitsituationen zwischen zwei Personen zu Körperverletzungen oder schlichtweg zu Unfällen im Rauschzustand gekommen war. Am häufigsten jedoch fuhren wir wegen ein und derselben Person zum Adenauerplatz: Niemand wusste genau, woher er kam, eines Tages lag er einfach da, betrunken mitten auf dem Asphalt, und sein Kopf war nicht symmetrisch, sondern auf der linken Seite massiv eingedellt, nahezu in sich zusammengefallen. Diese Art der Deformierung kommt zumeist infolge einer starken Gewalteinwirkung auf den Schädel zustande, oft auch als Konsequenz einer Operation. Der Patient, der uns mehrfach am Tag in Atem hielt, war außerdem auf Krücken unterwegs, seine Kleidung war schmutzig und zerfleddert vom dauerhaften Tragen, er roch nach altem Schweiß und Urin, sein Gebiss war von Zahnlücken geprägt und er hatte augenscheinlich nicht »nur« ein Alkohol-, sondern auch ein Drogenproblem. Immerzu torkelte er so stark hin und her, dass man als Beobachter jederzeit mit einem Sturz rechnete. Mehrmals täglich lasen wir ihn völlig berauscht von der Straße auf und brachten ihn ins zuständige Krankenhaus. Doch es dauerte nie allzu lange, da war er wieder einigermaßen gang- und standfest, wurde entlassen, trank erneut, und wir fanden ihn nur Stunden später im selben Zustand wie zuvor wieder. Manche Kollegen setzten ihn irgendwann tatsächlich schon in Krankenhäusern ab, die so weit wie möglich von Harlem entfernt lagen, in der Hoffnung, es würden wenigstens ein paar Schichten vergehen, bis er den Weg zurück finden würde. Aber ganz egal, wie oft wir ihn wegbrachten oder gar wie weit: Er lag jeden Tag aufs Neue auf den Treppenstufen am Adenauerplatz, vollgepumpt bis unter den Haaransatz, eingenässt und in seinem eigenen Erbrochenen. Dieses Spiel wiederholte sich unablässig, nichts und niemand konnte diesen Kreislauf stoppen. Keine Instanz fühlte sich verantwortlich und de facto war auf lange Sicht auch niemand für ihn verantwortlich. Außer er selbst. Ein Suchtkranker, der jedoch zu nichts mehr in der Lage war, als sich den nächsten Rausch zu verschaffen. Entzugskliniken, Einweisungen - alles Fehlanzeige, ganz gleich, wie viele Sozialmeldungen rausgingen. Denn es gibt nicht so etwas wie ein integriertes Notfallzentrum für solche Fälle. Wenn wir einen Suchtpatienten in einer Notaufnahme abliefern, wird er nach seiner Ausnüchterung nicht automatisch in eine Suchtambulanz überstellt, um einen Entzug zu machen. Dieser Schritt muss in unserem Gesundheitssystem separat gegangen werden. Der Patient sollte aus freien Stücken, und im Idealfall nüchtern, in einer entsprechenden Einrichtung für Suchtpatienten vorstellig werden und dann auch langfristig das Durchhaltevermögen aufbringen, an sich zu arbeiten. Solange in unserem System die Zahnräder in dieser Hinsicht nicht ineinandergreifen, kann und wird sich nichts ändern. Und selbstverständlich ist die Rückfallquote hoch.
Und so fuhren wir diesen Mann monatelang durch die Gegend, bis wir ihn eines Tages blutüberströmt am Boden vorfanden. Erneut stark alkoholisiert und gestürzt, hatte sich »der Halbkopfmensch«, wie ihn ein Kollege nannte, auch noch die verbliebene gesunde Kopfhälfte eingeschlagen .
Wenn man so etwas sieht, und ich möchte betonen, dass die meisten von uns wirklich einiges gesehen haben, dann fragt man sich schon: Was haben wir eigentlich in den letzten Wochen und Monaten erreicht? Tagtäglich versuchen wir, diesen Mensch vor sich selbst zu retten, doch am Ende sind der Suchtkreislauf und das Elend mächtiger. Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, dass einen solche Bilder und Einsätze traumatisieren, aber sie machen definitiv etwas mit einem Menschen. Man fühlt sich ein bisschen wie die Stadtreinigung, als wäre man dazu da, alles wegzukehren, was das saubere Stadtbild verschmutzt. Räumt sie weg, die verwahrlosten Menschen! Die unmöglichen Zustände, die Drogen und den Alkohol! Die Verrückten und die Psychopathen! Ich spreche gerade sehr überspitzt, das ist mir klar, ich möchte aber betonen, dass dieser Vergleich auf keinen Fall bestimmte Personengruppen diskriminieren oder verhöhnen soll. Es geht mir mehr darum, hervorzuheben, wie sehr es einen manchmal am Verstand der Gesellschaft und am ganzen System zweifeln lässt, wenn wir, der Rettungsdienst, ausgebildet für den Fachbereich Notfallmedizin, durch unsere Maßnahmen nicht den geringsten positiven Einfluss auf den Verlauf der Patientengeschichte nehmen. Und nicht nur das, wir wenden in solchen Einsätzen keinen einzigen erlernten Handgriff und keine erlernte Maßnahme an. Wir räumen lediglich das Elend von A nach B.
Einer gegen alle und alle für einen
Wir befinden uns immer noch auf dem Adenauerplatz: grauer Beton, umrandet von Treppenstufen. Wir wurden zu einem Einsatz in der Zwischenebene der angrenzenden U-Bahn-Station gerufen und so fuhren wir auf unserer gewohnten Route mit heulendem Martinhorn ein. Es war relativ früh am Morgen und das feuchtfröhliche Trinken hatte gerade erst begonnen. So mancher uns Bekannter hob zum Gruß die Flasche, darunter auch unser alter Freund, der Halbkopfmensch, der sich gerade noch mitten im Prozess befand, später am Tag der Grund für den nächsten Notruf zu werden. Im Prinzip konnte man schon um diese Tageszeit seine Patienten vom Nachmittag ausmachen.
Man muss dazu sagen, dass Einsätze in der Zwischenebene einer U-Bahn-Station immer besonders unbeliebt sind, denn es ist meist eine große Herausforderung, den Patienten in den ewigen Weiten der U-Bahn-Schächte überhaupt zu finden. Dazu kommt, dass man den Rettungswagen nicht in unmittelbare Nähe des Einsatzorts bringen kann. Auf diesen Einsätzen weiß man nie, was einen erwartet, und bereits auf dem Weg dorthin schießen einem verschiedene Szenarien durch den Kopf: Ist der Patient mit viel Glück vielleicht noch gang- und standfest genug, um aus eigener Kraft mit uns zum Einsatzfahrzeug zu gelangen? Ist er so weggetreten, dass wir ihn über mehrere Etagen hinausschleppen müssen? Ist er verletzt? Betrunken? Was ist überhaupt passiert? Manchmal kam es durchaus auch vor, dass wir eintrafen und die Person plötzlich schon weg war. Wie von Zauberhand genesen, eigenständig mit der nächsten Bahn davongerauscht.
Die einzige Information, die wir zu dem aktuellen Einsatz bekommen hatten, lautete: hilflose Person. Wir schleppten also unser Material diverse Stockwerke unter die Erde und erreichten über die Rolltreppen einen Bahnsteig. Mitten auf der Plattform lag eine Person, die wir schon von Weitem identifizieren konnten als männlich, augenscheinlich wohnungslos. Daneben stand ein Einkaufswagen, randvoll mit Decken und Tüchern. Mit jedem Schritt, den wir uns ihm näherten, erkannten wir die bittere Realität deutlicher: Das würde keine einfache und schnelle Nummer werden! Der Patient war völlig verwahrlost, abgemagert und von der Schuhsohle bis zur Haarspitze mit Kot übersät. Um seinen Körper hatte er diverse Decken gewickelt, die ebenfalls in Kot und Urin getränkt waren. Spritzen und sonstiges Zubehör, um sich einen Schuss zu setzen, lagen um ihn herum verteilt und waren offenbar zuvor erfolgreich zum Einsatz gekommen, denn der Patient war tief bewusstlos. Um zunächst andere Gründe für seinen Zustand ausschließen zu können, mussten wir ihn etwas genauer betrachten und dafür die Decken entfernen, die uns jegliche Einsicht auf mögliche sichtbare Verletzungen nahmen. Da sogar sein Gesicht kotverschmiert war und wir zudem nässende und übel riechende offene Wunden an Armen und Beinen feststellten, zogen wir uns zuallererst einmal unsere Infektionsschutzanzüge über. Der Patient war vollkommen zentralisiert, das bedeutet, seine Venen nahezu blutleer, weil sich die Konzentration des Blutvolumens auf die großen Gefäße wie das Herz verteilt hatte, um sein Überleben zu sichern. Damit war es für uns absolut...
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