Schweitzer Fachinformationen
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Wie so oft, bin ich vor den anderen aufgewacht. Um mich herum herrscht absolute Stille.
Die Nächte in der Arktis haben etwas Besonderes. Ich werde nie vergessen, wie ich hier zum ersten Mal geschlafen habe: die Aufregung, dieses majestätische Eis im unmittelbaren Kontakt zu erleben, das nie verlöschende Licht der Sonne, das das Leben eines jeden begleitet, der meinem Beruf nachgeht. Ich war schon immer Frühaufsteher. Einmal erwacht, schlafe ich nicht mehr ein. Diese Gewohnheit hat sich verstärkt, als ich Vater wurde, und mich nie wieder verlassen.
Die erste «Übung» am Morgen im arktischen Eis ist das Anziehen. Das ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Um in die Welt hinauszugehen, die uns vor dem Zelt erwartet, braucht es mehr als nur eine Schicht Kleidung. Manche nennen es das «Zwiebelprinzip»: mehrere Lagen mit unterschiedlicher Dicke und Funktion, eine direkt auf der Haut, eine darüber und noch eine zum Schutz gegen den Wind.
Die Übung ist geradezu akrobatisch: Das Zelt ist nur einen halben Meter hoch, sodass jede Bewegung koordiniert ausgeführt werden muss. In Rückenlage streift man sich in einer seitlichen Pendelbewegung die Hosen über, schlüpft dann im Sitzen mit gekreuzten Beinen in die oberen Schichten und zieht sich schließlich mühselig die beiden Paare dicke Socken über die Füße, die bis dahin schon eiskalt sind. Erstes Gebot: bloß keine Baumwolle. Unsere Kleidung hält uns deshalb warm, weil sie die erwärmte Luft an der Haut hält, aber wenn sie nass wird, kühlen wir aus, weil sich die isolierenden Luftkammern im Gewebe mit Wasser füllen. Beim Schwitzen auf einem Marsch saugt sich Baumwollstoff wie ein Schwamm mit Schweiß voll und schützt nicht mehr vor der eisigen (grönländischen) Außenluft. Deswegen sind unsere Kleider immer aus isolierendem Material, ob Wolle oder Synthetik.
Ich rutsche an den Reißverschluss des Zelteingangs heran und versuche mit äußerster Vorsicht, meine Reise- und Forschungsgefährten nicht aufzuwecken. Unter normalen Umständen wäre das metallische Geräusch beim Öffnen fast unhörbar, aber in der Stille der Umgebung verstärkt sich der geringste Laut. Unsere Campingzelte des Typs «Vierjahreszeiten», wie sie im Handel heißen, sind leicht und lassen sich in knapp zwanzig Minuten aufbauen. Ihr wasserdichtes Außenmaterial schützt vor Regen, mit dem wir auch in Grönland rechnen müssen. Die landläufige Meinung, wonach es in Zelten kalt sein müsse, stimmt so nicht. Vor allem bei klarem Himmel heizt die starke Grönlandsonne das Innere so sehr auf, dass wir sie vor dem Schlafengehen gut durchlüften müssen, um sie auskühlen zu lassen. Das gilt vor allem für den Hochsommer, wenn die Sonne nie richtig untergeht. In der eisigen Stille, die unser Biwak umgibt, ist das Flüstern des - manchmal konstant, manchmal stoßweise wehenden - Windes die einzige Quelle einer akustischen Verschmutzung, falls hier davon die Rede sein kann. Als ich den Schieber des Reißverschlusses schließlich herunterziehe, meine ich fast einen Knall zu hören, so laut wirkt das Geräusch auf mich. Das ist normal: Töne sind im Grunde nichts anderes als die Übertragung von Druckwellen, die das Ohr erreichen und vom Gehirn entschlüsselt werden. In Grönland geben die dünne Luft und das Fehlen jeder anderen Lärmquelle den alltäglichsten Geräuschen einen ganz anderen Klang, wie man ihn nirgendwo sonst hört. Vielleicht ist es auch Müdigkeit oder nur eine akustische Täuschung. Vielleicht spielt die Kälte unseren Sinnen einen Streich.
Ich krieche auf allen vieren aus dem Zelt, lege mich auf die wasserdichte Matte vor dem Eingang und setze mich auf. In einer letzten Anstrengung ziehe ich mir die Stiefel über die überdicken, aber unverzichtbaren Socken. Und schon bin ich erschöpft. Erschöpft, aber auch aufgeregt beim Gedanken daran, was uns erwartet: Wir müssen jedes Abenteuer, jedes überraschend auftauchende Problem allein mit den Dingen bewältigen, die wir auf die Reise mitgenommen haben. Im Grönländischen Eisschild hilft uns kein Supermarkt oder Elektrohändler aus der Patsche, wenn wir beim Packen einen Schraubenzieher oder eine Rolle Schnur vergessen haben.
Keine Ahnung, ob ich jemanden aufgeweckt habe. Aus dem Zelt höre ich nur regelmäßige Atemzüge. Es war eine der «interessanten» Nächte, wie ich sie gerne nenne: wenn jemand aufwacht und dann dich aufweckt, unvermittelt eine Frage oder einen Gedanken in den Raum stellt oder - was häufiger geschieht - von einem beunruhigenden Geräusch aufgeschreckt worden ist. In dieser Nacht war es Patrick, einer meiner ehemaligen Doktoranden, der noch nie aus New York herausgekommen war. Weil er Grönland im Studium nur anhand von Satellitenaufnahmen und Modellen kannte, habe ich ihm angeboten, sich unserer Expedition anzuschließen - nicht nur als eine (verdiente) Gelegenheit, beruflich voranzukommen, sondern auch, um das grönländische Eis am eigenen Leib zu spüren. Meiner Überzeugung nach müssten alle, die diese gewaltigen und herrlichen polaren Weiten erforschen, sie mindestens einmal im Leben persönlich besucht haben. Patrick ist wohl gegen drei Uhr nachts aufgewacht und hat leicht aufgeregt gefragt, ob ich dieses merkwürdige Geräusch auch gehört hätte, eine Art lautes Grollen, das vom Eis unter uns gekommen sei. «Egal, was du brauchst», hatte ich ihm gleich nach unserer Landung gesagt, «weck mich einfach auf, auch mitten in der Nacht.» Er hat mich beim Wort genommen.
Um ihn zu beruhigen, erklärte ich ihm, dass das Eis häufig Geräusche von sich gibt, aber manchmal bilde man sich in der absoluten Stille auch nur etwas ein. Gewöhnlich ist es ein dumpfes Geräusch, als bräche das Eis tief unter uns auseinander. Es erinnert an das Donnern, wenn ein gewaltiger Steinbrocken auf Felsboden aufschlägt. Ich sagte Patrick, er könne unbesorgt weiterschlafen, war aber selbst von meinen Worten nicht hundertprozentig überzeugt, natürlich nicht: In der Arktis muss man auf kleinste Vorkommnisse achten. Wenige Minuten nach dem Schwatz mit Patrick hörte ich es auch: Es war das Eis unter uns, das mächtig und unaufhaltsam dahinfließt. Im Sommer kann es an der Oberfläche eine Geschwindigkeit von einigen hundert Metern pro Tag erreichen. Das ist ungefähr so, als würden wir in Rom unser Zelt auf der Piazza di Spagna aufschlagen und am darauffolgenden Morgen auf der Piazza del Popolo aufwachen. Patrick hatte einen Nerv getroffen: Mein Schlaf war dahin. Ich war besorgt, aber auch aufgeregt. Angespannt horchte ich auf jeden noch so unscheinbaren Laut, als lauschte ich dem Atem eines Dinosauriers.
Das Strömen des Eises ist ein Phänomen, das nur wenigen bewusst ist. Viele glauben, dass Grönlands Eismassen (und auch andere Gletscher) in sich ruhen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Wie lebloses Material. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wie uns die alten Griechen lehren, ist alles im Fluss: panta rhei. Und so strömt auch das Eis dahin wie ein träger Strom, dessen Wasser dem Gefälle seines Bettes folgt. Im Winter, wenn es kälter und zähflüssiger ist, verlangsamt sich seine Bewegung. Dagegen gleitet es im Sommer wie über eine steil abfallende nasse Straße ungebremst in die tiefer gelegenen Lagen hinab. In der «warmen» Jahreszeit sickert durch Risse und Spalten Schmelzwasser ins gleitende Eis ein und beschleunigt dessen Fließgeschwindigkeit, wenn es den felsigen Grund erreicht.
Daran dachte ich wieder, als ich auf die Stiefel blickte, die ich mir am Ende mühselig übergestreift hatte. Für unseren späteren Ausflug werde ich mir anderes Schuhwerk anziehen: Weil sie bis zur Wade reichen, sind sie für längere Märsche ungeeignet. Aber im Lager erfüllen sie perfekt ihren Zweck: Die Polsterung schützt die Füße noch bei Temperaturen von minus 40 Grad Celsius. Allerdings nicht meine. Sie verlieren die Wärme, sobald ich aus dem Zelt geschlüpft bin, und sind immer noch kalt, wenn ich am Ende des Tages wieder in ihm verschwinde. Ich sage mir immer: «Inzwischen bist du die Kälte doch gewohnt, stell dich nicht so an.» Leider ist das Gegenteil der Fall: Mit meiner langgliedrigen Statur habe ich zu wenig Körpermasse, die vor dem Auskühlen schützt. Auf unserer Exkursion nutzen wir Wanderschuhe, die sich für den Berg oder fürs Eis eigenen. Ihre Struktur gibt Halt an den Knöcheln und mindert die Gefahr von Zerrungen, sie schützen aber noch weniger vor Kälte.
Draußen setze ich mich auf den Klappstuhl neben dem Zelteingang. Ich habe Lust auf eine Tasse mit dampfend heißem Kaffee, warte aber lieber, bis alle wach sind. Irgendwie träume ich wie in einem Dämmerschlaf weiter. Ich denke daran, dass ich dieses Glück - besser kann ich es nicht nennen - gar nicht hoch genug einschätzen und es auch...
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