Schweitzer Fachinformationen
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YASAMIN
Es war der alles verändernde 16. September 2022. An diesem wunderschönen warmen Spätsommernachmittag saß ich zusammen mit meiner Schwester im Gartenpavillon meines Hauses. Wie so oft genossen wir gemeinsam die tief stehende Sonne, die laue Luft und eines unserer liebsten persischen Sommergetränke: Sharbat-e Khakshir Nabat. Es war gegen 17 Uhr, als meine Schwester vorschlug, am Wochenende eine Ausstellung zu besuchen. Wir liebten es, uns an freien Tagen die Zeit mit Kulturveranstaltungen zu vertreiben. An jenem Freitag liefen im Hintergrund einige Stücke von Mozart und Beethoven. Klassische Musik hatte immer schon eine beruhigende Wirkung auf mein temperamentvolles Gemüt. Ich griff zum Telefon, um nach interessanten Veranstaltungen zu schauen. Doch zum Tippen kam es nicht mehr. Im Schlagzeilen-Widget des Smartphones fiel mir die Überschrift eines SPIEGEL-Artikels7 auf, der soeben erschienen war: »Frau stirbt nach Festnahme durch Irans Sittenpolizei«. Es war die Geschichte der jungen Iranerin Jina Mahsa Amini, die nur wenige Tage später die weltweite, feministische Revolution unter dem politischen Slogan Frau, Leben, Freiheit gegen das iranische Regime und die Unterdrückung dort lebender Frauen auslösen sollte. Und auch meine Welt brachte sie von einer Sekunde auf die nächste ins Wanken. In meinem Kopf drehte sich alles, plötzlich nahm ich weder die Musik noch das Vogelgezwitscher oder die fröhlichen Plaudereien meiner Schwester wahr. Stattdessen hörte ich mich leise flüstern: »Es wiederholt sich. Alles wiederholt sich.«
Meine Schwester, die noch immer fröhlich von der Ausstellung erzählte, brach ihren Monolog mitten im Satz ab und schaute mich fragend an.
»Was sagst du da? Was wiederholt sich?«
Ich las die Zeilen des Artikels immer und immer wieder: ». von der Polizei in Gewahrsam genommen . fiel sie ins Koma . die strengen iranischen Hijab-Vorschriften . junge iranische Frau gestorben.« Meine Augen sprangen unruhig von einem Wortfetzen zum nächsten, mein Herz schlug bis zum Hals, und meine Handflächen wurden klitschnass. Tränen liefen über meine glühend heißen Wagen, und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich nicht mehr schweigen würde. Beinahe exakt dieselbe Geschichte war auch mir passiert, vor rund vierzig Jahren im Iran. Mit dem Unterschied, dass ich noch lebe. Aber das Verheerende daran war, dass ich trotz meines eigenen sowie zahlreicher ähnlich tragischer Frauenschicksale aus meinem Heimatland nie außerhalb meines engsten Kreises darüber gesprochen habe. Bis zum 16. September 2022.
Von diesem Tag an war Wegschauen für mich keine Option mehr. Seit 1979 erleben iranische Frauen bis heute mit unveränderter, brutaler Härte und Ungerechtigkeit die Folgen der Islamischen Revolution.
Mein Name ist Yasamin. Ich wurde 1966 in Teheran, in der Nähe des Amjadiyeh-Stadions, geboren. In meiner Jugend - Mitte der Achtzigerjahre - bin ich während des Ersten Golfkriegs nach Deutschland geflüchtet. Bis zur Revolution 1979, unter der Führung von Ajatollah Khomeini, verbrachte ich eine glückliche Kindheit im Iran. Meinen Vater sah ich allerdings nur selten, denn er arbeitete in seinem Atelier und war über die Stadtgrenzen Teherans hinaus für seine exquisiten, maßgeschneiderten Anzüge bekannt. Er entwarf die schönsten Stoffe und Schnitte und konnte mit bloßem Auge die Maße eines Mannes nehmen. Seine Kunden kamen aus gehobenen Gesellschaftskreisen und bewunderten sein Talent. Heute würde man sagen, seine Kreationen waren ein Must-have. In unserem Haus war es meine Mutter, die alle Fäden in der Hand hielt und zusammenführte. Sie heißt Khorshid, was so viel bedeutet wie Sonnenschein. Und so war sie auch. Ihr ganzes Wesen strahlte Kraft und Liebe aus. Durch nichts war sie aus der Fassung zu bringen und organisierte mit Gelassenheit unseren Alltag. Zu diesem gehörten neben meinem Vater und mir auch meine Geschwister und meine Großeltern. Es ging bei uns also immer lebhaft, geschäftig und fröhlich zu.
Am meisten vermisse ich die gemeinsamen Nachmittage, die wir in unserem kleinen Garten verbrachten. Den süßen, zarten Duft weißer Jasminblüten. Die prächtigen Rosen, die zu jeder Tageszeit anders rochen, und unseren Weinstock samt den großen, grünen Trauben. Jede der Jahreszeiten hatte ihre eigenen Farben. Die Gartenkultur hat in Persien eine lange Tradition und reicht bis zur Dynastie der Achämeniden zurück. Für mich war unser Garten etwas ganz Besonderes. Um seinen kleinen Brunnen herum standen Bänke mit persischen Teppichen, Decken und Kissen. Hier saßen wir an warmen Frühlings- und Sommernachmittagen stundenlang zusammen, aßen süßeste Wassermelonen, alberten herum und erzählten uns Geschichten. Wir liebten diese Art von Geselligkeit. Meine Mutter bereitete für uns oft Sharbat-e Khakshir Nabat zu, ein persisches Erfrischungsgetränk mit Minze, Sophienkrautsamen, frischem Zitronensaft, Rosenwasser und Eiswürfeln. Die leichten, gelben Sophienkrautsamen sammelten sich dabei unten im Glas, und wenn man umrührte, wirbelten sie herum und tänzelten goldschimmernd anmutig nach oben. Wenn ich daran zurückdenke, schmecke ich immer noch die Honigsüße auf den Lippen und fühle die prickelnde Frische des Getränks meinen Körper durchfließen.
Eines Nachmittags - daran erinnere ich mich noch sehr gut - saßen wir im Garten, und meine Mutter trug ein Gedicht von Fariduddin Attar vor. Gebannt hingen meine Schwestern an ihren Lippen. Wir liebten die Poesie dieses persischen Dichters und Mystikers. In dem Gedicht ging es um einen König, der in der größten Freude zugleich an all das Leid in seinem Königreich erinnert werden wollte und in Zeiten des schlimmsten Kummers an das erlösende Glück. Seine weisen Berater ließen ihm daraufhin einen Ring schmieden, auf dem stand: »Auch dies wird vorübergehen!«
In unserer geselligen Runde brach große Aufregung aus. Azita und Azadeh, meine beiden jüngeren Schwestern, tauschten sich eifrig darüber aus, was wohl auf ihrem Ring stehen könnte, und versuchten sich mit ihren Antworten zu übertrumpfen. Sie neckten sich gegenseitig und brachten damit die ganze Runde zum Lachen. Doch ich war still. An diesem Tag konnte ich die Euphorie meiner Schwestern nicht teilen. Ich nutzte die Zeit im Garten oft, um an meinen Aufsätzen für die Schule zu schreiben. Der Blick meiner Mutter ruhte lächelnd auf mir:
»Yasamin, du bist so still. Wo sind deine Gedanken? Noch bei deinem Aufsatz? Magst du uns darüber erzählen?«
»Ich bin gerade damit fertig geworden, und das Thema lässt mich nicht los.« Alle schauten mich erwartungsvoll an. »Unsere Lehrerin hat uns gebeten, darüber zu schreiben, was besser sei, Reichtum oder Bildung.«
Azita war immer noch aufgeregt, wippte fröhlich auf der Bank und rief aus: »Natürlich hast du dich für Bildung entschieden!«
Ich musste schmunzeln, fast alle in meiner Klasse hatten sich vorgenommen, über Bildung zu schreiben. »Klar, was du lernst, behältst du für immer. Wissen ist dein wichtigstes Kapital, du trägst es mit dir, und niemand kann es dir nehmen. Aber Reichtum gehört nicht dir allein, sondern ist immer auch von anderen Faktoren abhängig. In der Wirtschaft können viele Dinge passieren. Reichtum ist fremdgesteuert, und du läufst stets Gefahr, alles zu verlieren. Bildung gehört ausschließlich dir. Du kannst sie für alles einsetzen, teilen - was du willst. >Seinen Geist frei zu entfalten, ist ein wahres Glück
Damit hatte ich ein angeregtes Gespräch angestoßen. Azita fand noch viele Gründe, warum Bildung wichtig war, und Azadeh, meine jüngere Schwester, überschlug sich fast beim Aufzählen aller Dinge, die sie noch lernen wollte. So saßen wir noch einige Zeit da, bis die tief stehende Sonne unseren Garten in ein warmes, dunkelorangenes Licht tauchte, und leise die Dämmerung hereinbrach.
Am nächsten Tag in der Schule konnte ich im Unterricht noch einige sehr gelungene Aufsätze von meinen Mitschülern hören. Besonders schön fand ich den Aufsatz von Omid mit der Überschrift: »Durch starkes Denken kann man ein Kamel zu Fall bringen«. Das sorgte für allgemeine Erheiterung. Omid war der Sohn unseres Hausmeisters und mein guter Freund. Mit seiner Familie wohnte er in einer kleinen Hausmeisterwohnung in der Schule. Nach dem Unterricht half er noch seinem Vater, alle Klassenzimmer sauber zu machen. Dabei war er immer bescheiden und hat nie darüber gesprochen. Ich habe es nur zufällig mitbekommen. Trotzdem war er gut in der Schule und fleißig. Das bewunderte ich. Ab und zu nahm Omid mich mit zu sich nach Hause. Seine Familie war...
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