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Ein Jahr später saß James an einem Nachmittag im Juni 1917 im Garten eines Militärkrankenhauses in Kent, wo er den Sonnenschein und das Rauschen der Bäume in einer leichten Brise genoss. Er hatte die gesamte Umgebung für sich allein, sah sich um und ließ die Idylle auf sich wirken. So konnte es nirgendwo sonst auf der Welt sein. Einen solchen Garten gab es nur in England. Wunderschön, beschaulich, friedlich, so beruhigend. Zuhause. Das Heimatland.
Einige Zeilen aus einem Gedicht gingen ihm durch den Kopf.
Und sterbe ich, dann denkt von mir nur das:
Es gibt jetzt einen Fleck auf einem fremden Feld,
Der ewig England sein wird, dessen Maß
An reicher Erde reicheren Staub enthält.
Ein Staub, den England formte und gebar,
Dem es die Blumen und die Wege schenkte.
Ein Leib aus England, dessen Luft ihm Atem war,
Den seine Flüsse wiegten, den die Heimatsonne wärmte.
Der Rest war ihm entfallen. Er konnte sich nicht genau daran erinnern. Rupert Brooke hatte schon recht, dachte James. Was für ein großer Poet er doch war.
Monatelang hatte er unter Schmerzen kleiner Verbesserungen harren müssen, aber inzwischen konnte er sich mit einem Paar Krücken aus eigener Kraft fortbewegen. Mittlerweile war er zuversichtlich, dass man ihm die Beine nicht würde abnehmen müssen. Irgendwann würde er wieder normal laufen können.
Die Ärzte hatten ihm erklärt, dass er eine ausgeprägte Regenerationsfähigkeit besaß, und er glaubte ihnen. Die Strapazen des blutigen, brutalen Kriegs waren bereits größtenteils abgeklungen. Er fühlte sich mit jedem verstreichenden Tag besser. Ihm fiel es schwer zu glauben, dass er mittlerweile siebenundvierzig Jahre alt war.
Man hatte ihn in eine militärische Rehabilitationsklinik in Kent verlegt, eine Grafschaft, die er kannte und trotz der bittersüßen Erinnerungen an die dort mit Alexis verbrachte Zeit liebte.
Der Komfort der Einrichtung, die ständige Pflege durch kompetente Ärzte und die Freundlichkeit der bezaubernden englischen Krankenpflegerinnen hatten wahre Wunder bei ihm bewirkt. Er fühlte sich im Sanatorium, wie jemand die Klinik genannt hatte, wohlig geborgen. Die treffende Bezeichnung hatte sich in seinem Kopf festgesetzt.
Plötzlich unterbrachen Geräusche die Stille. Schwester Jackson kam herausgeeilt. Sie lächelte, während sie ihm den Weg entlang geradezu entgegenrannte.
James straffte im Rollstuhl die Schultern. Bevor er einen Ton herausbrachte, teilte sie ihm mit, dass er Besuch hatte. »Eine Dame, Major Falconer. Eine Mrs Ward. Soll ich sie heraus in den Garten führen?«
So verblüfft James war, er brachte die Bitte hervor, sie zu ihm zu bringen. Dann lehnte er sich im Rollstuhl zurück und starrte der davoneilenden Pflegerin Jackson hinterher.
Unerwartet breitete sich ein kleiner Anflug von Freude in ihm aus. Georgiana Ward. Nach all der Zeit. Vor Jahren war sie ein ganz besonderer Mensch für ihn gewesen. Und die Mutter seines einzigen Kinds. Bei der Erinnerung an Leonie und daran, wie er sie vernachlässigt hatte, schrumpfte James innerlich. Er verdrängte den Gedanken.
Dann erblickte er sie, seine Mrs Ward, als sie so wunderschön wie eh und je in Begleitung von Schwester Jackson den Weg entlangkam. Die Pflegerin holte einen Stuhl für seine Besucherin, bevor sie lächelnd von dannen zog.
Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und sahen sich gegenseitig an. James beeindruckte ihr Liebreiz, an dem sich nichts geändert hatte, obwohl sie zehn Jahre älter war als er. Durch das volle, so elegant wie immer frisierte rabenschwarze Haar zogen sich silbrige Strähnen, die tiefblauen Augen funkelten vor Leben und Intelligenz. Unverhofft erinnerte er sich an ihre erste echte Begegnung. Damals war er siebzehn gewesen, sie siebenundzwanzig. Verzaubert - das war er von ihr gewesen und in diesem Moment war er es erneut.
Georgiana Ward ihrerseits fand, dass James so gezeichnet, so müde aussah. Groß und schlank war er immer gewesen, doch in seinem Pyjama und Morgenrock wirkte er deutlich dünner, regelrecht abgemagert. Grau tünchte das helle Haar seiner Jugend, die stechenden blauen Augen hingegen hatten sich nicht verändert. Und sie musterten Georgiana gerade eindringlich.
Sie ergriff zuerst das Wort. »Hallo, James. Während du in den vergangenen Jahren in Frankreich gekämpft hast, war ich zutiefst besorgt um dich. Also habe ich mich mit deiner Schwester Rossi angefreundet. So konnte ich auf dem Laufenden über dich bleiben, vor allem seit deiner Verwundung. Ich musste mich vergewissern, dass du noch am Leben bist.«
Merkwürdigerweise freute ihn, dass sie sich um ihn gesorgt hatte. Dieses Geständnis von ihr überraschte ihn. Sie hatten einander seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, und er wusste, dass sie es ihm anlastete. Zu Recht.
Mit einem verschmitzten Lächeln sagte er: »Ich vermute, du warst in ihrem Laden in der Malvern Einkaufspassage und hast ein, zwei Tücher gekauft ...« Plötzlich grinste er. »So musst du mit Rossi ins Gespräch gekommen sein.«
Georgiana nickte. »Richtig, James. Ich habe in der Tat einige erworben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ihre Kreationen eignen sich hervorragend als Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke. Und die Kosten waren mir meinen Seelenfrieden wert.«
»Es war nett von dir, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, Georgiana. Danke.«
»Natürlich liegt mir etwas an dir!«, rutschte ihr heraus, wofür sie sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Sie spürte, wie sie errötete.
Während er sie ansah, fühlte sich seine Brust plötzlich beengt an, und er verspürte den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Allerdings schaffte er es ohne Hilfe noch nicht aus dem Rollstuhl. Verflixt und zugenäht, dachte er und räusperte sich.
Als Georgiana die Fassung zurückerlangte, bedachte sie ihn mit einem eindringlichen Blick. »Zwischen uns hat immer diese Verbindung bestanden, James. Schon seit unserer ersten Begegnung. Ich denke oft daran, wie erstaunlich es war, dass wir einfach ... nun ja, aufeinander zugerannt und uns in die Arme gefallen sind.«
James nickte. »Noch dazu in einem tosenden Sturm.« Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. »Zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag hast du mich gebeten, nach Ascot zu kommen. Du meintest, du hättest etwas Wichtiges zu besprechen. Und dabei habe ich meine Tochter Leonie kennengelernt. Erinnerst du dich an den Tag?«
»Natürlich«, antwortete sie, den Blick der violett-blauen Augen auf ihn gerichtet. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Weil du an dem Tag gesagt hast, du wärst ein Teil meiner Vergangenheit, nicht meiner Zukunft ... Weißt du auch das noch?«
Sie nickte nur, saß ihm nach wie vor aufrecht gegenüber.
»Im letzten Jahr habe ich viel nachgedacht«, sagte er. »Ich habe mich verändert. Leonie geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Deshalb möchte ich wissen, ob du nur ein Teil meiner Vergangenheit bist, oder ob ihr beide vielleicht ein Teil meiner Zukunft werden könntet. Was meinst du? Würde sie mich gern sehen?«
Sie ließ den Blick über die Gärten wandern und erwiderte unverbindlich: »Warten wir ab, wie es sich zwischen uns entwickelt, wenn es dir besser geht. Es wäre wunderbar, wenn wir eine Freundschaft der einen oder anderen Art wiederaufleben lassen könnten.«
James betrachtete sie. Sie trug ein tiefblaues Kleid, das die Farbe ihrer Augen betonte. »Saphire«, sagte er. »Daran erinnern mich deine Augen immer.«
Sie lächelte. »Und ich ...« Abrupt verstummte sie, als Schwester Jackson mit einem Tablett voller Tee und Sandwiches auf sie zusteuerte.
Die Ankunft der Krankenpflegerin unterbrach den intimen Moment. Sie unterhielten sich stattdessen über James' Zeit in der Armee, die schrecklichen Neuigkeiten aus Europa und den Kriegseintritt der Amerikaner. Beide wollten die zerbrechliche, frisch wiederhergestellte Freundschaft nicht dadurch gefährden, dass sie allzu viel über Leonie sprachen. Später an jenem Nachmittag jedoch beschloss Georgiana kurz vor dem Aufbruch aus dem Krankenhaus, James eine kritische Frage zu stellen.
Sie schaute ihn unverwandt an. »Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten, James. Mir ist der Gedanke gekommen, dass du wohl noch eine Zeit lang Pflege brauchen wirst, wenn man dich letztlich von hier entlässt. Wäre es für dich denkbar, als mein Gast zu mir nach Ascot zu kommen? Ich habe reichlich Personal, und auf dem Land wäre es besser für dich als im dunstigen Qualm von London. Soweit ich von Rossi weiß, lebst du abgesehen von deiner Dienerschaft allein.«
Er antwortete nicht sofort, musterte sie nur mit den so lebhaften blauen Augen, die in jenem Moment funkelten.
Georgiana versuchte zu entscheiden, ob sie darin lediglich ein Zögern oder Zweifel sah.
Nach mehreren Herzschlägen sagte er: »Ich würde gern nach Ascot kommen. Dein Haus ist wunderschön. Aber ich werde tatsächlich Hilfe brauchen und eine Zeit lang betreut werden müssen....