Schweitzer Fachinformationen
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Zahllose Schornsteine ragten aus den Ziegeldächern. Einige waren kurz und dick, andere waren wie ausgemergelt. Ich nahm eine der breiten Straßen, die am Nordbahnhof begannen, und ging einfach immer geradeaus, ohne mich umzuschauen, damit ich in den Augen der Passanten zielsicher wirkte. Nur die Kreuzungen mit fünf Straßenarmen machten mich unsicher. Hier konnte ich nicht mehr sagen, was „geradeaus” genau bedeutete.
Ein Vorhang wurde im Himmel langsam zugezogen, und das Wellenmuster der Pflastersteine schwärzte sich. Wer hatte sich so viel Zeit genommen, diese Steine zusammenzulegen? Wie war es möglich, dass sie alle so gut zusammenpassten? An der Stelle, an der das Wellenmuster in ein Schlangenschuppenmuster überging, begann es zu regnen. Ich blieb stehen, blickte zurück, die Pflastersteine waren verschwunden, und an ihrer Stelle lag eine matt asphaltierte Straße. Ich ging weiter. Die Schritte von Stöckelschuhen näherten sich von hinten und überholten mich. Ich erfuhr nichts von dem Gesicht der Frau, sondern sah nur ihren angespannten Rücken. Einige andere Menschen überholten mich ebenso: ein Mann, der den Kragen seines Sommermantels hochzog und kerzengerade ging, als würde er sonst seinen Kopf verlieren; eine ältere Dame, die mir einen einsamen Rücken zeigte, vielleicht hatte sie gerade ihren Pudel verloren.
Die nassdunklen Fensterrahmen erinnerten mich an die Ränder müder Augen. Ich hatte nicht den Mut, jemandem den Zettel zu zeigen und nach dem Weg zu fragen. Menschen huschten an mir vorbei, eilten zu einem mir unbekannten Ziel.
Ein Schaufenster mit alten Miniaturen, die Hunde darstellten, zog meinen Blick auf sich. Ich drückte meine Nase gegen das Glas, um die Miniaturen und Kupferstiche genauer zu betrachten. Da waren Hunderassen dargestellt, die ich nie zuvor gesehen hatte, dennoch bemerkte ich zum ersten Mal im Leben, dass ich Hunde liebte. Wenn ich ein Hund wäre, könnte ich mich in jeder Stadt sofort sicher fühlen.
Die Straßen glänzten durch die Nässe schwarz wie die Schnauze eines gesunden Hundes. Würde ich irgendwann einfach von der Nacht verschluckt werden? Ich ging weiter. Die bunten Neonreklamen der Restaurants verschwommen in der feuchten Luft.
In einer Gasse, in die ich zufällig hineinging, gab es ein Geschäft. Durch die vordere Glaswand sah ich rosafarbene, hellblaue und gelbe Regenschirme, die in voller Beleuchtung zum Kauf angeboten wurden. Hinter der Theke stritten sich zwei Verkäuferinnen. Eine war viel älter als die andere. Vielleicht war die eine die Mutter der anderen. Auch meine ältere Schwester stritt eine Zeitlang täglich mit meiner Mutter. Der Geliebte meiner Schwester gefiel der Mutter nicht. Der Streit erreichte seinen Höhepunkt, als meine Mutter erfuhr, dass meine Schwester schwanger war. Aber damit ging die Streitphase auch langsam zu Ende. Wenn man hohes Fieber bekomme, sei die Erkältung bald vorbei, verriet mir meine Schwester ihre Weisheit.
In einer Gasse standen zwei Frauen mit netzartigen Strümpfen, die mich an Moskitonetze erinnerten. Die eine Frau, deren Kleid braun war, hatte goldene Haare, während die andere, die kastanienbraune Haare hatte, eine goldene Kette trug. Beide betrachteten aufmerksam die Passanten auf dem Boulevard und bemerkten nicht einmal, dass ich vor ihnen stand. Bald bog ein Mann vom Boulevard ab und kam torkelnd zu ihnen. Dieser dickliche Mann, der seine Mütze bis auf die Höhe seiner Augen heruntergezogen hatte, holte Geldscheine aus der Brusttasche und schüttelte sie vor der Nase der Kastanienfrau. Zu meiner Überraschung lächelte sie ihm zu, nahm seinen Arm und führte ihn in die dunklere Gasse hinein. Ich folgte ihnen und sah, wie sie die Treppen eines alten zweistöckigen Hauses hochstiegen. Bald ging das Licht in einem Fenster an. Anscheinend vermittelte die Frau Zimmer zum Übernachten. Ich hatte auch ein paar Scheine dabei. Ai Van hatte mir gesagt, ich könne von dem Geld ein paar Tage gut leben. Es kam mir daher übertrieben vor, dass die Frau für ein Zimmer in diesem verfallenen Haus so viel Geld kassierte. Mein Lehrer hatte mir gesagt, dass es zu den Menschenrechten gehöre, unter einem Dach in vier Wänden schlafen zu dürfen. Es sei eine der kriminellsten Hochstapeleien des Kapitalismus, durch Zimmervermietung Geld zu verdienen. Aber wenn die Menschen das hier nicht anders gelernt hatten, konnte ich sie sicher nicht von heute auf morgen umerziehen. Es war schon zu spät, um nach der Wohnung der Schwester von Ai Van zu suchen. Wegen der Moskitos wollte ich auf keinen Fall draußen schlafen. Hier konnte man anscheinend durch Gebärdensprachen ein Zimmer bekommen. Ich kehrte zurück zu der Stelle, an der immer noch die blonde Frau stand. Sie sah so gut aus, dass sie besser eine Filmschauspielerin hätte werden sollen. Aber vielleicht hasste sie Kameras, wie ich. Außerdem konnte man eigentlich nicht sagen, welcher Beruf besser war. Ich holte meine Scheine und schüttelte sie vor der Nase dieser Frau, die mindestens zehn Zentimeter größer als ich war. Sie öffnete ihre großen Augen noch weiter und flatterte mit den Wimpern, die einen eleganten Bogen nach oben zeichneten. Obwohl ich nichts anderes gemacht hatte als der Mann vorhin, war die Frau so überrascht, dass sie fast erstarrte. Ungeduldig griff ich nach ihrem nackten Oberarm, so dass sie zusammenzuckte und einen Schritt zurücktrat. Ich zeigte in die Richtung des alten Hauses, in dem die andere Frau mit dem Mann verschwunden war, und nickte ihr lächelnd zu. Sie warf einen schnellen Blick auf meine Scheine und machte ein seriöses Gesicht. Dann suchte sie zwischen meinen Augen und dem Mund nach etwas. Sie schien dort etwas zu finden, von dem ich keine Ahnung hatte, denn ihr erstarrtes Gesicht lockerte sich wieder ein bisschen auf. Ich nahm ihre Hand und zog sie zu dem Eingang des alten Hauses.
In dem Zimmer hing ein großer, ovaler Spiegel. Ich glaubte, darin das zu sehen, was auch die Frau in mir gesehen hatte: ein mageres, schüchternes Mädchen. Nur die Augen glänzten wie in hohem Fieber gefangen, und die Lippen brannten apfelrot. War ich das wirklich? Auf dem Gymnasium hatte ich zu den Mädchen gehört, die reif und stämmig aussahen. Keiner hatte mir je gesagt, dass ich dünn sei oder kindlich aussehe. In dem Spiegel war auch die Frau zu sehen, die hinter mir stand. Eine schwungvolle Linie lief vom Nacken über die Brüste und Hüften bis zu den Schenkeln. Ein meisterhafter Pinselstrich. Als ich mich zurückwandte, ähnelte sie nicht mehr einem zweidimensionalen Kunstwerk, sondern war lebendige Materie mit Fleischgewicht. Sie fragte mich etwas. Ich hörte das Wort „Papa” heraus. Vielleicht dachte sie, ich würde mit meinem Vater zusammen nach einer Unterkunft suchen. Ich sagte „only for me”. Ich hatte zwar in den letzten Jahren immer behauptet, dass ich kein Englisch könne. Aber wenn ich alle englischen Wörter zusammentrommeln würde, die ich je gehört und behalten hatte, könnte ich vielleicht doch etwas Englisch sprechen. Hatte die Frau vielleicht Angst, dass ich ohne den Vater das Zimmer nicht zahlen konnte? Ich drückte ihr meine Geldscheine, die durch meinen Schweiß etwas feucht geworden waren, in die Hand. Dann musste ich ihre Hand mit dem Geld darin wieder zudrücken, denn die Frau starrte mich an und achtete nicht auf das Geld. Scheinbar stimmte etwas nicht mit meinem Gesicht.
Die Frau setzte sich auf das Bett, und ich setzte mich neben sie. Sie schien noch auf etwas zu warten. Ich überlegte mir, was man sonst noch machen musste, wenn man ein Zimmer mietete. Mir fiel nichts ein. Vielleicht war sie einfach einsam. Ein Fussel hing an ihren Haaren über dem Ohr. Ich streckte meine Finger aus, um ihn zu entfernen. Die Frau zuckte zusammen, als hätte sie Angst vor mir. Was an meinem Körper konnte so angsteinflößend wirken? Selbst wenn wir in Streit geraten und uns prügeln sollten, würde sie die Überlegene sein. Vor allem: Um was sollten wir uns streiten?
Meine Großtante, die zwei Jahre zuvor gestorben war, kam mir in den Sinn. In den letzten Monaten ihres Lebens hatte sie Angst vor etwas, was sonst keiner sehen konnte. Wenn ich sie fragte, wovor sie sich fürchtete, antwortete sie: „Ein Soldat ohne Beine besuchte mich”, oder: „Die Knochen, die unter der Küche begraben sind, schluchzen in der Nacht.” Einmal begoss sie sich selbst mit kaltem Wasser und sagte dabei, ihr Kleid würde Feuer fangen. Sie erzählte mir auch, dass es im Wald einen angebrannten Baumstumpf gebe, aus dem kopflose Kinder geboren würden. Das Wort „Einbildung” sagte ihr nichts, und ein anderes Wort, „Halluzination”, kannte sie nicht. Wenn ich sie umarmte und ihre Wange streichelte, entspannte sich ihr Fleisch. Sie wiederholte dann „vielen Dank, vielen Dank, vielen Dank” und beruhigte sich ein bisschen.
Auch diese Frau hatte, obwohl sie noch jung war, wahr-scheinlich Halluzinationen wie meine Großtante. Aus Mitleid legte ich meinen Arm um ihren Nacken und zog sie zu mir. Zuerst versuchte sie, mit zögernden Fingern meinen Bauch von der Seite her sanft von sich wegzudrücken. Dann tasteten ihre Finger nach meinem Rückgrat und lasen die Blindenschrift. Sie fragte mich etwas. Ich verstand sie nicht, aber die Bedeutung der Frage war vielleicht sowieso unwichtig. Auch meine Großtante konnte ich nicht sprachlich trösten. Man musste stattdessen alle Fragen bejahen und die Fragende streicheln, um sie zu beruhigen. Ich nickte der Frau zu und streichelte ihre Wange. Aus einem mir unbekannten Grund machte sie dann den Reißverschluss ihres Kleides auf, schlüpfte aus der Hülle heraus und öffnete die Häkchen ihrer Unterwäsche. Dann nahm sie meine Hand und drückte meine Fingerkuppen gegen ihre Zitze, die sich wie die Fußsohle einer Katze anfühlte. An ihrer Spitze gab es einen...
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