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Neugierige Augen musterten mich. Intensiv und rastlos zugleich. Eigentlich wie die alte Dame selbst, wie sie immer schon gewesen sein musste. Hungrige Augen, die sich an ihrer Umwelt nicht sattsehen konnten, die nach Eindrücken dürsteten, die von den Dingen [.] wie von dem Blitz gespalten werden wollten. Weil Gesehenes nicht nur vorüberziehen, sondern auf ihrer Netzhaut schwimmen sollte. So konnte Erlebtes zu Sprachbildern werden, die im Fluss des Lebens jederzeit wieder auftauchen konnten.
Und immer schon mussten Hilde Domins Augen Spiegel ihrer Seele gewesen sein. Augen, in denen sie Freude tanzen und Unmut funkeln lassen konnte. Schöne Augen, auch im hohen Alter von tiefschwarzen Wimpern umsäumt. Augen, die vom Schmerz der Welt geflutet wurden, damit der Kummer darin ertrank. Ich würde die Sprache der Augen lernen. Im Mai 2001 blitzten diese Augen munter auf, musterten mich und verbargen ihre Neugier nicht.
Ich stand im Heidelberger Kurpfälzischen Museum in der Schlange, um mir mein Buch von der berühmten Lyrikerin signieren zu lassen. Dann sah sie hoch zu mir. Ach, reizend! Wollen Sie nicht mit zum Essen kommen .?
Wer ahnte, was aus diesem ersten Blickkontakt erwachsen würde!
Fürs Erste brachte mir dieser Augenblick eine Einladung zum Essen ein, denn natürlich ging ich mit. Wir unterhielten uns gut, doch zu kurz, so fanden wir beide. Und deshalb schlug Hilde Domin beim Abschied eine Fortsetzung unseres Gespräches vor.
Sie müssen mich in meinem Dichterturm besuchen. Ein Turm, wie ihn die Droste hatte. Ach.
Ach, dieses »Ach«. Ich sollte es noch so oft hören. Mal sehnsuchtsvoll gehaucht, mal nicht mehr als ein kleiner Atemstoß, dem eine dramatische Geste der Hand Auftrieb gab. Immer wieder setzte Domin diesen Atemhauch ein. Er war Rufen und Hoffen. Er unterstrich oder verwarf das Gesagte. In ihren Kurzbriefchen verstand er sich oft als Schlussformel.
Ich hatte von Domins Droste-Dichterturm gelesen. Die Droste! Wie schwesterlich gewogen Hilde Domin doch der Annette von Droste-Hülshoff war, nah aus mancherlei Gründen. Wie viel Droste aber in der Domin steckte, ahnten wohl die wenigsten. Nicht nur, weil beide Frauen klein und keck waren und ein loses Mundwerk hatten.
Droste-Hülshoff und Domin hatten sich ihr Dichterinnendasein erkämpft, beiden war Protektion versagt geblieben. Beide Frauen hatten keiner >Schule< angehört und ihre kühnen Wortbilder keinem Zeitgeist geopfert.
Als der Droste-Preis der Stadt Meersburg 1957 zum ersten Mal verliehen wurde, wollte er sich als ein repräsentativer Preis verstanden wissen, der »Einzelgängerinnen« verliehen wurde, die das »abenteuerliche Wagnis dichterischer Existenz« nicht gescheut hatten. Deshalb war Domin der ihr am 6. Mai 1971 verliehene Droste-Preis so wichtig. Denn er war nicht nur eine literarische Anerkennung, er war moralische Stütze in der Literaturwelt der Sechzigerjahre, die Hilde Domin keinen Halt gab, ja, an der sie sogar zu zerbrechen drohte.
Domins Dichterturm am Rande der Stadt. Trutzburg. Enklave. Rückzugsort einer gestrandeten Seele. Dem Lärmen der Stadt enthoben, ohne ihr entzogen zu sein.
Hilde Domin hatte mich bei meinem ersten Besuch auf sechs vor halb vier einbestellt. Welch verrückte Uhrzeit für eine Einladung! Die penible Liebe zur Pünktlichkeit war Hilde Domin im Kölner Elternhaus vom Vater in die Wiege gelegt worden. Immer wieder erzählte Domin, dass ihr Vater die Richtlinien der täglichen Routine bestimmt hatte. Dass das Dienstmädchen zum Beispiel die Speisen auftragen musste, sobald der Vater an der Haustür klingelte. Damit das Essen schon auf dem Tisch stand, wenn er das Esszimmer betrat. Pünktlichkeit war Respekt vor der Person. An Pünktlichkeit und Schnelligkeit hatte Hilde Domin auch im hohen Alter festgehalten. Wenn ich auf etwas warte, dann muss es so kommen. Sie schnippte mit den Fingern, um das Tempo zu veranschaulichen. Schnelle Gangart erwartete und verlangte sie auch von den Menschen, die mit ihr zu tun hatten. Ich lernte es.
Ich hatte mich für meinen ersten Besuch im Heidelberger Graimbergweg 5 mit einem Zeitpuffer gewappnet. Ich kannte das Haus nicht, doch ich wollte auf die Minute pünktlich sein.
Nichts deutete von außen darauf hin, dass in diesem Haus seit vierzig Jahren die berühmte Lyrikerin Hilde Domin wohnte. Keine Hausnummer signalisierte, dass ich vor dem richtigen Domizil stand, aber der wehrhafte Rundbau mit schiefergedecktem Dachspitz, der Dichterturm, gab sich zu erkennen. Rosen schmiegten sich an die Hauswand. Am Weg ein kleiner Mandelbaum. Das schmiedeeiserne Tor, das von der Straße zum Haus führte, erwies sich als verlässlicher Wachhund: knurrte heiser und jaulte, wenn sich Besucher dem Haus näherten. »Palm/Domin« stand weiterhin auf dem Klingelschild. Auch wenn Ehemann Erwin Walter Palm schon seit Juli 1988 tot war, präsent war er geblieben. Und zwar nicht nur unter dem Klingelknopf. Hilde Domin hatte das Lebensgespräch mit ihm nie abreißen lassen. Es gab keinen Tag, an dem Erwin nicht in Hilde Domins Leben einbezogen worden wäre. Manchmal hörte ich Zwischentöne aus dem Lobgesang, die aufhorchen ließen. Die Erinnerungen an Erwin Walter Palm schienen bei aller Liebe nicht unbelastet zu sein.
Erst im Laufe unserer Freundschaft ließ mich Hilde Domin einen Blick hinter den Vorhang ihres Herzens werfen. Die Einzigartigkeit beider Persönlichkeiten hatte sie aneinandergefesselt, das Exil sie zusammengeschmiedet. Gängelband. Platonsche »Kugelwesen«. Zwei Hälften, die danach trachteten, sich zu vereinen, geistig mehr als körperlich.
Die Holzstufen der langen Treppe stöhnten unter jedem Schritt. Acht Stufen, dann der Absatz mit den weißlackierten, südlich anmutenden Korbmöbeln. Neun Stufen, diesmal nur ein kleiner Absatz, Hilde Domins Ateminsel, auf der sie die Puste für die letzten drei Stufen mobilisierte.
Die Dichterin erwartete mich in der geöffneten Tür.
Ach, wunderbar. Sie sind pünktlich. Das erlebt man nicht mehr alle Tage. Kommen Sie herein. Sie strahlte, und Bernsteinflöckchen tanzten in ihren Augen. Ihre ausgebreiteten Arme zerteilten den langen Gang hinter ihr. Linker Hand führte er zu dem jeweiligen Arbeits- und Schlafbereich des Paares, das ein Leben lang getrennt gearbeitet und geschlafen hatte. Zu unterschiedlich waren ihre Lebens-, Arbeits- und Schlafrhythmen gewesen. Hilde Domin war die muntere Amsel, die ihr Lied mit den ersten Sonnenstrahlen zwitscherte, Erwin Walter Palm stimmte das Lied der Nachtigall an. Gepolsterte Türen sorgten dafür, dass sich keine Misstöne in die Gesänge mischten.
Hilde Domin dirigierte mich rechter Hand durch den langen Gang, den deckenhohe Bücherregale säumten. Mintgrün musste der Teppichboden einst gewesen sein und hatte wohl mit der Farbe der handgefertigten Maßregale korrespondiert. Dort tummelten sich die Bücher unartig. Sie waren längst keine wohlerzogenen Haustiere mehr, die der chronologischen Ordnung Erwin Walter Palms folgten - mit der Hilde Domin zeitlebens ohnehin gehadert hatte. Wie sollte man ein Buch finden, wenn jede Suche in ein literarisches Kolleg mündete? Hatte doch selbst Hermann Hesse seine Bücher innerhalb thematischer Gruppen alphabetisch geordnet, klagte sie ein ums andere Mal. Doch grundlegend veränderte sie nichts. Nach Palms Tod rangelten die Bücher in Zweierreihen um die besten Plätze. Und sie waren mit den Jahren träge geworden. Aufgedunsen, weil Hilde Domin sie mit themenbezogenen Zeitungsartikeln fütterte, die ihnen satt aus den Seiten hingen.
Die Dichterin zog hier ein Buch hervor, deutete dort auf eines, verwies nach oben. Nicht ohne Stolz, denn gleich über den zwei Einbauschränken stapelten sich die Belegexemplare ihrer eigenen Werke. Die Einbauschränke aber gaben nach Hilde Domins Tod die Schätze ihrer wertvollen Korrespondenz frei.
Dann war da die kleine Nische in der Efeutapete: Die ehemalige Durchreiche hatten die Palms zu einem Medizinschränkchen umfunktioniert, dessen Bestand an Tablettenröhrchen und Salbentiegel von Zeiten herrührte, als sich noch niemand um Verfallsdaten scherte. Kein Nachmieter hat an dem Nischenschränkchen etwas verändert - und so lagern dort bis heute noch Hilde Domins Sicherheitsnadeln und Schlüssel für Schlösser, die nichts mehr eröffnen. Kleine Aufkleber mit der winzigen dominschen Handschrift klebten auch bei meinem letzten Besuch 2018 an den Stirnseiten der Regalbrettchen: Hormone und Herzstärkungsmittel.
Bevor wir das Wohnzimmer betraten, kümmerte sich Hilde Domin in der einfach eingerichteten Küche um meine mitgebrachten Blumen. Ich hatte offensichtlich eine gute Wahl getroffen: Lag nicht nur bei der Farbe richtig - Gelb mit einem Anflug von Lachsrosa -, sondern vor allem bei der Sorte: Rosen.
Rosen - die für Hilde Domin mehr als Blumen waren. Rosen ersetzten den Ansprechpartner, wie zum Beispiel 1959, als die Lyrikerin sich zur Schreibklausur nach Astano in den Schweizer Bergen zurückgezogen hatte, um anhand ihrer Manuskripte Gedichte für ihren ersten Lyrikband zusammenzustellen. Damals hatte Domin Rosen in einer ausgedienten Weinflasche auf den leeren Stuhl neben sich platziert, wie sie Hermann Hesse Jahre später gestand. Immer hatte sie Rosen in die Zimmer gestellt, dass etwas darin mein sei.
Viele Jahre später gab sie ihre Erfahrung an eine junge Dichterkollegin weiter. Sie müssen gut sein zu sich selbst, wenn Sie soviel allein sind, stellen Sie sich doch morgens eine Rose auf den Tisch, riet sie Ulla Hahn.
Mit Rosen umkränzte Domin die Fotos ihrer verstorbenen Eltern auf der altarähnlichen...
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