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Fast alle Autoren der Vergangenheit interessieren uns allein in historischer Distanz, berühren uns kaum und beunruhigen uns so gut wie niemals. Wenn es aber einen Autor gibt, der nicht nur seine Zeitgenossen extrem gegen sich und extrem für sich einnahm, sondern dem es noch immer gelingt, seine Leser herauszufordern und zutiefst zu beunruhigen, so ist dies der 1712 geborene Jean-Jacques Rousseau. Er habe mit seiner Schreibfeder mehr bewirkt als alle großen Denker zusammen, urteilte man im 19. Jahrhundert. Napoleon dagegen wünschte sich, Rousseau wäre niemals auf die Welt gekommen.
Rousseaus Biographie ist bis in jede Einzelheit hinein durchleuchtet, seine Schriften sind Satz für Satz kommentiert. Trotzdem bleibt, trotzdem wird noch immer viel zu tun bleiben. Jede Zeit verteilt neu ihre Akzente. Die unsrige hat den Rousseau der Zivilisationskritik wiederentdeckt: Zivilisation läuft auf Selbstzerstörung der Menschengattung hinaus, die sich vielleicht nicht aufhalten, sondern nur verlangsamen lässt. In dieser Hinsicht muss Rousseau neu vermessen werden. Dasselbe gilt von seinen Bemühungen, endlich Staatsbürger und Mensch miteinander auszugleichen. In einer Zeit der Globalisierung und sich verstärkenden Globalisierungskritik erhält Rousseau eine Aktualität zurück, die zuvor nur latent war. Rousseau spricht zudem nicht nur zu unserem Verstand, sondern er berührt elementare Zonen unseres Wollens und Fühlens.
Wie erklärt sich jene noch immer von Rousseau ausgehende Beunruhigung? Im Vorgriff auf eine genauer zu begründende Antwort sei vorgeschlagen: Er hat die Möglichkeit aufgezeigt, dass die Menschen, um sich fortzuentwickeln, einen uralten Glückszustand aufgaben und in einen fatalen Sog der Selbstzerstörung gerieten, der allenfalls verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden kann. Weder gibt es ein - Rousseau seit Voltaire mit Absicht fälschlich unterstelltes - «Zurück zur Natur», noch kann es eine politische Gesellschaftsform geben, die uns vor diesem Sog bewahren könnte. Also ist Rousseau ein Prophet des Unheils? Er ist es nicht. Was ihn von Unheilspropheten unterscheidet, schafft vielleicht erst den Grund für seine Faszination: Immer wieder - in seiner Selbstbiographie, in seinem politischen Werk, in seinem Roman, in seiner Erziehungsschrift - weist er uns auf, wie nah, wie erreichbar, wie unkompliziert individuelle Glückszustände («Glück» verstanden als erlebter Einklang mit sich selbst, den anderen und der Natur) zu sein vermögen und wie ein Gemeinwesen mühelos allgemeine und individuelle Güter schaffen könnte. Der Mensch scheint offenkundig dazu bestimmt, das glücklichste Geschöpf zu sein; urteilt man nach dem gegenwärtigen Zustand, so erscheint die Menschengattung von allen die beklagenswerteste. Die Mehrzahl ihrer Übel sind sein Werk. Der Mensch hat mehr getan, um seine Lebensbedingungen zu verschlechtern, als die Natur hat tun können, um sie passend einzurichten.[1]
Nicht leugnen lässt sich: Rousseau war selbst Künstler und Feind der Kunst, Individualist und Kollektivist, Feind des Denkens und scharfsinniger Denker. Er entdeckte als Erster die Kindheit als eigenständige Dimension des Menschen und lieferte seine eigenen fünf Kinder gegen den Willen ihrer Mutter als Säuglinge in einem Heim ab. Die Dissonanzen anderer provozieren moralische Verurteilungen. Bis heute wird Rousseau für seine von ihm subjektiv begründete als auch bereute Fortgabe seiner Kinder verurteilt und verdammt. Jenes Verdammungsurteil entstammt einer Gesellschaft, der das Kindeswohl über alles geht, die zugleich aber die gesamte Kindheit als Störfaktor empfindet und die den jährlichen Tod von Millionen Kindern in armen Ländern als unabwendbares Schicksal akzeptiert. Es besteht kein Grund zu der Ansicht, dass Rousseau sich in Dissonanzen verstrickte, die wir längst hinter uns gelassen hätten. Und wir können uns durchaus vorstellen, dass man sich im Jahr 2312, wenn der 600. Geburtstag Rousseaus begangen wird, an unsere Zeit vor allem mit Scham- oder Mitleidsgefühlen erinnern wird.
In der Literatur wird gewöhnlich zu wenig gewürdigt, dass Rousseau in den Bereichen, in denen er sich betätigte, fast überall bahnbrechend Neues geleistet hat. Eine heroisierende Geschichtsschreibung reserviert den Titel «Universalgenie» für Gestalten wie Leonardo da Vinci oder Gottfried Wilhelm Leibniz. In Wirklichkeit existiert kein Autor, der unsere Zivilisation genauer als Möglichkeit völligen Scheiterns analysiert hat als Rousseau. Niemand hat zudem wie er die Musikästhetik modernisiert und die politische Souveränität nicht mehr als Elitenfunktion, sondern als Angelegenheit aller Mitglieder einer Gesellschaft konzipiert. Niemand hat wie er den Eigenwert der Kindheit erschlossen und die Pädagogik in diesem Sinn grundlegend reformiert. Zugleich erfand er für die Selbstdarstellung eine Sprache, welche die Gottesorientierung des Augustinus durch innerweltliche Sensibilität ersetzt und zugleich die europäische Romantik vorbereitet. Keiner seiner Zeitgenossen hat sich vergleichbar mit so unterschiedlichen Gebieten beschäftigt wie er. Voltaire war Poet und philosophischer Schriftsteller und ist trotz seiner immensen Wirkung nicht mit dem vielseitigen, schöpferische Durchbrüche wagenden Rousseau vergleichbar. Dass Rousseau auch noch über Botanik und Chemie als Gebiete schrieb, in denen er sich auskannte, dass er einen erst im 20. Jahrhundert gewürdigten Essai sur l'origine des langues verfasste, sollte nicht unerwähnt bleiben.
Die Tatsache, dass Rousseau nie eine Schule besucht hat, sondern vollständig Autodidakt war, legt die Frage nahe, ob die immer noch geltende Dichotomie «entweder Schulbildung und Chancen auf Erfolg oder keine Schulbildung und Verlorensein» in der Weise zutrifft, wie stets suggeriert wird. Rousseau hätte sich der Schulzucht vermutlich nicht zu unterwerfen verstanden. Er bildet insofern eine eigene Gattung, als die Innovationen der anderen sich in der Regel auf Optimierungen des Bestehenden richteten, während Rousseau das Bestehende restlos in Frage stellte und Vorschläge lieferte, ihm ohne utopische Beliebigkeit zu entkommen.
Schuldenfrei gegenüber einem bestehenden System schulischer und universitärer Didaktik konnte Rousseau für sich beanspruchen, jenseits seines Jahrhunderts zu leben[2].
Rousseaus Weg verläuft, wie immer man ihn im Einzelnen einteilen mag, in drei großen, völlig unterschiedlichen Phasen. Er beginnt mit einer Zeit des Lebens und Erlebens voller Träume und Wachheit, dann folgt eine Zeit des leidenschaftlichen Verfassens kulturkritischer, musiktheoretischer, politischer sowie pädagogischer Texte und eines Romans, schließlich mündet er in eine Zeit der Neuerfindung seines erlebten Lebens in Gestalt autobiographischer Texte von damals nicht bekannter Dichte.
Was sagt er uns? Der amerikanische Aufklärungskenner Robert Darnton notierte: «Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Rousseau. Wir hatten den Rousseau der Anhänger Maximilien de Robespierres, den romantischen, den progressiven, den totalitären und den neurotischen Rousseau. Ich möchte den Anthropologen Rousseau ins Spiel bringen. Rousseau erfand die Anthropologie.»[3] Dies tat er sicherlich nicht (Michel de Montaigne und die französischen Moralisten hatten bereits vor Rousseau die größten anthropologischen Schätze zusammengetragen), er fügte aber der Anthropologie zweierlei hinzu: ein strukturelles Dissonanzwissen um die Glücksmöglichkeiten unserer Gattung und Versuche, umfassend auszuloten, wie diese Dissonanzen behoben oder abgemildert werden können. Von sich selbst bemerkt er einmal, das Pathos seiner Vollendung der Aufklärung zuspitzend: Ich ziehe es vor, ein Mensch der Paradoxe statt einer der Vorurteile zu sein.[4]
Alle Rousseau-Zitate in dieser Monographie wurden vom Verfasser nach den französischen Originalen übersetzt. Zitiert wird Rousseau, sofern nicht anders vermerkt, als «OC» mit Bandzahl und Seitenangabe. «OC» steht für Ouvres complètes, die 1959-1995 kommentiert als Pléiade-Ausgabe bei Gallimard erschienen. Neben den unschätzbar reichhaltigen Kommentaren dort erschienen unter anderem bei Gallimard und Flammarion ausführlich kommentierte Editionen von Einzelschriften, die die OC-Edition sinnvoll ergänzen und modernisieren. An dieser Stelle seien noch verschiedene Hilfsmittel genannt, auf die heute eine anspruchsvolle Lektüre und Deutung Rousseaus nicht verzichten kann. Es handelt sich um:
1. Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau. Publié sous la direction de Raymond Trousson et de Frédéric S. Eigeldinger. Paris 2001.
2. Jean-Jacques Rousseau. Mémoire de la critique. Textes réunis par Raymond Trousson. Paris 2000. Hier werden auf 630 Seiten all jene Texte von Zeitgenossen zu Rousseaus Schriften versammelt, die seine dramatische Wirkung auf seine Zeit dokumentieren und ohne deren Kenntnis nicht abschätzbar wäre, inwiefern Rousseau von Anfang an eine ungebrochene Aufmerksamkeit zuteilwurde.
3. Im Jahr 2003 erschien bei Talandier in Paris die 850 Seiten umfassende Biographie «Jean-Jacques Rousseau» von Raymond Trousson, die den derzeit verfügbaren Stand des biographischen Wissens über unseren Autor enthält.
4. Der Kenner wird auch noch auf eine 430 Seiten umfassende chronologische Zusammenstellung aller Lebensdaten Rousseaus zurückgreifen: Raymond Trousson, Frédéric S. Eigeldinger (Hg.): Jean-Jacques Rousseau au jour le jour....
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