Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am nächsten Tag standen sie zeitig auf, wenngleich der Zug, der Ginevra nach Frascati bringen sollte, erst um zehn Uhr fuhr.
Sie dachten, alles wäre fertig vorbereitet, tatsächlich aber hatten sie viele Dinge vergessen, Kleinigkeiten, die für einen Umzug jedoch unabdingbar sind. Sie liefen hin und her, ständig irgendetwas in der Hand, stellten es auf einem Stuhl ab, vergaßen, wo, und es kostete sie eine Viertelstunde, bis sie es wiedergefunden hatten.
Sie hatten vollkommen den Kopf verloren; außerdem fehlte nur noch wenig Zeit bis zur Abfahrt, und Ginevra war noch immer nicht angekleidet.
Der Abschied am Bahnhof war kurz, hastig und dem Anschein nach kühl. Alle wollten die Sache nun hinter sich bringen, egal wie, einem Verurteilten gleich, der möglichst schnell hingerichtet werden möchte, um das Leiden vor dem Tod nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Als sich der Zug schwerfällig unter dem Bahnsteigdach in Bewegung setzte, schnaubend und zischend, glaubte Carlo zu sterben, und die arme Maddalena verspürte einen so schmerzhaften Stich im Herzen, dass sie ins Wanken geriet, während Giuseppe brummte: «Das haben wir jetzt davon, dass sie Lehrerin geworden ist.»
Maddalena beschleunigte ihren Schritt, den Kopf gesenkt, und lief nach Hause, gefolgt von Carlo, der nicht die Kraft hatte, zur Arbeit zu gehen, und deswegen den ganzen Tag auf Ginevras ungemachtem Bett saß, in diesem kalten, leeren Zimmer, das nach dem Auszug der Cousine das seine geworden war.
Zur gleichen Zeit empfand Ginevra - fortgetragen vom Dampf der Lokomotive, den Kopf an die Wand des Abteils gelehnt, in dem sie ganz allein saß - eine Art Wohlgefühl, und am liebsten wäre ihr gewesen, dass die Reise nie geendet hätte, dass der Rauch sie in weitentfernte Länder getragen hätte, unbekannt und fremdartig.
Die Sonne, die zum Fenster hereinschien und ihre Füße und Knie wärmte, sah sie als gutes Vorzeichen, und mit einem Mal überkam sie das große Bedürfnis, sich ihren Phantasien hinzugeben, wie damals, als sie fünfzehn und im ersten Ausbildungsjahr war und bisweilen die Pause allein im Klassenzimmer verbrachte, den Kopf gegen das Glas des großen Fensters gelehnt, und sich mit ihrem verrückten Köpfchen so viele leuchtende Schlösser erträumte, lauter schöne Dinge, heiter und strahlend wie Feenmärchen.
Ihre Zuversicht kehrte zurück, und die erträumten Wunschbilder rückten für kurze Zeit näher an die Realität heran. Vergessen waren erlittene Demütigungen und Enttäuschungen. Sie stellte sich vor, wie sie von ihren kleinen Schülern geliebt, von ihren Vorgesetzten geschätzt würde, schon bald würde man sie mit Lob und ermutigenden Worten überschütten, feierlich würde man sie in ihrer Heimat empfangen, zum Ausgleich für die strenge, abweisende Behandlung, die sie erfahren hatte; sie stellte sich vor, dass man sie nach einer kurzen Lehrzeit nach Rom versetzen würde, sie könnte zurück zu ihrer Familie, die Erwartungen der Mutter erfüllen und sie die letzten Jahre ihres beschwerlichen Daseins in ruhigem Wohlstand leben lassen.
Doch ihre Träumereien gingen noch weiter, denn in der Ferne, beinah am Ende eines klaren, durchsichtigen Horizonts, sah sie goldene Wolken und leuchtende Figuren aufflackern und blitzschnell wieder verschwinden.
Sie wusste selbst nicht, was an jenem mysteriösen Ort war oder was sie sich dort erhoffte, doch sie war sich sicher, dort lag das Glück, und endlich würde auch sie es erreichen.
Eine raue Stimme, die abgehackt die Ankunft in Frascati ankündigte, beförderte sie zurück in die Realität.
Ginevra nahm unter Mühen den schweren Koffer mit einer Hand, stieg aus dem Waggon, ging in Richtung Bahnhofsausgang und erkundigte sich bei einem Schaffner nach der Kutsche, die sie in das ihr zugeteilte Dörfchen bringen sollte.
Während sie wartete, bis das schlichte Fuhrwerk abfahrbereit war, ging sie in der Sonne spazieren, aß einige von den Plätzchen, die ihr der Cousin vor der Abreise noch gekauft hatte, und begann von neuem, Luftschlösser zu bauen, denn jener milde Herbsttag und die balsamische Luft, die sie atmete, hoben ihre Stimmung. Als sie dann aber in der unbequemen Kutsche saß, zusammen mit zwei Bauern, die Pfeife rauchten und über Geschäfte sprachen - wobei immer wieder derbe Ausdrücke und hässliche Flüche fielen -, als sie durch das Rütteln der Kutsche ihre Knochen schmerzhaft zu spüren bekam und die polternden Räder sie ganz benommen machten, als nach Sonnenuntergang die Luft kalt wurde, vergrub sich Ginevra tiefer in der grauen Stola, die sie um die Schultern geschlungen hatte, und sah, wie sich all die heiteren Trugbilder, die ihr zuvor die Reise so vergnüglich gemacht und den Schmerz der Trennung gelindert hatten, eins nach dem anderen auflösten.
Der Qualm drohte sie zu ersticken.
Sie öffnete das Fenster der Kutsche, musste es aber sofort wieder schließen, denn die Luft war eisig geworden, außerdem brummten ihre Reisegefährten mürrisch vor sich hin.
Schüchtern erkundigte sie sich, ob es noch weit bis zum Dorf sei, und als einer der Bauern dies verneinte, tat sie einen Seufzer der Erleichterung. In der Tat erreichten sie eine gute halbe Stunde später - die Ginevra unendlich lang, so lang wie ein ganzer Tag vorkam - den Zielort, den sie allerdings nicht als solchen wahrnahm, denn nie hätte sie gedacht, dass diese klägliche Häuseransammlung die Bezeichnung Dorf verdiente.
Die Kutsche hielt vor einem Laden, in dem alles verkauft wurde, von Tabak bis Brot, von Anislikör bis zu Nahtbändern, von Pfeffer bis Schreibpapier, von Schreibfedern bis Salz, von Zucker bis Bonbons.
Die Ladenbesitzerin, die damit beschäftigt war, verschiedenste Waren, die ihr der Kutscher aus Frascati mitgebracht hatte, entgegenzunehmen, schenkte Ginevra keinerlei Beachtung; um zu erfahren, wo die Schule war, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Geschäft zu betreten und nach hinten durchzugehen, wo ein paar Tische standen, an denen der Arzt, der Apotheker, der Gemeindesekretär und noch zwei, drei Persönlichkeiten aus dem Dorf saßen, die einen guten Teil ihrer Abende damit zu verbringen pflegten, eine Runde Karten zu spielen oder mit immer denselben Leuten über immer dieselben Dinge zu tratschen.
Das Eintreten der Lehrerin sorgte für ein gewisses Aufsehen, und einen Moment lang saßen die Spieler mit den Karten in der Hand wie erstarrt da, um den Neuankömmling mit neugierigen Blicken zu mustern, die so erniedrigend wie kränkend waren.
Der Arzt war nicht ganz so ungehobelt wie die anderen und gab Ginevra, die fünfmal nach dem Weg zur Schule gefragt hatte, schließlich eine Antwort und bot ihr an, sie zu begleiten. Doch seine Mitspieler protestierten im Chor und meinten, der Laufbursche könne sie genauso gut dorthin bringen.
Die Schule lag am äußersten Ortsrand, im Haus einer alten Frau, die sich bereits schlafen gelegt hatte und eine gute Viertelstunde brauchte, bis sie sich endlich zum Öffnen bequemte.
Das gesamte untere Stockwerk bestand aus einem ziemlich großen Raum, der als Klassenzimmer diente, und einer kleinen Kammer für die Lehrerin.
Ginevra entließ den Jungen, der sie begleitet hatte, während die Alte vor Kälte erstarrt dastand und sie in einem fort ermahnte, nachts ja die Tür gut verschlossen zu halten und nie die Fenster zu öffnen, aus Angst vor bösen Überraschungen. Sie brachte ihr ein paar Laken, wartete, bis der neue Gast eine Kerze aus seinem Koffer geholt und angezündet hatte, dann wollte sie sich wieder hinlegen und sagte noch im Gehen, am nächsten Tag würden sie gemeinsam überprüfen, ob sie noch etwas bräuchte.
In dem Klassenzimmer standen vier Reihen Schulbänke, ein altes, verstaubtes Pult, außerdem gab es eine Landkarte und eine Tafel. An der großen Wand hingen ein rußgeschwärztes Kruzifix und ein Porträt des Königs.
Ginevra stellte die Kerze auf das Pult, setzte sich auf eine der Bänke und aß die wenigen Kekse auf, die noch übrig waren und ihren Hunger natürlich keineswegs stillen konnten, aber angesichts der späten Stunde und der kleinen Ortschaft musste sie sich damit begnügen.
«Hoffentlich kann ich wenigstens schlafen!», sagte sie laut zu sich selbst und betrat die Kammer, die von nun an ihr Zuhause sein sollte.
So sehr die Arme auch an die Dürftigkeit ihres Heims gewohnt war, so war sie doch schmerzlich überrascht, als sie das für sie bestimmte, klägliche Kämmerchen sah.
Die Ausstattung beschränkte sich auf ein Bett, das genug Platz für zwei geboten hätte, einen lackierten Tisch mit einem alten Gegenstand darauf, der vorgab, ein Spiegel zu sein, außerdem gab es zwei strohbespannte Stühle, und in die Wand waren drei oder vier Nägel geschlagen, die als Kleiderhaken dienen mussten.
Ginevra legte den Koffer auf einen Stuhl, überzog das Bett und entkleidete sich hastig, teils aus Müdigkeit, teils, um die Kerze auszublasen und nicht mehr die gelben, nackten Wände sehen zu müssen, die das Zimmer wie eine Gefängniszelle erscheinen ließen. Als sie sich hinlegen wollte, fielen ihr die Anweisungen der Alten wieder ein, und so ging sie noch einmal nachsehen, ob Tür und Fenster auch gut geschlossen waren, barfuß, zitternd und plötzlich von einer dummen, kindischen Angst erfüllt.
Sie blies die Kerze aus und vergrub den Kopf unter der Decke, aber sie konnte keinen Schlaf finden. Ihr war kalt, doch sie ängstigte sich zu sehr, um aus dem Bett zu steigen und sich etwas überzuwerfen. So zog sie ihre Beine an, sagte sich, wie töricht sie doch sei, versuchte sich ihre erste Unterrichtsstunde am nächsten Morgen vorzustellen, doch all das waren sinnlose...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.