»Dies ist die Mailbox von Mark Wahlmann. Ich bin leider nicht zu sprechen, aber Sie können mir gern eine Nachricht hinterlassen - ich melde mich später.«
Ich atme tief durch und warte auf den Signalton. »Janine hier. Sag mal, wo steckst du denn? Hast du mich etwa vergessen?« Mit einem Lachen, das mir ein wenig schwerfällt, drücke ich die rote Taste und lege das Handy zur Seite. Zum wiederholten Male an diesem Abend blicke ich auf meine Armbanduhr. Es ist gleich halb neun, dabei waren wir um acht Uhr verabredet, um mit einem romantischen Abend ins Wochenende zu starten.
Enttäuscht über die Abwesenheit meines Freundes wandere ich lustlos durch meine Wohnung. Obwohl wir schon seit acht Jahren ein Paar sind, haben wir nie ernsthaft darüber nachgedacht zusammenzuziehen. Besonders Mark hat immer Wert darauf gelegt, für alle Fälle eine Rückzugsmöglichkeit zu haben. Im Grunde genommen ist mir das egal, denn wir verbringen sowieso die meiste Zeit in meiner Wohnung. Sie liegt in einem Sechs-Parteien-Mietshaus am Stadtrand und ist ein wenig größer als Marks Junggesellenbude mitten in der City.
Im Schlafzimmer bleibe ich vor dem Schrank mit dem großen Spiegel stehen und betrachte mich kritisch. Für den Abend habe ich mich extra in Schale geworfen. Die schulterlangen, dunkelblonden Haare habe ich zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, mein Make-up ist dezent, aber etwas kräftiger als im Alltag. Dazu habe ich einen Hauch Coco Mademoiselle von Chanel aufgelegt - einen Duft, den Mark sehr an mir mag. Ich trage das kleine schwarze Minikleid, das Mark mir vor einiger Zeit von einer Geschäftsreise aus Paris mitgebracht hat. Es ist tief ausgeschnitten und zeigt den Ansatz meiner Brüste. An der Taille ist es eng gearbeitet und mündet in einen figurbetonten Rock, der etwa zwei Handbreit über dem Knie endet. Die neuen High Heels von Laura Biagiotti haben ein Heidengeld gekostet, doch das waren sie mir Wert -schließlich möchte ich meinem Freund gefallen. Unter dem hauchdünnen Kleid, das sich wie eine zweite Haut an meinen Körper schmiegt, trage ich halterlose Nylons und Spitzenwäsche - man weiß ja nie, wie ein romantischer Abend mit dem eigenen Traummann endet. Bei dem Gedanken an die bevorstehende heiße Nacht spüre ich ein leichtes, angenehmes Ziehen in meinen Brüsten, das sich in einer heißen Spur bis in den Schoß ausbreitet.
Mit einem wehmütigen Seufzen wird mir bewusst, dass wir in letzter Zeit viel zu selten miteinander geschlafen haben. Sex ist zu einer Nebensache geworden, die keine große Beachtung mehr findet.
Ich betrachte unser eingeschlafenes Liebesleben als den Preis für einen Alltag, der uns - so wie viele andere Paare auch - irgendwann eingeholt und überrollt hat. Ich arbeite als Altenpflegerin in Wechselschicht im Haus Sonnenblick, einem kleinen, privat geführten Heim, während Mark in der Verwaltung eines mittelständischen Unternehmens tätig ist, das augenblicklich kräftig expandiert und ihm eine Menge abverlangt.
Die wenigen gemeinsamen Stunden am Abend verbringen wir damit, uns auszuruhen. Lange Gespräche, wie wir sie früher geführt haben, gibt es so gut wie nie, und gemeinsam gelacht haben wir auch schon ewig nicht mehr. Ein wenig fühle ich mich, als wären wir ein altes, eingestaubtes Ehepaar, das nur noch nebeneinanderher lebt. Der leidenschaftliche Sex, den wir in unserer Anfangszeit hatten, fehlt mir offen gestanden sehr. Die innige Nähe und Geborgenheit, aber auch das Gefühl, mich in Marks Armen völlig fallen lassen zu können, vermisse ich schon seit geraumer Zeit. Wenn wir Sex haben, dann eine schnelle Nummer in der Missionarsstellung kurz vor dem Einschlafen - meist sogar ohne den ersehnten Höhepunkt für mich, denn in letzter Zeit ist Mark ziemlich egoistisch im Bett geworden. Nachdem er sein Verlangen befriedigt hat, neigt er dazu, sich wie ein Baby einzurollen und kurz darauf einzuschlafen. Ich will gar nicht drum herumreden: Schon mehrmals habe ich mich danach neben meinem schlafenden Freund selbst befriedigt, um mir die Erlösung zu verschaffen, die Mark mir verwehrt.
Vielleicht, so habe ich gehofft, wäre das an diesem Abend anders. Ich hatte mir fest vorgenommen, Mark heute Nacht zu verführen. Doch er glänzt durch Abwesenheit, was sonst gar nicht seine Art ist. Die anfängliche Enttäuschung über sein Verhalten schlägt langsam, aber sicher in Wut um. Vermutlich hat sein Chef ihn wieder einmal zu Überstunden verdammt. Doch das alles rechtfertigt nicht, dass er sich nicht kurz meldet und mich darüber informiert.
Ich löse mich von meinem Spiegelbild und greife zum Handy. Die Nummer von Marks Büro habe ich abgespeichert. Ich klicke mich durch das Menü, dann drücke ich die grüne Taste. Nach dem fünften Klingeln geht mir das Tuten auf die Nerven, nach dem achten Freizeichen schaltet sich der Anrufbeantworter der Firmenzentrale ein. Eine freundliche Frauenstimme lässt mich wissen, dass ich außerhalb der Bürozeiten anrufe, und gibt mir dann die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.
Frustriert drücke ich den roten Knopf. Es ist Freitagabend, und ich muss damit rechnen, dass meine Nachricht erst am Montagmorgen abgehört wird. So lange will ich allerdings nicht warten. Ich wähle die Nummer seines Festnetzanschlusses, den Mark kaum nutzt. Ich lasse es lange klingeln, doch auch hier vergeblich.
Hat Mark mich etwa wirklich vergessen?
Kann es sein, dass ihm unser gemeinsamer Abend nicht halb so wichtig ist wie mir?
Wenn er nirgendwo zu erreichen ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass er Freunde getroffen hat, um mit ihnen durch die Bars zu ziehen.
Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt und sich mein Frust zu blinder Wut wird.
Mein Blick fällt auf das Bild an der Wand über der Kommode im Flur. Es zeigt uns vor zwei Jahren im Urlaub an der Costa Brava. Obwohl Mark es mit Spanien gar nicht so hat, musste ich ihn nicht lange überreden, mich in den Club zu begleiten. Das gerahmte Foto zeigt uns an einer Beach-Bar unter Palmen. Wir halten gut gelaunt Gläser mit bunten Cocktails in der Hand; im Hintergrund versinkt die Sonne im Meer. Ich im luftigen Kleid mit Blumenmuster, Mark neben mir im T-Shirt, braungebrannt und mit Dreitagebart. Er grinst in die Kamera.
»Blöder Mistkerl«, zische ich wütend. »Wo steckst du nur?«
Ich spiele mit dem Smartphone in meiner Hand, bin versucht, alle Nummern noch einmal abzutelefonieren, um endlich ein Lebenszeichen von meinem Freund zu bekommen. Mein Stolz verbietet es mir schließlich, und so wandere ich rastlos wie ein Tiger im Käfig durch die Wohnung. Die Zeiger der Küchenuhr stehen auf neun Uhr, als ich der Versuchung erliege und ihn noch einmal anrufe. Jedenfalls versuche ich es. Der muntere, smarte Klang seiner Stimme auf der Mailbox macht mich nur noch wütender. Auch bei diesem Versuch spreche ich ihm nicht auf das Band. Um Viertel nach neun trotte ich zornig in die Küche und öffne mir eine Flasche Rotwein.
Spätburgunder, meine Lieblingssorte. Das fruchtig-samtene Aroma erinnert mich an Mandeln. Doch so sehr ich diesen Wein liebe, kann ich mich heute nicht an ihm erfreuen. Als ich das Glas an die Lippen führe, zittert meine Hand.
Als ich an mir herabschaue, bemerke ich die Laufmasche in meinem Strumpf. Wütend streife ich die High Heels ab und werfe sie in die Ecke neben dem Mülleimer. Dann leere ich das Weinglas in einem Zug und schenke mir nach.
Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?
Mark ist normalerweise zuverlässig, und die Vorstellung, dass er sich lieber mit Freunden trifft, statt mit mir auszugehen, passt nicht wirklich zu ihm. Mit dem dritten Glas Rotwein beginnt meine Wut in Sorge umzuschlagen.
Wieder schaue ich auf die Uhr. Kurz nach zehn. Wenn ihm etwas passiert ist, sollte ich vielleicht die Polizei anrufen. Doch für eine Vermisstenanzeige wird es zu früh sein. Was soll ich bloß tun?
Schließlich fällt mir Dirk ein, ein alter Freund aus Schulzeiten. Dirk arbeitet bei der Polizei und könnte mir vielleicht unbürokratisch helfen. Irgendwann habe ich Dirk beim Einkaufen wiedergetroffen. Dirk Reimer war schon zu Schulzeiten ein Hallodri und hatte eine Schwäche für fast alle Mädchen in der Klasse. Doch eines muss man ihm lassen: Er sieht auch heute, mit fast vierzig Jahren, noch verdammt gut aus.
Bei unserem zufälligen »Hey, bist du es wirklich?«-Treffen im Supermarkt ist mir nicht entgangen, wie er mich angeschaut hat. Lüstern, aber trotzdem so, dass ich ihm dafür nicht böse sein konnte. Seine unbeschwerte, jungenhafte Art von damals hat Dirk sich bis heute bewahrt. Ein Typ, dem man einfach nicht böse sein kann. Und genauso locker hat er mir gesteckt, dass er sich vor einem halben Jahr von seiner Frau getrennt hat und nun »wieder auf dem Markt« sei. Seit der Scheidung von seiner Jugendliebe Sandra lebt er als glücklicher Single. Will heißen: Er lässt nichts anbrennen. Und da ich bei ihm das Gefühl hatte, dass er mich ebenfalls als leichte Beute betrachtet, habe ich den Kontakt nicht wieder aufleben lassen. Nur anstandshalber habe ich bei unserem Treffen im Supermarkt seine Nummer in mein Handy gespeichert. Er hat ganz nebenbei erwähnt, dass er jetzt bei der Kripo arbeitet.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Dirk aus meiner Erinnerung zu streichen. Doch vielleicht kann er mir jetzt einen Gefallen tun.
Ich scrolle mich wieder durch das Menü meines Telefons und finde ihn schließlich unter dem Eintrag D. Bewusst habe ich mir nicht seinen ganzen Namen notiert, denn Mark ist krankhaft eifersüchtig, und ich wollte keine schlafenden Hunde wecken.
Ich zögere, dann drücke ich die grüne Taste. Dirk meldet sich schon nach dem zweiten Freizeichen.
»Schön, deine Stimme zu hören«, begrüßt er...