Schweitzer Fachinformationen
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Als Kind in Rottendorf bin ich überall hingegangen und habe mir alles angeschaut: Wie der Bauer einen Bolzen auf die Stirn des Schweins gesetzt und abgedrückt hat. Wie die Frauen ihre Tupperschüsseln mit Torten zum Heimspiel auf den Sportplatz getragen haben. Wie der Pfarrer in der Osternacht durch die stockfinstere Kirche geschritten ist. Ich habe alles gesehen und überall mitgemacht: Bei der Wallfahrt nach Dettelbach Lautsprecher getragen. Bei den alten Frauen Klingelmännchen gespielt. Bei der Inventur im Edeka in der Mittagspause mehr belegte Brötchen gegessen als jeder andere.
Als Kind in Rottendorf habe ich die Dinge so gemacht wie die Rottendorfer. Morgens am Bahnhof habe ich mich wie die Erwachsenen in die Reihe gestellt und schweigend ins Gleisbett geschaut. Vor dem Hochgebet am Sonntagmorgen in St. Vitus habe ich mich hingekniet und bin nach dem «Geheimnis des Glaubens» wieder aufgestanden. Wenn die Erwachsenen im Outlet zufällig einen Bekannten trafen, beendeten sie alle Gespräche nach spätestens einer Minute mit einem aufgesetzten Lacher und liefen weiter. Das habe ich mir auch angewöhnt.
Ich lernte, dass die Erwachsenen schon wussten, was richtig ist, und wir Kinder ihnen vertrauen konnten. Mein Vertrauen war so groß, dass ich in der Montagsrunde am ersten Schultag nach den Sommerferien meine Unterhose herunterzog und allen meine Narbe zeigte, weil ich in den Ferien wegen eines Wasserbruchs operiert worden war. Und weil wir uns doch immer in der Klassensitzung unsere Verbände und Gipse zeigten.
Ich vertraute darauf, dass es richtig war, nach diesem Ereignis nicht mit mir zu sprechen. Trotz der vielen ausgestreckten Finger auf dem Pausenhof. Es musste seinen Sinn haben, dass ich auf dem Zeltlager der Messdiener von den Großen mit Kleidern unter die Dusche gestellt wurde. Es war sicher das Beste für mich, dass die Lehrer mit dem Kopf schüttelten und weiter unterrichteten, wenn ich einen Wutanfall bekam. In mir fühlte es sich oft schlimm an, aber das konnte nicht an den Erwachsenen in Rottendorf liegen.
Wie viele Bekannte und Freunde bin ich zehn Jahre lang nur selten nach Hause gefahren. Es fühlte sich in Rottendorf schnell eng an. Schon, wenn ich am Ortsschild und links an den Hochhäusern vorbeigefahren bin, fühlte ich mich eingeengt. Nachdem ich von der Friedhofstraße in unsere Straße eingebogen bin, zog es sich in mir zusammen. Ich kam aus Pflichtgefühl und nicht, weil ich es wollte.
Dann bekam ich die Gelegenheit, zwei Projekte zu leiten, die mich zurück aufs Land brachten. In vierzehn meist kleinen Orten in ganz Deutschland habe ich zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über die Zeit des Nationalsozialismus in ihrem Heimatort gesprochen. Wir haben Ausstellungen aufgebaut und Dokumentarfilme gedreht, Diskussionsrunden organisiert und Podcasts aufgenommen.
In den Dörfern und Kleinstädten sind mir viele Figuren wiederbegegnet, die ich aus Rottendorf kannte. Nach mehr als 30 Jahren habe ich wieder mit einem Feuerwehrmann und einem Fußballtrainer, mit einer Friseurmeisterin und einer kaufmännischen Angestellten zusammengearbeitet - und mit einem pensionierten Lehrer, der sich für mehr Umweltschutz vor Ort einsetzt. Ich habe erfahren, dass es solche Menschen auch im Osten gibt. Ich wusste es zwar, aber ich kannte sie nicht.
Vier Jahre lang wurde ich von Menschen in ganz Deutschland willkommen geheißen: im Schwarzwald und im Kraichgau, in Ostwestfalen und Ostsachsen oder auch in Egling an der Paar im Kreis Landsberg am Lech, das man nicht mit Egling im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen verwechseln sollte. Ebenfalls vor vier Jahren bin ich selbst zurück aufs Land gezogen. Wir wohnen inzwischen in Luckenwalde in Brandenburg. Meine Bekannten und Freunde kennen den Namen Luckenwalde wegen der Bauhausarchitektur, die Menschen hier in der Region wegen des Turmfests im Sommer.
Ich fühle mich nach meiner langen Reise durch die Dörfer und Kleinstädte, als würde ich in zwei verschiedenen Welten leben. Eine der Welten betrete ich, sobald ich morgens im Zug einen Platz gefunden habe, mein Handy einschalte und mir Kurzvideos aus Talkshows oder Bundestagsdebatten ansehe. Wenn ich Überschriften von Zeitungsbeiträgen über Antisemitismus auf der Documenta oder im Hörsaal lese und manchmal sogar die Artikel dazu. Wenn ich vor einer Bühne stehe und den Reden der Bürgermeisterin und des Landtagsabgeordneten zuhöre. Wenn ich auf Facebook sehe, wie ein Bekannter, der nicht mal seine Geburtstagsglückwünsche auf der Plattform beantwortet, die Petition zu einem AfD-Verbot weiterleitet. Wenn in der Eltern-WhatsApp-Gruppe eine Mutter schreibt: «Ich weiß, es gehört wahrscheinlich nicht hierher. Aber das hier ist echt wichtig!!!», und dann einen Aufruf zu einer Demonstration für Klimaschutz teilt.
Manchmal wird unsere Terrasse Teil dieser Welt. Wenn uns Freund*innen und Bekannte aus der Stadt in unserem neuen Zuhause in Brandenburg besuchen. Dann sitzen wir zusammen und sehen der Sonne dabei zu, wie sie hinter dem Haus von Raik verschwindet, der uns im Frühjahr immer Tomatensetzlinge schenkt. Wenn es am Himmel und in den Häusern dunkel geworden ist, wir zu viel geraucht und getrunken haben und jemand dann mit leiser Stimme fragt, ob in unserer Nachbarschaft eigentlich auch Rechte leben würden.
Die andere Welt ist belebt von Menschen, die sich in irgendeiner Art und Weise in ihrem Viertel oder Dorf engagieren. Ich bin in diese Erfahrungswelt eingetaucht, wenn ich aufs Land gefahren bin. Aber es gibt sie auch in den Städten. Ich denke an den linken Projektleiter, der ausnahmslos alle Alten in seiner Kleinstadt befragt, wenn sie als Zeitzeugen dienen können. An den von der AfD mitgewählten Bürgermeister, der nach einer Veranstaltung die Tafel anruft, damit sie das übriggebliebene Essen vom Buffet abholen. An den Mann mit den kritischen Ansichten zu Flüchtlingen, mit dem ich zusammen Ausstellungstafeln anbringe.
Die erste Welt kann ich so schnell verlassen, wie ich sie betreten habe. Ich muss nur das Telefon weglegen, den Rechner zuklappen oder mich verabschieden und ins Bett gehen. Die zweite Welt betrete ich, indem ich in Orte fahre und mit Menschen zusammentreffe. Dann sitzen wir um einen Tisch, stehen in einer Tischlerei, laufen im Getränkemarkt mit schweren Kisten zur Kasse und erinnern uns im Auto noch einmal daran, dass wir die Rechnung aufbewahren müssen. Wir wollen ja das Geld zurückbekommen. In der zweiten Welt kann ich erst gehen, wenn die Arbeit getan ist.
Einige Bekannte und Freunde von mir leben mal in der einen, mal in der anderen Welt. Sie debattieren gerne, und sie setzen sich für irgendeine Sache ein. Aber die meisten Menschen, die ich kenne, halten sich meistens in der einen und nur selten in der anderen Welt auf. Das muss schon aus zeitlichen Gründen so sein. Der Journalist, den ich aus Würzburg kenne und der 40 Stunden lang pro Woche Texte über Klimapolitik recherchiert und schreibt, kann nicht auch noch mit Kindern Bäume pflanzen und Waldwanderwege einrichten wie mein Bruder, der Förster ist und für einen Naturschutzbund arbeitet. Die Politikerin von den Linken, die sich von morgens bis abends im Landtag für eine bessere Migrationspolitik einsetzt, kann nicht auch noch als Lehrerin mit Schülerinnen und Schülern Flüchtlingsunterkünfte besuchen. Die meisten leben in der einen Welt und besuchen die andere Welt in ihrer Freizeit.
Als Junge in Rottendorf habe ich in einer ganz bestimmten Situation den Übergang von der einen in die andere Welt deutlich gespürt. Es geschah an einem Sonntagmorgen. Am Ende jeder Messe sprach der Priester den Segensgruß. Danach setzte die Orgel ein, und wir Messdiener liefen von unseren Hockern zum Altar. Wenn wir uns aufgereiht hatten, trat der Pfarrer in unsere Mitte. Auf sein Zeichen hin machten wir die Kniebeuge und liefen in Zweierreihen in die Sakristei zurück. Der Priester verließ die Kirche als letzter. Obwohl wir eine ganze Stunde lang nicht gesprochen hatten, schwiegen wir beim Umziehen. Es dauerte ein paar Minuten, bis wieder jemand anfing zu sprechen. Ich selbst hatte immer eine Meinung zu allem und jedem, aber ich war nach der Messe noch ganz beherrscht vom Schweigen. Meistens redeten wir erst wieder wie immer, wenn wir vor der Sakristei standen. An diesen Moment erinnere ich mich noch genau. Ich war wieder draußen in meiner Welt. Ich konnte wieder laut sein, alte Leute...
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