Schweitzer Fachinformationen
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In New York, in Chinatown, erinnert sich ein Mann namens Old Second. Er hat Sommersprossen im ganzen Gesicht. Brandnarben und Mitesser, wie Seepocken an einem Wal. Zitternde Hände an langen haarlosen Armen zünden eine Zigarette an. Ein Deckenventilator kreist, durch das offene Fenster sieht man Menschen marschieren. Er beobachtet sie. Die meiste Zeit sind sie still, nur manchmal skandieren sie Worte, die er nicht versteht, halten Schilder hoch, die er nicht lesen kann. Er weiß trotzdem, worum es geht. Sie waren auch schon bei ihm, mit Kameras und Laptops.
Hallo, mein Name ist . Wir wollten Sie um Ihre Unterschrift bitten . Würden Sie .
Und so weiter, bis Old Second in gebrochenem Mandarin sagt:
»Sicher.«
Old Second wuchs in den Bergen auf und ging insgesamt nur ein Jahr zur Schule. Bei seinen Geschwistern war es dasselbe. Die Mädchen gingen länger, die Jungen mussten direkt aufs Feld. Und das fanden sie auch gut so - angeblich hatten sie dadurch mehr Freiheit. Besonders im Sommer, wenn es heiß und schwül war. Statt Mandarin lernten sie fischen. Wie man aus alten Hemden und Wasserflaschen Reusen bastelt. Sie standen mit ihren Eimern im Fluss und warteten, regungslos, mit leuchtenden Augen. Dann, plötzlich, ein Schrei. Da! Da ist einer! Old Second erinnert sich, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Goldene, sehnige Haut, die Muskeln straff und hart wie Stahl. Er erinnert sich auch, wie seine Brüder sich an ihn lehnten, ihn nicht richtig umarmten, aber fast.
Jetzt, Jahrzehnte später, beobachtet er eine ähnliche Liebe draußen vor dem Fenster.
Er versteht die Worte und die Schilder vielleicht nicht, aber er weiß, worum es geht. Ein Mietstreik. Die Demonstranten wollen Chinatown retten. Die Mall am East Broadway mit den kleinen fuzhounischen Läden und die jahrzehntealten Restaurants in der Eldridge Street. Der Marsch begann vor drei Stunden - da waren es gerade mal ein paar chinesische Demonstranten, die durch die Straße liefen, als wollten sie einkaufen. Dann kamen eine Frau mit einem Lautsprecher und mehrere junge Leute in Löwentanz-Kostümen dazu. Passanten schlossen sich an, und schon bald darauf hatte sich eine Menschenmenge gebildet.
Von oben sieht es aus, als würden die Menschen sich umarmen. Old Second ist gerührt, er muss an früher denken. Nicht nur an seine Kindheit und die Geschwister, auch wie er mit siebenunddreißig anderen Männern vor dem Arbeiterkino in Mawei stand.
Das ist lange her.
Im August sind es fünfunddreißig Jahre.
*
Aber gehen wir noch etwas weiter zurück. Nicht fünfunddreißig Jahre, sondern vierzig. Hier beginnt die Geschichte, in der ein Junge aus den Bergen lernt, dass das falsche Lachen tödlich sein kann. Old Second haben wir schon kennengelernt, aber es gibt noch ein paar andere Personen. Familie und Nachbarn, die im Hintergrund bleiben wie ein Pappwald in einem Theaterstück. Mutter und Vater. Große Schwester, Kleine Schwester, Old Third. Der Bruder namens Ältester spielt eine größere Rolle, aber auch nur ein bisschen. Er ist der älteste Sohn und arbeitet in einer Schweißerei in Fuzhou. Außerdem ist er der Liebling der Familie, und das Schicksal will es, dass er 1980 bei einem Fabrikunfall ums Leben kommt. Andere wichtige Personen sind Old Seconds jüngster Bruder, Spring Chicken, und ein sechzehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, der auf den Namen Ein-Meter-Fünfundsechzig hört.
Keiner der Jungen wird seinem Namen gerecht. Spring Chicken hat Arme wie Streichhölzer und hellrosa Wangen. Statt braun zu werden, verbrutzelt er direkt in der Sonne. Erst wird er rosa, dann rot, und mit den Furunkeln, die sich dann bilden, sieht er aus wie eine gerupfte Gans. Er ist hässlich, deswegen lieben ihn die Leute. Dann ist da Ein-Meter-Fünfundsechzig, den lieben sie, weil er das Gegenteil ist. Den Spitznamen hat er seit seiner Kindheit. So groß sind alle Männer in der Familie außer ihm. Ein Riese mit einer Stimme so sanft wie ein Streicheln. Sie schleicht sich ins Ohr wie eine neugierige Katze und tobt sich aus, bis ihr langweilig wird und sie dir ein Stück von deinem Herzen stiehlt.
So wie bei Old Second.
Sommer 1980. Ein Dorf ohne Strom und Gas, dessen Name wörtlich übersetzt Hoher Berg bedeutet. Eines Morgens wird Ältester zu seiner Arbeit in Fuzhou aufbrechen und nicht mehr zurückkehren. Von Hoher Berg führt keine Straße nach Fuzhou, die Reise dauert einen Nachmittag und einen Abend. Spring Chicken sieht Ältesten aufbrechen. Mit seinen dunklen, runden, neugierigen Augen blickt er seinem Bruder hinterher, bis er außer Sichtweite ist. Hier oben sind so viele Bäume, so viele Orte, an denen man sich verstecken kann. Es hat seinen Grund, warum die Kinder in Hoher Berg nicht Verstecken spielen, und es hat nichts mit mangelnder Fantasie zu tun. Es ist einfach zu leicht. Zu leicht, auf einen Baum zu klettern und das Leben zu vergessen.
Heute ist Old Second mit Feuerholz Sammeln dran. Er hat schon ein Bündel Reisig geschnürt und in seinen Korb gepackt. Das reicht noch nicht, aber jetzt ruht er sich erst mal am Bach aus, den seine Brüder Fluss nennen. In zwei Stunden ist der Morgen vorbei, dann hat die Sonne ihren höchsten Stand erreicht. Das Wasser spült den Schweiß unter den Armen und zwischen den Beinen weg. Ganz in der Nähe hat Ältester eine Reuse ausgelegt. Um ihn herum ist es still bis auf die Wassergeräusche und das Rascheln der Blätter. Old Second nimmt an, es sei ein Tier, bis Ein-Meter-Fünfundsechzig neben ihm auf den Waldboden kracht.
»Mann«, sagt er. »Hast du mich erschreckt.«
»Ich hab dich erschreckt?«
»Das ganze Geraschel. Ich dachte schon, du wärst ein Bär.«
»Ein Bär, hier in der Gegend?«
»Ich hab schon mal welche gesehen. Die sahen genauso aus wie du.«
»Wo hast du einen Bären gesehen?«
»Genau hier. Er redet gerade mit mir.«
»Sehr witzig. Pass bloß auf, sonst komme ich vorbei. Ich weiß, wo du wohnst.«
Das Verspielte in seiner Stimme geht Old Second unter die Haut. Es ist nicht nur seine freche Art, die Sticheleien, er hat auch so einen Blick. Er kräuselt die Lippen, dass Old Second vor Wut die Wangen glühen. Sie betrachten sich als Freunde, auch wenn sie sonst nicht viel miteinander zu tun haben. Meistens nicken sie sich nur kurz aus der Ferne zu, tauschen einen Blick, aber ohne zu lächeln. Und jetzt sitzen sie hier, machen Witze, grinsen, und Old Second wird ganz warm im Bauch. Er ist fünfzehn und empfindet praktisch jede Emotion als Wut. So auch jetzt, wobei er diesmal nicht den Drang hat zuzuschlagen. Er hört zu, betrachtet die Muskelstränge, die wie Baumwurzeln an Ein-Meter-Fünfundsechzigs Beinen entlanglaufen. Seinen geraden nackten Oberkörper unter dem hochgezogenen Hemd. Am schlimmsten: sein Lachen, mit dem er ihn immer wieder kriegt.
»Kommst du oft her an diesen Bach, Bär?«
»Warum? Gehört er dir?«
»Sicher. Aber du bist jederzeit willkommen. Kostet auch nichts.«
Von dem Tag an hingen die beiden aneinander. Der eine, weil sein ältester Bruder und bester Freund Hoher Berg verlassen hatte, der andere, weil er sich langweilte. Und weil er neugierig war. Wenn ich ihn frage, kommt er dann? Tagsüber schon, aber auch nachts? (Er kam.) Sie sehen sich im Dunkeln an, betrachten Teile ihres Gesichts im Mondlicht. Ein Blick hier, ein Lächeln dort. Kein Wort, weil sie nicht wollen, dass man sie hört. Keiner von beiden spricht es aus, aber sie wissen, dass ihre Freundschaft nicht normal ist. Würde man sie erwischen, gäbe es Gerüchte. Obwohl sie sich nur still umarmen. Das erzählt Old Second jedenfalls seiner Mutter, als sie davon erfährt. Dass sie sich manchmal um zwei, drei Uhr morgens von zu Hause wegschleichen, lässt er aus. Auch das Warten, die Wut und die Ungeduld, weil er immer als Erster da ist. Genauso wenig erwähnt er, dass er an den Tagen davor die doppelte Menge an Arbeit erledigt. Solange er genügend Feuerholz sammelt und Süßkartoffeln ausgräbt, wird ihn auch niemand vermissen.
Außer Spring Chicken, der sich wundert, warum Old Second so viel arbeitet.
Mit seinen neun Jahren ist er neugierig und schnüffelt herum wie ein Hund. Er ist zu jung und zu schwach zum Arbeiten. Tag und Nacht sieht er seine Geschwister ihr Leben leben. Sobald ihm etwas verdächtig vorkommt, folgt er ihnen: durchs Gestrüpp, unter Bäume, über den Bach, den sie Fluss nennen. Und in letzter Zeit gab es da ein seltsames Verhalten. Erstens Old Seconds plötzliche Produktivität. Ein Bruder, der einfach so zusätzliche Arbeit leistet? Nicht in Spring Chickens Welt! Zweitens die häufigen Ausflüge zum Fluss, ohne dass er je einen einzigen Fisch mitbringt. Nicht mal einen Umber, seinen Lieblingsfisch. Wenn Spring Chicken nachfragt, antwortet Old Second nicht. Stattdessen schweift sein Blick ab. Aber wohin? Hier ist ja nichts - in dem Zimmer, das sie sich teilen, sind nur Matten und Decken.
Vielleicht ist er erschöpft. In letzter Zeit gähnt er oft, manchmal schon, bevor die Sonne untergegangen ist. Auch am Abendbrottisch oder wenn er sich wäscht. Erst gähnt er, dann schmatzt er, und manchmal rülpst er seinen Schwestern direkt ins Gesicht. Abends schläft er als Erster ein und vergisst dabei, die Mückenvorhänge runterzulassen. Dann muss Spring Chicken es machen. Er weiß nicht, dass Old Second sich aus dem Haus schleichen will. Deshalb schläft er in seinen Sachen und lässt nach dem Essen die Küchentür auf.
Aber all seine Bemühungen sind vergeblich, denn eines Nachts wacht Spring Chicken auf. Nicht wegen irgendwelcher Geräusche - er muss einfach pinkeln. Und auf dem Weg zur Latrine sieht er Old Second heimlich...
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