Schweitzer Fachinformationen
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Kriminalinspektor Oskar Rheinhardt folgte einem ansteigenden Pfad durch eine bewaldete Parklandschaft. Er warf einen Blick über seine linke Schulter. Teile von Schönbrunn funkelten durch die Bäume. Es war ein strahlender, kalter Morgen, und das Laub war von Raureif überzogen. Es knirschte angenehm unter den Schuhsohlen.
Rheinhardt war seit Jahren nicht mehr im Zoo gewesen. Er fühlte sich an die Zeit erinnert, als seine Töchter noch sehr klein gewesen waren - damals war er häufig hierhergekommen. Er erinnerte sich noch, wie Mitzi beim Herannahen eines Löwen die Augen aufgerissen und Theresa über die plappernden Affen gelacht hatte. Seine Erinnerungen kehrten zurück, glückliche Erinnerungen, leuchtend und bunt wie in einem Bilderbuch. Rheinhardt lächelte innerlich, aber seine Erinnerungen wurden von Schuldgefühlen und Bedauern überschattet. Die Stellung eines Kriminalinspektors hatte ihm immer mehr von seinem Privatleben geraubt. War er nicht gerade mit einer Ermittlung befasst, dann waren da die Akten - das nicht enden wollende Ausfüllen von Formularen und Verfassen von Berichten. Wann sollte er da noch mit seinen Töchtern in den Zoo gehen?
Vor ihm ragte ein schmiedeeisernes Tor auf. Als er näher kam, konnte er die schmalen goldenen Lettern ausmachen, die sich in einem weiten Bogen über der Einfahrt wölbten: Tiergarten. Unter ihnen stand ein kräftiger Mann in einem langen Wintermantel. Er rauchte. Dann ging er ein paar Schritte, stampfte mit den Füßen, ging weiter. Als er Rheinhardt entdeckte, blieb er stehen und winkte - eine etwas überflüssige Geste, da wirklich nicht damit zu rechnen war, dass Rheinhardt ihn übersehen würde.
»Dem Herrgott sei Dank, dass Sie gekommen sind«, rief der Mann und kam Rheinhardt ein paar Schritte entgegen.
Rheinhardt lächelte und fühlte sich bemüßigt, rascher zu gehen.
»Herr Pfundtner?« Der Mann nickte. »Ich bin Inspektor Rheinhardt.«
Sie gaben sich die Hand.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte der Zoodirektor »Bitte. hier entlang.« Er setzte sich mit eiligen Schritten in Bewegung und begann sofort zu sprechen
»So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer zu so etwas fähig ist. Es ist entsetzlich. Es ist so unsinnig, dass ich noch gar nicht fassen kann, dass es überhaupt passiert ist.« Pfundtner hob fassungslos die Hände und schüttelte den Kopf. »Was soll ich nur tun? Wir werden Hildegard nie ersetzen können. Ein so schönes Exemplar der Gattung Eunectes murinus werden wir nie wieder finden! Sie müssen wissen, dass der Kaiser eine große Schwäche für sie hat. Er wird am Boden zerstört sein.«
Die beiden Männer marschierten am Tigergehege vorbei. Eines der Tiere trottete auf sie zu und presste seine Schnauze gegen die Gitterstäbe.
»Wann ist es passiert?«, fragte Rheinhardt.
»Um sieben Uhr«, antwortete Pfundtner.
»Genau?«
»Ja, dann ist Fütterung.«
»Und ein Wärter war dabei?«
»Ja, Herr Arnoldt. Cornelius Arnoldt. Er wurde bewusstlos geschlagen.«
»Während er das Tier fütterte?«
»Nein, während er in einem angrenzenden Raum das Futter vorbereitete.«
Der Tiger stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. Es klang, als würde Wasser gurgelnd in einen Abfluss gesogen.
»Kennen Sie Herrn Arnoldt?«
»Natürlich. Ich kenne alle meine Wärter sehr gut. Er ist ein ausgezeichneter Mann.«
»Der Eindringling schlug also Herrn Arnoldt nieder und nahm die Schlüssel an sich?«
»Ja.«
»Dann hat er aufgeschlossen und sich in die Grube begeben?«
»Ganz recht«, erwiderte der Direktor.
Der Tiergarten war sternförmig angelegt, die Wege strahlten alle von einem zentralen Gebäude aus. Alle Tierhäuser waren wie das benachbarte Schloss senfgelb gestrichen, was daran erinnerte, dass der Zoo einmal die kaiserliche Menagerie gewesen war. Sie gingen in Richtung des achteckigen Gebäudes in der Mitte. Dieses war elegant mit Vasen und Reliefs geschmückt.
»Um wie viel Uhr öffnen Sie?«, fragte Rheinhardt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt öffnen sollten. Jedenfalls heute noch nicht. Meine Mitarbeiter sind zu . verstört.«
»Es wäre bedauerlich, wenn Sie Ihre Besucher enttäuschen würden.«
»Ganz recht, Herr Inspektor, ganz recht. Wie Sie haben auch wir eine Pflicht zu erfüllen.«
»Und zwar eine bedeutende. Meine Familie und ich haben hier unzählige glückliche Nachmittage in Gesellschaft der Tiere verbracht.« Rheinhardt fuhr fort: »Ich habe zwei kleine Töchter.« Sein Nachsatz blieb in der Luft hängen.
Der Direktor drehte sich zur Seite und sah seinen Gesprächspartner an. Mit einem leichten Lächeln sagte er: »Wir tun unser Bestes, Herr Inspektor.«
»Ganz recht«, erwiderte Rheinhardt und griff frech die Floskel des Direktors auf. Irgendwo in einer entfernten Ecke des Zoos schrie ein unidentifizierbares Tier, wahrscheinlich ein exotischer Vogel. Hinter dem achteckigen Gebäude bogen die beiden Männer nach rechts ab und näherten sich endlich ihrem Ziel.
Sie betraten das Reptilienhaus durch eine Hintertür. Im Inneren war es warm und feucht, ein spürbarer Kontrast zu der eisigen Luft draußen. Ein großer Wärter stand in einem schmalen Gang neben einer offenen Tür.
»Hier entlang, bitte«, sagte Pfundtner. Der Wärter drückte sich mit dem Rücken an die Wand, um den Direktor und Rheinhardt vorbeizulassen. Sie schauten in ein kleines Zimmer, in dem die Anwesenden ein seltsames Bild abgaben. Ein zweiter Wärter saß mit einem Verband um den Kopf auf einem Stuhl. Neben ihm stand ein sachlich dreinschauender Mann in einem dunklen Anzug (augenscheinlich der Arzt, der für den Verband verantwortlich war). Links von ihnen befand sich eine Marmorplatte, auf der mehrere Tierkadaver aufgebahrt waren. Rheinhardt registrierte irgendwelche Bälge - einen davon in einer kreisrunden Blutlache.
»Wie geht es ihm?«, fragte der Direktor und deutete mit dem Kopf zum verletzten Wärter hinüber.
»Viel besser«, erwiderte der Arzt und legte seinem Patienten eine Hand auf die Schulter. »Eine leichte Gehirnerschütterung - aber damit war zu rechnen. Ein paar Tage Bettruhe, und es geht ihm wieder bestens.«
Rheinhardt betrat das Zimmer. »Dürfte ich Herrn Arnoldt wohl ein paar Fragen stellen?«
»Natürlich«, erwiderte der Arzt. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob er Ihnen sonderlich viel sagen kann. Er leidet an einer retrograden Amnesie.«
»Und das heißt?«
»Gedächtnisverlust«, erklärte der Arzt. »Die meisten Menschen verlieren nach einer Kopfverletzung partiell ihr Gedächtnis - in der Regel vergessen sie die Ereignisse, die dem Zeitpunkt vorausgehen, an dem sie das Bewusstsein verloren haben.«
»Und zwar in welchem Umfang?«
»Das ist unterschiedlich, aber Herr Arnoldt kann sich kaum an mehr erinnern, als heute Morgen aufgestanden zu sein und gefrühstückt zu haben.«
»Stimmt das?«, fragte Rheinhardt an den Wärter gewandt.
Herr Arnoldt versuchte aufzustehen.
»Nein, Herr Arnoldt«, sagte der Arzt, legte dem Wärter eine Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft nach unten. »Bitte bleiben Sie sitzen.«
Herr Arnoldt ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und sah zu Rheinhardt hoch.
»Ich kann mich daran erinnern, heute Morgen aufgestanden zu sein . ich habe ein paar Eier und Essiggurken gegessen.«
»Sonst noch etwas?«, fragte Rheinhardt.
»Nein. das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich hier aufgewacht bin . auf dem Fußboden. Und Walter . Walter hat mir geholfen.«
»Walter?«
»Das bin ich«, sagte der Wärter an der Tür. »Walter Gundlach. Ich war auf dem Weg zum Hyänengehege, als mir auffiel, dass die Hintertür offen stand. Normalerweise ist sie abgeschlossen. Ich warf also einen Blick hinein. Herr Arnoldt lag auf dem Boden.«
»Wo?«
»Teils dort, wo Sie stehen, die andere Hälfte von ihm ragte auf den Gang.«
»Auf dem Boden ist kein Blut«, meinte Rheinhardt. »Hat es jemand aufgewischt?«
»Da war kein Blut«, sagte der Arzt. »Es gab auch keine Verletzungen. Es hat den Anschein, als sei Herr Arnoldt mit ziemlicher Kraft auf den Hinterkopf geschlagen worden - aber nicht mit einer Waffe.«
»Womit dann?«
»Mit der geballten Faust . vielleicht auch mit dem Unterarm.« Der Arzt deutete auf den Nacken seines Patienten. »Der Halswirbelbereich ist sehr empfindlich. Er weist eine schlimme Prellung auf.«
»Ihnen ist sonst nichts aufgefallen?«, fragte Rheinhardt an Gundlach gewandt. »Irgendetwas Ungewöhnliches?«
Der Wärter schüttelte den Kopf.
»Nein. ich habe mich erst um Herrn Arnoldt gekümmert und dann den Direktor gerufen.«
Rheinhardt wandte sich wieder an den Arzt.
»Wird der Gedächtnisverlust von Herrn Arnoldt von Dauer sein?«
»Schwer zu sagen. Es gibt Leute, bei denen die Erinnerung wiederkommt - bei anderen ist das nicht der Fall. Wir müssen es abwarten.«
»Wie wäre Ihre Prognose?«, beharrte Rheinhardt.
Der Arzt sah auf Herrn Arnoldt herab, runzelte die Stirn und presste die Lippen zusammen.
»Es besteht die Möglichkeit«, erklärte er.
Wie die meisten Mediziner schien er sich nicht festlegen zu wollen.
Rheinhardt betrachtete die Gesichter, die ihn umgaben: Da waren der Arzt, der Direktor, der unglückliche Herr Arnoldt und sein hagerer Kollege an der Tür. Alle schienen von ihm zu erwarten, dass er etwas Wesentliches beitrug. Rheinhardt war nicht ganz wohl in...
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