Schweitzer Fachinformationen
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Als sich der Nebel aus dem noch von Tau qualmenden Gras hebt, nimmt Turtle die Remington 870 vom Wandhaken, entriegelt sie und zieht den Verschluss zurück, sodass die grüne Schrotpatrone sichtbar wird. Sie klappt die Flinte zu, legt sie über die Schulter und geht die Treppe hinunter und durch die Hintertür. Es beginnt zu regnen. Die Tropfen prasseln von den Kiefern herab und stehen zitternd auf den Nesselblättern und Schwertfarnen. Sie balanciert über die Balken der hinteren Veranda und steigt den von rauhäutigen Gelbbauchmolchen und Schlangensalamandern wimmelnden Hügel voller modernder Baumstämme hinunter. Ihre Fersen durchbrechen die klebrige Kruste aus Myrtenblättern und wühlen die schwarze Erde auf. Vorsichtig steigt sie in Serpentinen zur Quelle des Slaughterhouse Creek hinunter, wo der Frauenfarn schwarze Stängel und Blätter wie grüne Tränen hat, die Kapuzinerkresse mit ihrem frischen, nassen Kressegeruch in wirren Knäueln herabhängt, die Felsen mit Schnörkeln aus Ackerkraut verziert sind.
Die Quelle entspringt in einem bemoosten Winkel des Berghangs, und das Wasser hat ein Bassin in den gewachsenen Fels gegraben, einen zimmergroßen Brunnen mit kaltem, klarem, nach Eisen schmeckendem Wasser, den verwitterte, mit den Jahren federleicht gewordene Stämme wie ein Strohdach bedecken. Turtle setzt sich auf die Stämme, zieht ihre Kleider aus, legt die Schrotflinte darauf und gleitet mit den Füßen voran in das steinerne Becken - denn hier sucht sie ihren ganz eigenen sonderbaren Trost, und hier empfindet sie ihn als den Trost eines kalten Ortes, von etwas Klarem, Kaltem, Lebendigem. Sie hält den Atem an, lässt sich auf den Grund sinken, zieht die Knie zu den Schultern hoch. Ihre Haare schweben wie Seegras um sie herum, und sie öffnet im Wasser die Augen und schaut nach oben und sieht die sich auf der regengesprenkelten Oberfläche abzeichnenden Umrisse sich aalender Molche mit ihren gespreizten Zehen, ihren rotgoldenen, sich ihr ungeschützt entgegenstreckenden Bäuchen, ihren träge wedelnden Schwänzen. Sie sind gekrümmt, verzerrt, trüb, wie es Dinge unter Wasser sind, und die Kälte tut ihr gut, sie bringt sie zu sich selbst zurück. Sie durchbricht die Oberfläche, zieht sich auf die Baumstämme hoch und fühlt die Wärme zurückkehren, während sie den Wald um sich herum betrachtet.
Sie erhebt sich, steigt den Hügel vorsichtig wieder hinauf und läuft, einen Fuß vor den anderen setzend, im stärker werdenden Regen über die Balken der Veranda und dann in die Küche, wo das schwarzschwänzige Wiesel hochschreckt und aufschaut, eine Pfote über einem Teller voller alter Steakknochen erhoben.
Sie legt die Schrotflinte auf den Tresen, geht zum Kühlschrank, öffnet ihn und steht davor, nass, mit glatt auf ihrem Rücken und vereinzelt an ihrem Gesicht klebenden Haaren. Sie knackt Eier an der Arbeitsplatte auf, zerbricht sie über ihrem Mund und wirft die Schalen in den Komposteimer. Sie hört, wie Martin aus seinem Schlafzimmer kommt und den Flur entlanggeht. Er betritt die Küche und schaut an ihr vorbei durch die offene Küchentür in den Regen. Sie sagt nichts. Sie senkt die Hände auf die Arbeitsplatte und lässt sie dort liegen. Auf der Schrotflinte haben sich Wassertropfen gesammelt. Sie hängen an den geriffelten grünen Patronen im Munitionsetui des Gewehrs. »Also, Krümel«, sagt er und schaut an ihr vorbei. »Also, Krümel.«
Sie stellt den Eierkarton weg. Sie nimmt ein Bier heraus, wirft es ihm zu, und er fängt es auf.
»Zeit, dich zum Bus zu bringen?«
»Du musst nicht mitkommen.«
»Weiß ich.«
»Du musst nicht, Daddy.«
»Das weiß ich, Krümel.«
Sie sagt nichts. Sie steht am Tresen.
Im zunehmenden Regen gehen sie zusammen die Straße entlang. Wasser strömt die Einfahrt hinunter, überzieht die Spurrinnen mit Kiefernnadeln. Sie stehen am Ende der Einfahrt. Am bröckelnden Rand des Asphalts nicken Ruchgras und Plattährengras im Platzregen, Zaunwinde rankt sich an den Halmen hinauf. Sie können den Widerhall des Slaughterhouse Creek in dem Wasserdurchlass unter dem Shoreline Highway hören. Auf dem nickelgrauen Ozean befördern kleine schaumgekrönte Wellen Sahne an die schwarzen Brandungspfeiler.
»Schau dir das Miststück an«, sagt Martin, und sie schaut, ohne zu wissen, was er meint - die Bucht, den Ozean, die Brandungspfeiler, es ist nicht klar. Sie hört den alten Bus schalten, als er um die Kurve biegt. »Pass auf dich auf, Krümel«, sagt Martin düster. Der Bus kommt quietschend zum Stehen und stößt mit einem erschöpften Schnaufen und dem Schmatzen von Gummisäumen seine Türen auf. Martin grüßt die Busfahrerin, die Bierdose über dem Herzen haltend, nüchtern im Angesicht ihres Spotts. Turtle steigt die Treppe hinauf und geht durch den geriffelten, von Flächenleuchten im Boden erhellten Gummikanal, dessen Rillen jetzt mit Regenwasser gefüllt sind, die anderen Gesichter mattweiße Flecken, durcheinandergewürfelt in ihren dunkelgrünen PVC - Sitzbänken. Der Bus legt sich in eine Kurve, und Turtle kippt seitwärts und fällt auf ihren freien Sitz.
Immer, wenn der Bus abbremst, fließt das Wasser unter den Sitzen und durch die Gummirillen des Gangs nach vorn, und die Schüler heben angewidert die Füße. Turtle sitzt da und sieht zu, wie das Wasser unter ihr hindurchläuft und einen pinken Fingernagel mit sich führt, der sich am Stück gelöst hat und kieloben auf dem Strom treibt. Rilke sitzt auf der anderen Seite des Gangs, die Knie an die Rücklehne gedrückt, über ihr Buch gebeugt, eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchziehend, bis nur noch ein Fächer aus Haarspitzen übrig ist, ihr roter London-Fog-Mantel noch voller Wassertropfen. Turtle fragt sich, ob Rilke ihn morgens vor der Schule angezogen und gedacht hat: Okay, aber ich muss diesen Mantel gut pflegen. Der Regen ist ungewöhnlich für die Jahreszeit, aber niemand spricht das an. Turtle glaubt, dass sich niemand außer ihrem Daddy Gedanken darüber macht. Sie fragt sich, was Rilke denken würde, könnte sie sehen, wie Turtle nachts unter der nackten Glühbirne in ihrem redwoodgetäfelten Zimmer mit dem auf den Buckhorn Hill hinausgehenden Erkerfenster sitzt, über das zerlegte Gewehr gebeugt, jedes Einzelteil mit Sorgfalt behandelt, und sie fragt sich, wenn Rilke das sehen könnte, würde sie es verstehen? Nein, denkt sie, natürlich nicht. Natürlich würde sie es nicht verstehen. Niemand versteht irgendwen.
Turtle trägt eine alte Levi's-Jeans über einer schwarzen Wollstrumpfhose von Icebreaker, ein feucht an ihrem Bauch klebendes T-Shirt, ein Flanellhemd, eine viel zu große olivgrüne Armeejacke und eine Baseballkappe mit Mesh-Einsatz. Sie denkt: Ich würde alles dafür geben, du sein zu können. Ich würde alles dafür geben. Aber das stimmt nicht, und Turtle weiß, dass es nicht stimmt.
Rilke sagt: »Deine Jacke gefällt mir echt gut.«
Turtle schaut weg.
Rilke sagt rasch: »Nein, ich meine - sie gefällt mir wirklich. Ich habe so was nicht, weißt du? Nichts in der Art - nichts Cooles, Altes.«
»Danke«, sagt Turtle und zieht die Jacke über die Schultern hoch, zieht die Hände in die Ärmel zurück.
»Du hast so einen Armeeladen-Kurt-Cobain-Look.«
Turtle sagt: »Danke.«
Rilke sagt: »Anna macht dich mit diesen Vokabeltests richtig platt, was?«
»Scheiß auf Anna, diese Scheißnutte«, sagt Turtle. Die Jacke liegt übergroß auf ihren Schultern. Ihre regennassen Hände mit den weißen Knöcheln hat sie zwischen die Schenkel geklemmt. Rilke stößt ein überraschtes Lachen aus, schaut nach vorn in den Gang und dann in die andere Richtung, zum Ende des Busses; ihr Hals ist sehr lang, die Haare fallen in glatten, schwarzen, glänzenden Strähnen an ihr herab. Turtle begreift nicht, wie es so glänzend, so glatt sein, wie es diesen Schimmer haben kann, und dann sieht Rilke wieder zu Turtle herüber, mit leuchtenden Augen, eine Hand auf den Mund gelegt.
»O mein Gott«, sagt Rilke, »o mein Gott.«
Turtle sieht sie an.
»O mein Gott«, sagt Rilke noch einmal und beugt sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Das darfst du nicht sagen!«
»Wieso?«, sagt Turtle.
»Anna ist eigentlich echt nett, weißt du«, sagt Rilke, noch immer vorgebeugt.
»Sie ist eine Fotze«, sagt Turtle.
Rilke sagt: »Wollen wir mal was zusammen machen?«
»Nein«, sagt Turtle.
»Okay«, sagt Rilke nach einer Pause. »Danke für das Gespräch«, und sie wendet sich wieder ihrem Buch zu. Turtle schaut woandershin, auf den Sitz vor sich und dann aus dem mit Wasser überzogenen Fenster. Zwei Mädchen stopfen sich eine Glaspfeife. Der Bus zittert und ruckelt. Eher würde ich dich, denkt Turtle, vom Arschloch bis zu deinem kleinen Nuttenhals aufschlitzen, als deine Freundin zu werden. Sie hat ein Kershaw-Zero-Tolerance-Messer, von dem sie den Pocketclip entfernt hat und das sie tief in ihrer Hosentasche trägt. Du Luder, denkt sie, sitzt da mit deinem Nagellack und fährst dir mit den Händen durch die Haare. Sie weiß nicht einmal, warum Rilke das tut. Warum untersucht sie ihre Haarspitzen? Was gibt es da zu sehen? Ich hasse alles an dir, denkt Turtle. Ich hasse es, wie du sprichst. Ich hasse dein nuttiges Stimmchen. Ich höre dich ja kaum mit deinem hohen Quieken. Ich hasse dich, und ich hasse diese glitschige kleine Muschel zwischen deinen Beinen. Turtle sieht Rilke an und denkt: Gottverdammt, sie schaut wirklich ihre Haarspitzen an, als gäbe es da etwas zu sehen.
Als die Glocke zum Essen läutet, geht Turtle mit schmatzenden Stiefeln den Hügel...
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